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NAHOST/946: Israelische Soldaten brechen das Schweigen um den Gazakrieg (SB)


Organisation von Reservisten legt Zeugenprotokolle vor


"Breaking the Silence" - eine Organisation israelischer Reservisten - hat das Schweigen gebrochen und ist gestern mit ihrer 112 Seiten langen Dokumentation von 54 Zeugenprotokollen an die Öffentlichkeit gegangen, die auf den Aussagen von dreißig Soldaten und Offizieren basieren, welche im 22 Tage währenden Gazakrieg Anfang des Jahres im Einsatz waren. Die Erfahrungen wurden aus Sicherheitsgründen anonym zu Protokoll gegeben, wobei nur solche Vorfälle bekanntgemacht werden, für die mehr als eine Zeugenaussage vorliegt. Wie aus den Berichten hervorgeht, ist es während des dreiwöchigen Kriegs im Winter kaum zu direkten Feuergefechten zwischen israelischen Soldaten und palästinensischen Milizionären gekommen. Die Opferzahlen dokumentieren, daß die Armee im wesentlichen einen Krieg gegen die Zivilbevölkerung geführt hat: Während bei dem Einsatz, der am 18. Januar 2009 endete, 1.400 Palästinenser getötet und Tausende verletzt wurden, verloren die Aggressoren nur zehn Soldaten, von denen überdies mehrere durch Feuer aus den eigenen Reihen starben. Nach Angaben der UNO wurden mehr als 50.000 Wohneinheiten, 800 Industrieanlagen, 200 Schulen, fast 40 Moscheen sowie zwei Kirchen zerstört.

Für den Reservisten Yehuda Shaul von "Breaking the Silence" zeugen die Berichte von einer neuen Strategie der israelischen Armee im Gazakrieg. Bei der "Operation Gegossenes Blei" sei ein Strategiewechsel vorgenommen und erstmals die Taktik und Methodik des Krieges auf einen palästinensischen Ort angewendet worden. Die Soldaten hätten mit der Maßgabe angegriffen, alles dafür zu tun, die Verluste auf der eigenen Seite so gering wie möglich zu halten. Israelische Einsatzkräfte durften nicht gefährdet werden, auch wenn dies bedeutete, palästinensische Zivilisten in Gefahr zu bringen oder zu töten. Dies hatte zur Folge, daß im Gazastreifen so viele Menschen getötet und ungeheure Zerstörungen angerichtet wurden. [1]

Berichten der Soldaten zufolge wurden sie in Manövern auf diese Strategie vorbereitet. Ein Feldwebel der Panzertruppen gab die Äußerungen von Vorgesetzten zu Fragen der Ethik und Unschuld folgendermaßen wieder: Man befinde sich im Krieg und dürfe nicht zögern, alles zu zerstören, was man als Bedrohung definiere. Die Grundeinstellung sei, das Feuer zu eröffnen und nicht über die Folgen nachzudenken. Jedes Hindernis und jedes Problem werde durch das Eröffnen des Feuers gelöst, ohne daß Fragen zurückbleiben dürften, selbst wenn es sich um einen Beschuß von etwas handelt, das man nicht kenne oder sehe. Einer der Soldaten zitiert seinen Kommandeur: "Keinem meiner Soldaten soll ein Haar gekrümmt werden, und ich bin nicht bereit, es einem Soldaten zu erlauben, sich selbst durch Zögern zu gefährden. Wenn du nicht sicher bist - schieße!"

Hinter der exzessiven Gewalt stand offensichtlich ein Konzept auf Kommandoebene, die Truppen von Beginn auf möglichst aggressives Vorgehen einzustimmen. Ein Reservist beschreibt es so: "Ziel war, die Operation mit möglichst geringen Verlusten für die Armee auszuführen, ohne uns zu fragen, was der Preis dabei für die andere Seite sei." Ein Bataillonsführer wird mit den Worten zitiert: "Mein bester Arabischübersetzer ist mein Granatwerfer." [2]

