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NAHOST/1298: Greift die Türkei offen in den Syrienkrieg ein? (SB)


Greift die Türkei offen in den Syrienkrieg ein?

Brisanter Tonmitschnitt weist auf gefährliche Überlegungen Ankaras hin



Angesichts der seit Monaten anhaltenden Erfolgsserie der staatlichen Streitkräfte im syrischen Bürgerkrieg - jüngstes Beispiel die Zurückeroberung der Kleinstadt Yabrud, wodurch die Nachschubroute für die Rebellen aus dem Nordlibanon abgeschnitten wurde - mehren sich die Hinweise darauf, daß ein stärkeres Eingreifen ausländischer, dem "Regime" Baschar Al Assads feindlich gesonnener Mächte in den Konflikt bevorsteht. Bisher richten sich die Blicke auf den Süden Syriens. Medienberichten zufolge bereiten die Geheimdienste und Spezialstreitkräfte vor allem der USA und Saudi-Arabiens in Jordanien eine Offensive vor, mit der die Aufständischen von der grenznahen Stadt Dara'a zum Sturm auf das nur 90 Kilometer nördlich gelegene Damaskus ansetzen sollen. Es gibt sogar Spekulationen, wonach die jüngsten Luft- und Artillerieangriffe der israelischen Streitkräfte auf Positionen der syrischen Armee auf den westlich von Dara'a gelegenen Golanhöhen die bevorstehende Großoffensive der Assad-Gegner begleiten bzw. einleiten sollten.

Dessen ungeachtet stehen seit mehreren Tagen die Ereignisse an einem anderem Frontabschnitt, nämlich an der Grenze Syriens zum nördlichen Nachbarland Türkei, im Mittelpunkt der Kriegsberichterstattung. Islamistische Rebellen, darunter Kämpfer der Al-Nusra-Front, haben am 21. März von der türkischen Grenze aus eine Operation namens "Anfal" in der nordwestlichen syrischen Provinz Latakia gestartet. Latakia, über dessen gleichnamige Hauptstadt der hochgefährliche Abtransport syrischer Chemiewaffen auf ein Spezialschiff der US-Marine abgewickelt wird, ist nicht nur wegen des Meerzugangs wichtig. Sie gilt zudem als Hauptsiedlungsgebiet der Alewiten, deren Glaubensrichtung der Assad-Klan angehört. Sollte Syrien als Staat zerfallen und sollten sunnitische Extremisten in Damaskus die Macht an sich reißen, käme das gebirgige Latakia für Syriens Alewiten als Rückzugsgebiet in Betracht.

Meldungen zufolge haben die syrischen Rebellen in den vergangenen Tagen den Grenzübergang Kassab sowie die Berghöhe Shwayhneh, von wo aus sich die Küstenstraße und die Region westlich der umkämpften Handelsmetropole Aleppo überblicken läßt, unter ihre Kontrolle gebracht. In dieser nordwestlichsten Ecke Syriens wird erbittert und für beide Seiten verlustreich gekämpft. Zu den Gefallenen werden sowohl der Regionalkommandeur von Al Nusra als auch Hilal Al Assad, ein Vetter des Präsidenten und führender Offizier der National Defense Force, einer Reservistenarmee, die an der Seite der regulären Streitkräfte kämpft, gezählt.

Es war an genau diesem Kriegsschauplatz, wo am 23. März ein Kampfjet der türkischen Luftwaffe vom Typ F-16 eine syrische MiG-23-Maschine abschoß. Über den Vorfall gibt es widersprüchliche Angaben. Die Regierung in Ankara behauptet, daß die syrische Maschine in den türkischen Luftraum eingedrungen ist. Die Syrer bestreiten dies. Ihnen zufolge nahm der Kampfjet an einer Angriffsmission gegen die Rebellen teil und befand sich im syrischen Luftraum, als er von einer türkischen Rakete getroffen wurde. Offenbar konnte sich der Pilot rechtzeitig per Schleudersitz retten. Auch wenn der türkische Premierminister Recep Tayyip Erdogan den Abschuß der MiG-23 als legitimen Akt der Landesverteidigung verstanden haben will, scheint die Aktion hauptsächlich, wenn nicht sogar ausschließlich, dem Zweck der militärischen Unterstützung der Rebellen gedient zu haben, die sich bekanntlich seit längerem über die Übermacht der syrischen Luftwaffe beklagen und sich deswegen die Verhängung einer Flugverbotszone über Syrien durch die NATO bzw. größere Mengen Boden-Luft-Raketen wünschen.

Die jüngsten Vorgänge in Latakia stehen eventuell mit einem bevorstehenden, größeren Militärengagement der Türkei im syrischen Bürgerkrieg in Verbindung. Darauf deutet die Tonaufnahme eines brisanten Gespräches zwischen führenden Mitgliedern des türkischen Sicherheitsapparats hin, das am Vormittag des 27. März von unbekannten Personen bei Youtube hochgeladen wurde und weswegen Ankara wenige Stunden später den Zugang zu dem populären Onlinedienst für alle Internetnutzer der Türkei sperren ließ. Außerdem wurde für die türkischen Medien eine Nachrichtensperre verhängt. An dem hochgeheimen Gespräch, das offenbar vor kurzem im Außenministerium in Ankara stattfand, haben unter anderem Dienstherr Ahmet Davutoglu, der Chef des Geheimdiensts MIT, Hakan Fidan, und der Stellvertretende Generalsstabschef der türkischen Streitkräfte, Yasar Gürel, teilgenommen.

