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NAHOST/1318: Al Maliki und ISIS - beide bald vor dem Aus? (SB)


Al Maliki und ISIS - beide bald vor dem Aus?

Politische Intrigen in Bagdad - Militärische Lage ändert sich rapide



Seit Beginn des jüngsten Aufflammens des sunnitisch-schiitischen Konfliktes im Irak stehen zwei Akteure im Mittelpunkt aller Berichterstattung: die sunnitische Rebellengruppe Islamischer Staat im Irak und der Levante (ISIS), deren Blitzeroberung von Mossul vor zwei Wochen und laufende Offensive Richtung Bagdad die militärische Fachwelt mit Erstaunen zur Kenntnis nimmt, und Premier-, Innen- und Verteidigungsminister Nuri Al Maliki, dessen Soldaten in Scharen vor dem Feind geflohen sind und der jene schwere Blamage politisch nicht überleben dürfte. Möglicherweise hat auch ISIS den Zenit seiner Macht bereits erreicht. Es gibt Hinweise darauf, daß die sunnitischen Stämme und die ehemaligen Offiziere der Baath-Armee von Saddam Hussein, die aktuell Seite an Seite mit der ISIS-Miliz kämpfen, sich der religiösen Fundamentalisten zu entledigen versuchen werden, sobald sie Al Maliki gestürzt und mit der Zentralregierung in Bagdad eine neue Verteilung von Macht und Ressourcen vereinbart haben.

Bei den Parlamentswahlen im April hatte die Rechtsstaatsallianz, in der Al Malikis schiitische Islamische Dawa-Partei den Ton angibt, 92 der insgesamt 328 Sitze errungen und ist damit stärkste Fraktion geworden. Deswegen hat der Premierminister bisher alle Forderungen aus dem In- und Ausland, zum Beispiel von US-Außenminister John Kerry und dem schiitischen "Radikalprediger" Muktada Al Sadr, nach Rücktritt und der Bildung einer Notstandsregierung zurückgewiesen. Schon vor der Wahl war die Kritik an Al Maliki wegen Korruption, Inkompetenz und mangelnder Bereitschaft zur Zusammenarbeit mit den Sunniten und Kurden unüberhörbar geworden. Das offensichtliche Versagen des auf ihn zugeschnittenen Sicherheitsapparats dürfte die Bereitschaft der übrigen Parteien und Fraktionen im Bagdader Parlament, einer weiteren Verlängerung der Amtszeit des seit 2006 fast allein regierenden Al Maliki zuzustimmen, auf Null schrumpfen lassen.

Hinzu kommt, daß sich inzwischen selbst die Iraner von ihrem Günstling distanzieren. Wie die Nachrichtenagentur Associated Press am 27. Juni berichtete, soll der Kommandeur der renommierten Al-Quds-Einheit der Iranischen Revolutionsgarden, General Qassem Suleimani, in den vergangenen Tagen in Bagdad mit führenden schiitischen Politikern sowie in der Pilgerstadt Nadschaf mit Mohammed Reda, dem Sohn des 86jährigen Großajatollahs Ali Al Sistani, des geistlichen Oberhaupts der irakischen Schiiten, über Alternativen zu Al Maliki beraten haben. Als potentieller Nachfolger gelten der ehemalige Vizepräsident Adi Abd Al Mahdi, ein in Frankreich ausgebildeter, früherer marxistischer Ökonom, der ehemalige Innen- und Finanzminister Bayan Jabr, der einst Anführer der schiitischen Badr-Brigaden war, und Ex-Premierminister Ibrahim Al Dschafari. Nach Beratungen Suleimanis mit Irans Präsidenten Hassan Rohani und dem Obersten Geistlichen Ali Khamenei wird Teheran Bagdad seine Vorstellung davon, wie und mit wem an der Regierungsspitze die politisch-militärische Krise im Irak bewältigt werden soll, übermitteln. Aufgrund der schiitischen Mehrheit im irakischen Parlament ist davon ausgehen, daß die Empfehlungen der iranischen Führung auch umgesetzt werden.

Ungeachtet des vergleichsweise gemächlich verlaufenden Postengeschachers in Bagdad entwickelt sich die Lage auf dem Schlachtfeld recht dynamisch. Bereits am 24. Juni berichtete die US-Zeitungsgruppe McClatchy unter Hinweis auf Dschabbar Jawar von der kurdischen Peschmerga-Miliz, Kämpfer des ISIS hätten die Städte Iskandariya und Mahmoudiyah, die nur sechs Kilometer südlich von Bagdad liegen, erobert. Damit ist die irakische Hauptstadt von den sunnitischen Aufständischen fast umzingelt. Eine Flucht aus der sieben Millionen Menschen zählenden Metropole ist quasi nur noch gen Osten, in Richtung der Grenze zum Iran, möglich. Am 25. Juni meldeten die Nachrichtenagenturen Agence France Presse und Reuters.com aus der ostsyrischen Stadt Albu Kamal, die al-kaida-nahe Al-Nusra-Front, die sich bisher als stärkste Anti-Assad-Miliz im syrischen Bürgerkrieg erwiesen hat, hätte der radikalislamischen ISIS die Treue geschworen.