Man setzte Bomben mit weißem Phosphor in dicht bevölkerten Gebieten ein, wozu per Armeesender ausdrücklich die Genehmigung erteilt wurde. Schätzten die Truppen das Risiko als zu groß ein, in ein möglicherweise vermintes Haus einzudringen, wurde von oben Phosphor abgeschossen. Dieser bildete einen Feuerschirm über dem Ziel und entzündete das ganze Haus samt allen darin befindlichen Menschen, die schreckliche Verbrennungen davontrugen. Auch mußten Palästinenser als menschliche Schutzschilde herhalten und vor den Soldaten Häuser betreten, um eventuelle Sprengfallen auszulösen oder das Feuer der Verteidiger auf sich zu ziehen. Mitunter sei ihnen eine Waffe direkt auf die Schulter gelegt worden: "Die Kommandeure sagten, das seien die Befehle, und wir mußten sie ausführen", berichtete ein Soldat. Ein anderer ehemaliger Soldat sagte der Organisation zufolge, es habe kaum klare Anweisungen gegeben, wann geschossen werden durfte: "Es gab keine wirklichen Grenzen." [3]

Auch wurde von gezielten Erschießungen wie der eines alten Mannes berichtet, der mit einer Fackel durch die Nacht irrte und sich Häusern näherte, in denen sich eine israelische Einheit verschanzt hatte. Da der Kommandant vor Ort Warnschüsse nicht genehmigt hatte, ließ man den offensichtlich unbewaffneten Mann herankommen und erschoß ihn ohne jede Vorwarnung. "Wir hatten eine Menge Alarm wegen der Gefahr von Selbstmordattentaten. Also mußten wir den Kerl niederknallen", berichtete ein Soldat. Den Schrei, als der greise Palästinenser tödlich getroffen niedersank, werde er sein Leben lang nicht vergessen.

Bei der Einnahme von Häusern kam es häufig zu Vandalismus: "Man bricht schießend durch die Tür. Die Soldaten schauen sich nach Fernsehern oder Computern zum Zertrümmern um, suchen Schubladen nach Interessantem durch." Ein anderer Infanterist erinnert sich: "Während unseres Aufenthalts dort, von dem wir nicht wußten, wie lange er dauern wird, mußten wir die Umgebung so gut wie möglich inspizieren. Inspektion ist ein beschönigendes Wort für systematische, zielgerichtete Zerstörung."

Während der Widerstand der Palästinenser als überraschend gering und mangels schwerer Waffen weitgehend wirkungslos erlebt wurde, nahm die willkürliche Zerstörung unerhörte Ausmaße an. Im Panzer mit seiner enormen Reichweite fühle man den Feind nicht wirklich, erklärte ein Soldat. Oft habe Langeweile geherrscht, worauf man begonnen habe, auf Häuser zu feuern und insbesondere Wassertanks ins Visier nehmen. Anschließend machten Bulldozer das Gelände in derart großem Stil platt, daß man selbst die eingezeichneten Koordinaten auf den Einsatzkarten nicht mehr finden konnte.

Nach internationalen Rechtsstandards sind die Konfliktparteien verpflichtet, zwischen Kämpfern und Zivilisten zu unterscheiden sowie letztere zu schonen. Daraus leitet sich alles Weitere ab, wie etwa das Verbot zu plündern oder ohne militärischen Zweck Eigentum zu zerstören. Wer diese Prinzipien mißachtet, öffnet Kriegsverbrechen Tür und Tor, wie sie den Aussagen der Soldaten zufolge im Gazastreifen verübt wurden.

Für die israelische Bevölkerung ist der Gazakrieg nach Einschätzung von "Breaking the Silence" gleichsam "ein schwarzes Loch", von dem man nichts weiß oder nichts wissen will. Während ausländische Medien damals sehr viel mehr und schonungsloser berichteten, herrschte in Israel Militärzensur, was viele Menschen daran hinderte, sich nach Ende des Krieges selbst ein Bild zu machen.

Die Reservistenorganisation wurde 2004 gegründet und hat seither Berichte von 670 ehemaligen Soldaten im Westjordanland und im Gazastreifen gesammelt. Wie einer der Gründer, Jehuda Saul, hervorhob, sei es wichtig, daß die israelische Gesellschaft wisse, was während der Gazaoffensive geschehen ist. Mit dem Bericht solle die Bevölkerung informiert werden, um eine Diskussion darüber in Gang zu bringen, wofür das israelische Volk steht.

