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NAHOST/1023: "Neues Morgenrot" - Nur nicht für die Iraker (SB)


USA proklamieren Übergang vom Kampf- zum Stabilisierungseinsatz


Den Angriffskrieg nicht als solchen zu bezeichnen, sondern das umfassende Regime aus Sanktionen, militärischer Intervention und Besatzung mit positiv konnotierten Phantasienamen zu verschleiern, ist eine langerprobte Kunst, die im Zuge des sogenannten Antiterrorkriegs auf ihre propagandistische Spitze getrieben wurde. Peinliche Fehlleistungen der Verbalakrobaten sind freilich nicht ausgeschlossen, erwies sich doch das Konstrukt "Operation Iraqi Liberation" angesichts seiner Abkürzung OIL als verräterischer Mißgriff, der kursierende Mutmaßungen über die eigentlichen Kriegsziele auf frappante Weise zu bestätigen schien. Wenngleich die Auffassung, man habe es im Kern mit einem "Krieg ums Öl" zu tun, den strategischen Entwurf unzulässig auf einen einzigen Aspekt verkürzt, führte diese unerwünschte Assoziation doch zu einer Umbenennung der Kampagne in die unverfänglichere, aber nicht minder fiktive Bezeichnung "Operation Iraqi Freedom". Und obgleich die Freiheit der drangsalierten Iraker in ihrer Gesamtheit nie geringer gewesen sein dürfte, als unter der Okkupation durch die westlichen Mächte, erklärt man diese Etappe nun für erfolgreich abgeschlossen und leitet die Phase "Operation New Dawn" ein.

Die neue Morgenröte im proklamierten Übergang vom Kampfeinsatz zum Stabilisierungseinsatz leuchtet auf diesem Schlachtfeld allenfalls den Vereinigten Staaten, die sich auch nach dem Abzug ihrer Kampftruppen, die an anderen Kriegsschauplätzen dringend benötigt werden, langfristig im Irak engagieren wollen. "Daß wir unsere Truppen abziehen, bedeutet nicht, daß wir uns vom Irak lösen. Das Gegenteil ist wahr", unterstrich Vizepräsident Joe Biden in einer Rede vor Veteranen der US-Streitkräfte in Indianapolis. Nach 2011, wenn auch die restlichen 50.000 US-Soldaten das Land angeblich verlassen haben werden, soll nach seinen Worten eine "Armee von US-Bürgern" im Irak zurückbleiben, die das Land beim Übergang in eine funktionierende Demokratie unterstütze. "Wir befinden uns in einer langfristigen Beziehung", so der Vizepräsident. [1]

"Wir haben unser Ziel erreicht", behauptete der US-Oberbefehlshaber im Irak, General Ray Odierno. "Aber dabei geht es nicht um die Zahl 50.000. Wichtig ist, daß wir uns weiter im Irak engagieren. Aber die Natur unseres Einsatzes wird sich ändern." In Zukunft werde das Augenmerk auf der ökonomischen, politischen, kulturellen und technologischen Entwicklung liegen statt auf der militärischen Zusammenarbeit, sagte Odierno. [2]

Die irakische Armee besteht derzeit aus knapp 200.000 Soldaten, was freilich nicht allzu viel über ihre Einsatzbereitschaft im Kontext einer extremen Gefahrenlage aussagt, wie sie nach wie vor den irakischen Alltag beherrscht. Da die einheimischen Sicherheitskräfte schon seit geraumer Zeit größtenteils auf sich allein gestellt sind und ihr Aufgaben ohne US-Unterstützung bewältigen, haben zahlreiche Anschläge in den letzten Tagen und Wochen massive Zweifel daran geschürt, ob sie dazu in der Lage sind. Klartext redet da schon eher der irakische Generalstabschef Babaker Shawkat Zebari, nach dessen jüngst zum Ausdruck gebrachter Auffassung das Land noch weit davon entfernt ist, ohne Unterstützung der US-Streitkräfte die innere Sicherheit gewährleisten zu können. Um eine weitere Eskalation der Gewalt zu verhindern, müsse der bis Ende kommenden Jahres geplante vollständige Rückzug der US-Soldaten verschoben werden. [3]

