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MILITÄR/855: Raketenabwehrsystem der NATO vor technischen Hürden (SB)


Raketenabwehrsystem der NATO vor technischen Hürden

Selbst nach Obamas Änderungen funktioniert die große Wunderwaffe nicht



Auf ihrem Gipfeltreffen in Chicago Mitte Mai haben die Staats- und Regierungschefs der NATO viel vor, nämlich die Etablierung der Allianz als globale Interventionsmacht schlechthin. Wie US-Außenministerin Hillary Clinton am 3. April bei einer Rede vor dem World Affairs Council in Norfolk, Virginia, dem Sitz des Hauptquartiers der US-Atlantikflotte, wo auch die einzige NATO-Befehlsstelle auf dem nordamerikanischen Kontinent, das Allied Command Atlantic (ACA), untergebracht ist, erläuterte, stehen bei den Beratungen in Barack Obamas Heimatstadt drei Schwerpunkte auf dem Programm: Erstens die strategische Partnerschaft mit Afghanistan, die vom US-Präsidenten und seinem afghanischen Amtskollegen Hamid Karsai durch die Unterzeichnung eines entsprechenden Abkommens besiegelt werden soll; zweitens die Ausrichtung der Verteidigungsfähigkeit auf die Erfordernisse des 21. Jahrhunderts; drittens "Zementierung und Ausbau" der "globalen Partnerschaften" der NATO. Zu letzterem Vorhaben gehört zum Beispiel die Verstärkung der militärisch-technologischen Zusammenarbeit mit Indien, Japan, Australien und Südkorea zwecks Einkreisung Chinas.

In ihrer Rede vor dem World Affairs Council hob Clinton die Bedeutung des Raketenabwehrsystems hervor. Unter Verweis auf die Beschlüsse des letzten Gipfeltreffens der nordatlantischen Allianz im November 2010 stellte sie fest: "In Lissabon ... haben wir die Stationierung eines Raketenabwehrsystems, das dem europäischen Territorium der NATO, seiner Bevölkerung und seinen Streitkräften flächendeckenden Schutz bieten soll, beschlossen. ... In Chicago werden wir durch die Fortentwicklung unserer Pläne zur Übernahme der Befehlsgewalt und der Kontrolle der Raketenabwehrkomponente durch die NATO jenem Ziel näher kommen." [1]

Man kann davon ausgehen, daß auf dem NATO-Gipfel in Chicago alle Erklärungen zum Thema Raketenabwehr in Europa - angeblich zum Schutz vor dem "Schurkenstaat" Iran - von der gleichen Zuversicht wie in der gerade zitierten Stellungnahme Hillary Clintons gekennzeichnet sein werden. Doch das von den beteiligten Militärs, der US-Rüstungsindustrie und deren Spendenempfänger auf der politischen Bühne verbreitete Vertrauen in die neue Wunderwaffe soll vor einer peinlichen Tatsache ablenken. Das ballistische Raketenabwehrsystem der USA hat ungeachtet aller manipulierten Daten über den vermeintlichen Erfolg der Patriot-Rakete beim Golfkrieg 1991 und Irakkrieg 2003 niemals funktioniert und wird es vermutlich auch niemals. Wegen dieses Umstands und weniger, um die skeptischen NATO-Europäer und die Führung der Russischen Föderation zu besänftigen, hat der Demokrat Barack Obama 2009 nach der Machtübernahme vom Republikaner George W. Bush dessen überambitionierten Pläne für ein Raketenabwehrsystem für Europa stark zurückgeschraubt.

Doch selbst die Obama-Version, die man vielleicht BMD Light (BMD steht für Ballistic Missile Defense) bezeichnen könnte, scheint wegen unüberwindbarer technischer Hürden zum Scheitern verurteilt zu sein. Dies geht aus zwei Studien hervor, über deren entlarvende Ergebnisse die Nachrichtenagentur Associated Press am 21. April unter der Überschrift "Reports cast doubt on European missile defense" berichtete. Die erste Studie stammt vom Defense Science Board (DSB), einem Beratergremium des Pentagons, und war Ende letzten Jahres erschienen, ohne daß zuviel Notiz davon genommen wurde. Die zweite hatte das Government Accountability Office (GAO) des US-Kongresses, vergleichbar dem deutschen Bundesrechnungshof, am 20. April veröffentlicht.