Gegenstand der denkwürdigen Diskussion ist der anhaltende Krieg in Syrien, das jüngste Erstarken des "Regimes" in Damaskus und wie man einen Vorwand herbeiführen könnte, der eine militärische Intervention der Türkei in den Konflikt als gerechtfertigt erscheinen ließe. Geheimdienstchef Fidan bietet an, für einen Kriegsgrund zu sorgen. Er schlägt vor, "vier Männer aus Syrien" zu aktivieren. Mehr sei offenbar nicht erforderlich. Die Agenten Ankaras sollten entweder vom syrischen Boden aus Raketen auf die Türkei abfeuern und/oder "einen Anschlag auf das Grabmal von Suleiman Schah" verüben. Das Mausoleum zu Ehren des Großvaters von Osman I., dem Gründer des Osmanischen Reiches, liegt im Norden Syriens nahe dem Fluß Euphrat und gehört nach dem Vertrag von Ankara aus dem Jahr 1921 völkerrechtlich zur Türkei. Auf dem Gelände des Mausoleums ist eine Ehrengarde der türkischen Armee dauerhaft stationiert.

Am 20. März hatte die Gruppe Islamischer Staat im Irak und der Levante (ISIL), die Anfang des Jahres wegen ihrer Brutalität und ihrer mangelnden Kooperationsbereitschaft den anderen Rebellenmilizen gegenüber aus dem Al-Kaida-"Netzwerk" geworfen wurde, in einer Internetbotschaft damit gedroht, das Grabmal Suleiman Schahs anzugreifen, sollten nicht innerhalb von drei Tagen die Soldaten dort abgezogen und die türkische Fahne eingeholt werden. Drei Tage später wies der türkische Präsident Abdullah Gül die Forderung zurück und stellte klar, daß jeder Angriff auf das Mausoleum für Ankara einem Kriegsakt gegen die Türkei gleichkäme und eine entsprechende Reaktion nach sich ziehen würde. Bezeichnenderweise war es gerade die ISIL-Gruppe, der Fidan im Gespräch mit Davutoglu und General Gürel den fingierten Anschlag auf Suleiman Schah anhängen wollte. Mit dem Verweis auf "Al Kaida" hätte Ankara ein leichtes Spiel, eine türkische Militärintervention in Syrien international zu verkaufen, so der türkische Geheimdienstchef.

Seit Beginn des Bürgerkriegs in Syrien vor drei Jahren steht die Türkei in Verdacht, die Rebellen finanziell, logistisch und rüstungstechnisch zu unterstützen. Im Januar sollen türkische Zollbeamte in der Provinz Adana in sieben Lastwagen, die humanitäre Hilfsgüter für bedrängte Turkmenen in Syrien transportierten, größere Mengen Waffen und Munition gefunden haben. Berichten der türkischen Presse zufolge wurde der Staatsanwalt Aziz Takici, der den Waffenschmuggel aufklären wollte, Ende Januar auf Veranlassung der Regierung Erdogan von dem Fall abgezogen, woraufhin die Ermittlungen auch eingestellt wurden.

Über die spektakuläre Veröffentlichung der besagten Diskussionsrunde von Davutoglu, Fidan und den anderen Kriegstreibern, hat sich Erdogan am selben Abend fürchterlich empört. Bei einer Wahlkampfveranstaltung - am 30. März finden in der Türkei Kommunalwahlen statt - bezeichnete der türkische Premierminister die Bekanntmachung der Kriegspläne als "niederträchtig" und "unehrlich". Noch drastischere Worte fand der bloßgestellte Davutoglu, der die Enthüllung eine "offene Kriegserklärung gegen die türkische Republik und Nation" nannte. Fest steht, daß weder Erdogan noch sein Außenminister die Echtheit der Aufnahme dementierten.

Spekuliert wird nun über die Urheberschaft der aufschlußreichen Veröffentlichung. Hinter der Aktion wird der in den USA lebende, islamische Prediger Fethullah Gülen vermutet, der sich im Streit mit Erdogan befindet und dessen Hismet-Bewegung in den vergangenen Monaten für die Veröffentlichung von mehreren Telefongesprächen verantwortlich gewesen sein soll, welche die grassierenden Verdachtsmomente der Korruption gegen den Premierminister, dessen Familie und politische Weggefährten erhärtet haben. Als weitere potentielle Quelle kommt der russische Geheimdienst, der in den letzten Wochen mehrere aufsehenerregende Telefongespräche bezüglich der Machenschaften der NATO in der Ukraine, nämlich zwischen dem US-Botschafter in Kiew, Geoffrey Pyatt, und der Staatssekretärin im State Department, Victoria "Fuck the EU" Nuland, zwischen der EU-Außenbeauftragten Catherine Ashton und dem estnischen Außenminister Urmas Paet sowie zwischen der ukrainischen Ex-Premierministerin Julia Timoschenko und Nestor Schrufych, dem stellvertretenden Generalsekretär des Nationalen Sicherheitsrats der Ukraine, veröffentlicht hat, in Betracht.

In Verbindung mit der politischen Krise in der Ukraine und der Annexion der Krim durch Rußland hat die Türkei mit einer Sperrung der Durchfahrt durch den Bosporus für russische Schiffe gedroht, sollte Moskau die Krim-Tataren drangsalieren. Dies teilte Erdogan am 18. März Rußlands Präsidenten Wladimir Putin telefonisch mit. In Tartus, Hauptstadt der gleichnamigen syrischen Provinz, unterhalten die russischen Streitkräfte ihren einzigen Marinestützpunkt im Mittelmeer. Um diesen aufrechtzuerhalten sowie weiterhin der Regierung in Damaskus Rückendeckung zu geben, sind die Russen auf die freie Durchfahrt durch den Bosporus angewiesen. Vor diesem Hintergrund war die Veröffentlichung des Gespräches Davutoglu-Fidan-Gürel vielleicht ein Schuß Rußlands vor den Bug der Türkei.

28. März 2014