Das ist Musik in den Ohren der US-Strategen, deren mit der irakischen Führung geschlossenes Abzugsabkommen grundsätzlich eine künftige militärische Unterstützung vorsieht, sollte diese von Bagdad gewünscht und angefordert werden. Einer über das ohnehin vorhandene Maß der Kollaboration hinausgehenden Intrige bedarf es dazu nicht, haben die westlichen Verbündeten mit ihrer Zerstörung und Zerstückelung des Staatswesens doch eine Situation verfeindeter Fraktionen geschaffen, die auf Jahre hinaus jedem Wunsch nach Frieden und Sicherheit Hohn spricht.

Wenngleich der Abzug der US-Kampfbrigaden von vielen Irakern als langersehnter Anfang vom erhofften Ende des Besatzungsregimes empfunden werden dürfte, sind doch die irakischen Sicherheitskräfte nicht in der Lage, die Situation allgegenwärtiger Bedrohung zu entschärfen. Zu Spitzenzeiten waren 176.000 US-Soldaten im Irak stationiert, die zahlreichen Akteure privater Dienstleister nicht mitgerechnet, die auch künftig ihr Unwesen treiben werden. Zum 31. August beenden die USA offiziell ihren vor siebeneinhalb Jahren begonnenen Kampfeinsatz, wobei sie die zu diesem Termin anvisierte Marke von 50.000 im Irak verbleibenden Soldaten ebenso demonstrativ wie geringfügig unterschritten haben. Das Restkontingent soll die einheimischen Sicherheitskräfte weiter beraten und ausbilden sowie bei Aktionen zur "Terrorabwehr" unterstützen, worauf Ende 2011 alle US-Soldaten das Land verlassen haben sollen. [4]

Er sei absolut zuversichtlich, daß der Irak eine erfolgreiche, von der ganzen Nation akzeptierte Regierung bilden werde, verkündete Vizepräsident Joe Biden in seiner bereits erwähnten Rede vor den Veteranen. Was optimistisch klingen sollte, trug dem fatalen Umstand Rechnung, daß es seit den irakischen Parlamentswahlen im März keinem der zutiefst zerstrittenen Kandidaten gelungen ist, eine Koalition zu schmieden, weshalb das Land noch immer keine neue Regierung hat.

Allen anderslautenden Gerüchten aus dem Munde westlicher Politiker, Militärs und Journalisten zum Trotz ist die Lage im Irak katastrophal. Nur einen Tag, nachdem die US-Armee die Reduzierung ihrer im Land stationierten Truppen auf weniger als 50.000 Soldaten bekanntgegeben hatte, sind bei Anschlägen mit Autobomben in vier irakischen Städten am Mittwoch mindestens 24 Menschen ums Leben gekommen. Vor allem Polizei und Armee sind immer wieder Ziel derartiger Angriffe, wobei jedoch häufig auch Zivilisten zu den Opfern gehören. Die Provinz von Bagdad zählt dabei zu den gefährlichsten des Landes.

Augenzeugenberichten zufolge explodierte eine Autobombe in der Nähe einer Polizeistation in Bagdads Al-Kahira-Viertel. Dort starben nach Informationen des Fernsehsenders Al-Arabiya 15 Menschen, während etwa 40 Menschen verletzt wurden. Bei den meisten Opfern handelt es sich demnach um Polizisten. Mehrere Gebäude seien schwer beschädigt worden. Ein ähnlicher Anschlag neben einer Polizeiwache in der zentralirakischen Schiiten-Stadt Kerbela kostete fünf Menschen das Leben, wie Krankenhausärzte mitteilten. Hier wurden 25 Verletzte gezählt. In der südlichen Hafenstadt Basra starben nach ersten Informationen drei Menschen durch eine Autobombe, und in der Stadt Kirkuk im Norden detonierte ebenfalls eine Autobombe, wobei ein Zivilist getötet wurde.