Bekanntlich hatten Bush jun. und sein Verteidigungsminister Donald Rumsfeld in Fort Greely in Alaska sowie auf dem US-Luftwaffenstützpunkt Vandenberg mit einem speziellen "Kill Vehicle" ausgerüstete Langstreckenraketen in Silos stationieren lassen, die im Ernstfall hoch über dem Pazifik nordkoreanische oder chinesische Interkontinentalraketen vom Himmel holen sollten. Ein ähnliches System wollten die Bush-Gefolgsleute in Europa errichten, mit Raketen plus Silos in Polen sowie X-Band-Radaranlagen in Tschechien und der Türkei. In den Plänen der Obama-Administration ist lediglich die Radarstation in der Türkei nahe der Grenze zum Iran übernommen worden. Als Abfangplattformen dienen vorerst US-Lenkwaffenzerstörer, die mit dem elektronischen Frühwarnsystem Aegis ausgerüstet sind und im östlichen Mittelmeer bzw. im Schwarzen Meer herumschippern. Mittel- bis langfristig sind X-Band-Radarstationen und Raketensilos in Polen, Bulgarien und Rumänien vorgesehen.

Sinnvollerweise wollte Obama mit einem System beginnen, das auch funktionierte. Tatsächlich sollen Aegis-Lenkwaffenzerstörer recht gut in der Lage sein, mittels eigener Raketen sich selbst oder Schiffsflotten, die sie begleiten, vor feindlichen ballistischen Raketen oder Marschflugkörpern zu schützen. Der Aufgabe jedoch, größere geographische Festlandsareale wie ein Land oder gar einen ganzen Kontinent vor Angriffen mit Mittel- bis Langstreckenraketen zu verteidigen, scheinen sie noch nicht gewachsen zu sein. Im DSB-Bericht heißt es, die Radaranlagen der Aegis-Lenkwaffenzerstörer seien zu schwach und verfügten somit nicht über die notwendige Reichweite. Das gleiche gilt laut GAO für die in Rumänien geplante X-Band-Radaranlage, es sei denn, man nehme in Kauf, daß die Station dort sämtliche Mobil- und Rundfunkübermittlungen störe.

In beiden Berichten werden zudem schwierige bis unüberwindbare Schwierigkeiten bei den Abfangraketen moniert. Die Autoren des GAO-Berichts kritisieren das Testverfahren für diese Geräte als völlig mangelhaft und warnen vor der Stationierung funktionsuntüchtiger Raketen. In der DSB-Studie geht man sogar noch weiter und weist - wie andere Kritiker in der Vergangenheit auch - darauf hin, daß die Sensoren des Kill-Vehicles zwischen einem echten Sprengkopf und in der oberen Atmosphäre durch die Mutterrakete freigesetzten Attrappen zum Beispiel aus Alufolie nicht unterscheiden können kann und dies womöglich niemals tun werden. Deshalb warnen die Verfasser der DSB-Studie nicht zufällig vor einem "dramatischen und niederschmetternden" Ergebnis, sollten die Abfangraketen des Raketenabwehrsystems am Ende nur Attrappen oder Weltraumschrott abschießen.

Seit Jahren warnen Theodore Postol vom renommierten Massachusetts Institute of Technology (MIT), der früher selbst an der Entwicklung des funktionierenden seegestützten Raketenabwehrsystems der US-Marine beteiligt war, mit eigenen Studien und Gastbeiträgen in Zeitungen wie der New York Times vor diesem Problem. Bisher haben sich die Verantwortlichen bei der Missile Defense Agency (MDA) des Pentagons, die beteiligten Waffenfabrikanten wie Lockheed Martin, Raytheon und Boeing und ihre Auftraggeber im Weißen Haus und Kongreß vor diesem Problem verschlossen - vermutlich weil zuviel Geld und zu viele Arbeitsplätze im Technologiesektor der USA auf dem Spiel stehen. Folglich ist bis auf weiteres mit keinem Ende des Potemkinschen Dorfs namens Raketenabwehrsystem zu rechnen.

Fußnote:

1.‍ ‍Rick Rozoff, "Chicago Summit to Consolidate 'Global NATO': Hillary Clinton Promotes 22nd Century NATO Ahead Of Summit", Global Research (www.globalresearch.ca), 14. April 2012

23.‍ ‍April 2012