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NAHOST/1249: Bürgerkrieg in Syrien greift auf den Irak über (SB)


Bürgerkrieg in Syrien greift auf den Irak über

Der sunnitisch-schiitische Konflikt im Zweistromland flammt wieder auf



Als im Herbst 2002 die Pläne der USA und Großbritanniens, in den Irak unter dem Vorwand der Suche nach Massenvernichtungswaffen einzufallen, um das "Regime" Saddam Husseins zu stürzen, offenkundig wurden, riet der damalige Generalsekretär der Arabischen Liga, Amr Moussa, dringend von dem umstrittenen Vorhaben ab. Wörtlich prognostizierte der langjährige Außenminister Ägyptens, der angloamerikanische Einmarsch in den Irak würde, bezogen auf die Region Nahost, "das Tor zur Hölle aufstoßen". Die Warnung Amr Moussas stieß in den USA und Großbritannien jedoch auf taube Ohren. Zu sehr waren die Regierungen in London und Washington von ihrem Auftrag, "die Welt neuzuordnen" (O-Ton Tony Blair), überzeugt, während Donald Rumsfelds Pentagon auf die Gelegenheit, mit "Shock and Awe" über Bagdad allen potentiellen militärischen Konkurrenten einen gehörigen Schrecken einzujagen, nicht verzichten wollte.

Zehn Jahre nach dem Blitzsieg der US-Streitkräfte und der Königlichen Armee Großbritanniens im Irak haben sich die Kassandrarufe Amr Moussas bis auf die letzte Silbe bewahrheitet. Nach einem jahrelangen Aufstand und einem anschließenden Bürgerkrieg zwischen Sunniten und Schiiten, was zusammen rund 5000 US-Soldaten und bis zu einer Million Irakern das Leben kostete, haben Ende 2011 die letzten amerikanischen Kampftruppen aus dem Zweistromland abziehen müssen. Aus Verärgerung darüber, daß der Iran durch die Machtübernahme der schiitischen Mehrheit im Irak dort größeren Einfluß als jemals zuvor erhalten hatte, haben sich die USA und das sunnitische Saudi-Arabien entschieden, Syrien zu destabilisieren. Dort versuchen nun seit zwei Jahren Zehntausende ausländischer Dschihadisten, die von der CIA, Riad, Doha und Ankara mit Waffen und Geld ausgestattet werden, die säkulare Regierung um den alewitischen Baathisten Baschar Al Assad zu stürzen. An den Kämpfen in Syrien nehmen inzwischen auf Regierungsseite schiitische Kämpfer von der libanesischen Hisb Allah und aus dem Irak teil.

Tragischerweise hat sich die sunnitisch-schiitische Fehde in Syrien längst in den Irak zurückexportieren lassen. Die Verschmelzung der Konflikte in beiden Ländern könnte man vielleicht auf den 4. März 2013 datieren. An diesem Tag haben Milizionäre der sunnitischen Al Kaida im Zweistromland einen Fahrzeugkonvoi syrischer Soldaten, die am Tag davor vor schweren Kämpfen an der Grenze Zuflucht im Nachbarland gefunden hatten und zum Teil verletzt auf dem Weg nach Hause waren, überfallen und 48 Assad-Getreue umgebracht. Im April sind im Irak bei Bombenanschlägen und Überfällen mehr als 460 Menschen ums Leben gekommen - nach Angaben der Vereinten Nationen der höchste monatliche Blutzoll seit fünf Jahren. Im Mai hat sich die Gewaltspirale weiter zugespitzt. Man rechnet bis Ende des Monates mit rund 700 Todesfällen infolge politischer Gewalt. Allein am gestrigen 27. Mai rissen mehrere Autobomben, die in schiitischen Vierteln Bagdads fast zeitgleich hochgingen, 66 Menschen in den Tod. Insgesamt fielen an diesem Tag im ganzen Land nach Zählung von Margaret Griffis bei antiwar.com 81 Menschen Bombenanschlägen und Attentaten zum Opfer, während weitere 246 verletzt wurden.

Möglicherweise waren die jüngsten Bombenanschläge auf schiitische Ziele die Reaktion auf eine "antiterroristische" Großoffensive, die Premierminister Nuri Al Maliki, der auch das Amt des Verteidigungsministers bekleidet, wenige Tagen zuvor in den mehrheitlich von Sunniten bewohnten Provinzen Anbar und Nineveh angeordnet hatte, um die 600 Kilometer lange irakische Grenze zu Syrien besser abzusichern und den Transport von Waffen und Kämpfern in das westliche Nachbarland zu unterbinden. Man kann davon ausgehen, daß die mit 20.000 Soldaten groß angelegte Operation zur Bekämpfung von Al Kaida und anderen illegalen sunnitischen Milizen Thema der Gespräche zwischen Maliki und dem syrischen Außenminister Walid Muallem war, der am 26. Mai einen unangemeldeten Besuch in Bagdad machte. Man kann ferner davon ausgehen, daß die schiitische Mahdi-Armee des angeblichen "Radikal-Predigers" Muktada Al Sadr, besagte Bombenangriffe nicht einfach auf sich sitzen lassen, sondern ihrerseits zu drastischen Maßnahmen gegen die sunnitischen Milizen und ihre Anhänger im Irak greifen wird.

Ihrerseits verlangen Iraks Sunniten, die sich seit Jahren von der Maliki-Regierung diskriminiert und benachteiligt fühlen, größere Unabhängigkeit für die von ihnen mehrheitlich bewohnten Provinzen im Zentrum des Landes. Ähnlich den Kurden im Norden streben auch sie die Schaffung eines autonomen sunnitischen Gebiets innerhalb des Iraks an. Doch ihre Entfremdung der schiitisch dominierten Zentralregierung gegenüber ist inzwischen so groß, daß sie ihre Landesteile für unabhängig erklären bzw. sich dem sunnitischen Rumpfstaat, der in den letzten Monaten im dünnbesiedelten, von den Rebellen kontrollierten Osten Syriens de facto entstanden ist, anschließen könnten.

Nicht zufällig haben in den letzten Tagen zwei historisch bewanderte Beobachter der Vorgänge im Nahen Osten, nämlich Patrick Cockburn, der Nahost-Korrespondent der liberalen britischen Tageszeitung Independent, in einem Artikel für die London Review of Books, und der konservative Medienkommentator Patrick Buchanan, der einst für Präsident Richard Nixon als Redenschreiber gearbeitet hat, in einem Artikel für das Creators Syndicate, den Zusammenbruch von Sykes-Picot diagnostiziert. In der Tat verlieren dieser Tage die willkürlichen Grenzziehungen, mit denen nach dem Ersten Weltkrieg die Kolonialmächte Frankreich und Großbritannien auf der Landkarte ihre Interessenssphären in der Region untereinander aufteilten, ihre Gültigkeit. Ethnische und religiöse Trennungslinien treten immer mehr zum Vorschein - siehe die Entwicklung in den kurdischen Teilen des Iraks, Syriens und der Türkei. Sollten die Beteiligten an den Friedensverhandlungen, die unter der Schirmherrschaft von Rußland und den USA im Juni in Genf stattfinden sollen, keinen Weg finden, den Konflikt in Syrien beizulegen, dann wird sich dieser immer weiter ausweiten.

28. Mai 2013