Unterdessen berichtete der Fernsehsender Al-Sumerija, daß am Montag eine bewaffnete Bande sieben Beamte erschossen habe, die auf dem Weg zur Raffinerie in der nordirakischen Stadt Baiji gewesen waren. Die Angreifer erbeuteten die Monatsgehälter der gesamten Belegschaft der Raffinerie in Höhe von umgerechnet rund 514.500 Euro. Am 17. August waren bei Anschlägen in Bagdad und der Provinz Diyala zwei Richter getötet und sechs andere verletzt worden. Zu diesen Attentaten hat sich nun eine Al-Kaida-Gruppierung namens "Islamischer Staat des Irak" bekannt, die sich laut ihrer Internetbotschaft für Todesurteile gegen sunnitische Gefangene rächen wollte.

Diese Opferbilanz binnen weniger Tage zeugt von einem anhaltenden Kriegszustand, den eine anderslautende Erklärung der US-Regierung natürlich nicht aus der Welt schafft. Von Beginn der Intervention bis zum 18. August 2010 sind im Irak 4.415 US-amerikanische, 179 britische and 139 andere Koalitionssoldaten getötet worden (iCasualties.org). So gravierend dieser Blutzoll aus Sicht der Besatzungsmächte auch anmuten mag, wird er doch von den irakischen Opfern weit in den Schatten gestellt. So starben zwischen Juni 2003 und 29. Juni 2010 insgesamt 9.537 einheimische Soldaten (Brookings Institution Iraq Index) und zwischen 97.000 und 106.000 Zivilisten in diesem Krieg (IraqBodyCount.org). [5]

Insbesondere die genannte Zahl ziviler Opfer dürfte viel zu niedrig angesiedelt sein, da anderen Schätzungen zufolge im Verlauf des Kriegszugs mehr als eine Million Iraker getötet sowie weitere zwei Millionen ins Exil getrieben wurden. Zehntausende wurden festgenommen und gefoltert, die Opposition erfuhr massivste Repression, ein Polizeistaat wurde ausgebaut. Nach einer Studie der Weltbank aus dem Jahr 2007 standen 23 Prozent der Iraker weniger als 2,20 US-Dollar am Tag zur Verfügung, so daß sie in bitterer Armut leben. Im vergangenen Jahr hatten nur 20 Prozent der Bevölkerung Zugang zum Abwassersystem, 45 Prozent zu sauberem Wasser, 50 Prozent zu mehr als zwölf Stunden Strom pro Tag sowie 50 Prozent zu angemessenem Wohnraum und 30 Prozent Zugang zum Gesundheitswesen. Nach Angaben des Congressional Research Service werden die Vereinigten Staaten bis Ende des Haushaltsjahrs 2010 die astronomische Summe von 751 Milliarden Dollar für den aktuellen Irakkrieg aufgewendet haben. Man stelle sich vor, diese das Vorstellungsvermögen sprengenden Finanzmittel wären den Irakern zugute gekommen!

Anmerkungen:

[1] Erstmals seit 2003 weniger als 50.000 US-Soldaten. "Operation Neue Morgendämmerung" soll nach vollständigem Abzug Stabilität gewährleisten (24.08.10)
http://derstandard.at/1282273482924/Erstmals-seit-2003-weniger-als-50000-US-Soldaten

[2] Abzug der US-Kampftruppen aus dem Irak (24.08.10)
http://www.focus.de/politik/weitere-meldungen/usa-abzug-der-us-kampftruppen-aus-dem-irak_aid_544743.html

[3] Mindestens 24 Tote bei Autobomben-Anschlägen (25.08.10)
http://derstandard.at/1282273528431/Mindestens-24-Tote-bei-Autobomben-Anschlaegen

[4] Extremisten machen mobil. Anschlagsserie im Irak (25.08.10)
http://www.n-tv.de/politik/Anschlagsserie-im-Irak-article1343831.html

[5] Iraq war by the numbers, as last US combat brigade leaves (19.08.10)
www.csmonitor.com

25. August 2010