Die Nachricht von der Aussöhnung zwischen Al Nusra und ISIS, sollte sie stimmen, ist von großer politischer Bedeutung. Schließlich hat Osama Bin Ladens Nachfolger Aiman Al Zawahiri, der sich im afghanisch-pakistanischen Grenzgebiet aufhalten soll, die ISIS-Miliz vor einigen Monaten wegen ihrer extremer Brutalität gegenüber "Ungläubigen" und den Machtkämpfen mit anderen aufständischen Gruppen in Syrien formell aus dem Al-Kaida-"Netzwerk" geworfen. Eine erneute Zusammenarbeit zwischen Al Nusra und ISIS dürfte den jüngsten Plan von US-Präsident Barack Obama, 500 Millionen Dollar für die Unterstützung "gemäßigter" Rebellenformationen in Syrien auszugeben, erheblich verkomplizieren. Bislang sind alle Versuche, Geld- und Waffenlieferungen aus dem Westen und den arabischen Golfstaaten, die für die eher säkulare Freie Syrische Armee (FSA) bestimmt waren, von den "Extremisten" fernzuhalten, gescheitert.

Inzwischen werden die ISIS-Dschihadisten, deren schwarzweiße Fahnen über weiten Teilen Ostsyriens und des Westiraks wehen, wegen ihrer Tätigkeit im Ölgeschäft und nach der Eroberung größerer Städte wie Raqqa, Falludscha, Ramadi, Mossul und Tikrit, im Verlauf derer sie erhebliche Mengen Bargeld, Waffen und Munition erbeutet haben, von den internationalen Medien als reichste und erfolgreichste Terrortruppe der Geschichte gehandelt. Man darf gespannt sein, wie lange die Männer um Abu Bakr Al Baghdadi diese Position noch halten werden.

Wie man weiß, wollen die USA, die aktuell 300 Militärberater nach Bagdad entsenden, ihre Kontakte bei den sunnitischen Stämmen im Zentralirak reaktivieren, damit sie den ISIS-Einheiten den Garaus machen, wie sie es zwischen 2007 und 2009 mit dessen Vorläuferorganisation Al Kaida im Irak gemacht haben. Am 26. Juni berichtete Geheimdienstexperte Jeff Stein für das nur noch online erscheinende Nachrichtenmagazin Newsweek von entsprechenden Überlegungen seitens der CIA und deren ehemaligen Partnern im "sunnitischen Dreieck" nordwestlich von Bagdad.

Grundlage des hochinteressanten Newsweek-Artikels ist ein Interview, das Stein mit John Maguire, dem ehemaligen CIA-Stationschef in Bagdad, geführt hat. Maguire, der heute in der Privatwirtschaft als Sicherheitsberater arbeitet, will in den vergangenen Tagen telefonisch von Scheich Ali Hatem Al Suleiman, dem Anführer des größten sunnitischen Stamms im Irak, und mehreren ehemaligen Angehörigen der Armee Saddam Husseins zugesichert bekommen haben, daß die Kämpfer des ISIS nur als Mittel zum Zweck, um Maliki zu stürzen und einen besseren Deal mit der Zentralregierung in Bagdad auszuhandeln, benutzt werden. "... und wenn sie sie nicht mehr brauchen, werden sie sie bitten, nach Syrien oder woher auch immer sie gekommen sind, zurückzukehren. Und wenn sie es nicht tun, werden sie sie töten", so Maguire lapidar.

Dem widerspricht im selben Artikel Malcolm Nance, der einst bei der CIA und der US-Marine im Antiterrorbereich tätig gewesen ist. Seine Einschätzung der künftigen Entwicklung im Irak und Syrien hört sich nicht weniger blutig, aber weit düsterer als die Maguires an. Nance hält ISIS militärisch und organisatorisch für viel stärker als damals Al Kaida im Irak und glaubt nicht, daß die sunnitischen Stämme ihre momentanen Verbündeten so einfach wieder loswerden können. Für ihn haben die sunnitischen Stammesführer durch die Allianz mit ISIS "Selbstmord begangen": "ISIS wird eine derart schmerzhafte Kontrolle über die sunnitische Bevölkerung ausüben, daß diese den Moment, als sie sich eingeredet hat, Maliki sei schlimmer als Saddam, bereuen wird. Ich war letztes Jahr für einen Monat dort und alles, was ich hörte, war, daß Maliki ein Tyrann sei. Die Sunniten überschätzen ihre politischen Schwierigkeiten, aber diesmal haben sie ihr eigenes Todesurteil unterschrieben."

27. Juni 2014