Als sechs Wochen nach Kriegsende im Februar publik wurde, was Soldaten der Militärakademie Izchak Rabin an brutalem Vorgehen im Gazastreifen geschildert hatten, kam die Armee in einem internen Untersuchungsbericht zu dem Schluß, sie habe sich nichts vorzuwerfen. Wenngleich es eine "sehr kleine Anzahl" unerfreulicher Vorfälle gegeben habe, hätten die Streitkräfte insgesamt gesehen doch "im Einklang mit internationalem Recht" operiert.

Auch nach der gestern vorgestellten Dokumentation mauerte die israelische Armee mit der aberwitzigen Erklärung, sie bedauere, "daß eine weitere Menschenrechtsorganisation Israel und der Welt einen Bericht vorlegt, der auf anonymen und allgemeinen Zeugenaussagen basiert, ohne ihren Hintergrund zu prüfen". Es handle sich dabei um "Diffamierung und Verleumdung der israelischen Armee und ihrer Kommandeure". Sofern es Unregelmäßigkeiten gegeben habe, sollten die Soldaten diese auf dem offiziellen Weg anzeigen.

Verteidigungsminister Ehud Barak wiederholte gestern die absurde Propaganda, die israelischen Streitkräfte gehörten zu den "moralischsten der Welt" und handelten nach den höchsten ethischen Standards. "Das ist nicht die Armee, die ich kenne", resümiert hingegen Yehuda Shaul, der die "Operation Gegossenes Blei" für einen Sündenfall hält. Eine Armee, die sich bisher ihrer ethischen Verantwortung bewußt war, habe diese im Gazakrieg gänzlich aufgegeben. Der Reservist Michael Manekin erklärte, daß die unmoralische Art und Weise der Kriegsführung beweise, daß das System schuld sei und nicht der individuelle Soldat selbst. Der Bericht sei "ein dringender Aufruf an die israelische Gesellschaft und Führung, einen unverschleierten Blick auf die Dummheit unserer Politik zu werfen".

Von einem Sündenfall der israelischen Streitkräfte zu sprechen, die ihren traditionellen Prinzipien untreu geworden seien, bestätigt indessen die Doktrin, es handle sich vom Grundsatz her um eine Verteidigungsarmee mit höchsten moralischen und ethischen Standards. Dies ist erstens von der Sache her abwegig und zweitens historisch widerlegt. Ebenso wenig kann man das Argument gelten lassen, den Soldaten treffe keine individuelle Schuld. Wer zwangsweise oder freiwillig Soldat wird, ist bereit zu töten, was ebenso für die Armee und die ihr zugrunde liegende Staatsräson gilt. Es hieße die zahllosen Grausamkeiten leugnen, die Palästinenser jeden Alters seit Jahrzehnten durch israelische Soldaten erleiden, wollte man von einem Ende der ethischen Verantwortung im Gazakrieg sprechen.

Vielmehr sollte man die Kampagne, das Schweigen zu brechen, zum Anlaß nehmen, den Gazakrieg als konsequente Fortsetzung einer grundlegenden Strategie zur Unterwerfung der Palästinenser zu analysieren, die nun auf einem höheren Niveau der Vernichtungsgewalt exerziert wird. Auf die Frage, was in seiner Erinnerung an Gaza bleibe, erwiderte ein Soldat: "Wie Leute fähig sind, andere sterben oder leiden zu sehen. Wie furchtbar leicht es ist, gleichgültig zu werden." Hat die israelische Armee und mit ihr die israelische Gesellschaft endgültig aufgehört, die zusammengepferchten und isolierten Bewohner des Gazastreifens als Menschen wahrzunehmen?

Anmerkungen:

[1] http://www.tagesschau.de/ausland/gazakrieg116.html

[2] http://www.ksta.de/html/artikel/1246883660357.shtml

[3] http://www.dw-world.de/dw/article/0,,4487830,00.html

16. Juli 2009