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NAHOST/1324: Netanjahus Vergeltungsdrang bringt Tod über Gaza (SB)


Netanjahus Vergeltungsdrang bringt Tod über Gaza

Für Israels Regierung ist Verhältnismäßigkeit offenbar ein Fremdwort



Die israelische Militäroperation Protective Edge geht inzwischen in den dritten Tag. Offiziell richtet sich die Aktion gegen die seit 2006 im Gazastreifen regierende Islamische Widerstandsbewegung Hamas und deren Kämpfer. Die überwiegende Mehrheit der Opfer sind jedoch Zivilisten. Nach jüngsten Zahlen des arabischen Nachrichtensenders Al Jazeera haben israelische Bomben- und Raketenangriffe bislang 81 Menschen das Leben gekostet und 537 Personen verletzt. Unter den Opfern befinden sich auch 22 Kinder, 15 Frauen und 12 Senioren. Die Krankenhäuser im Gazastreifen sind inzwischen überfüllt mit Schwerverletzten. Bis zum Mittag des 10. Juli hatte die israelische Luftwaffe auf 750 Ziele im dichtbesiedelten Gazastreifen mehr als 800 Tonnen an verschiedenen Sprengkörpern abgeworfen bzw. abgefeuert; das sind bereits mehr als während der achttägigen "Operation Wolkensäule" im November 2012.

In den westlichen Nachrichten wird der Konflikt verzerrt, als der zwischen zwei quasi gleichstarken Parteien, dargestellt. So berichtete beispielsweise der Deutschlandfunk heute Vormittag in seinen Nachrichten, daß Israel und die Hamas ihren gegenseitigen Raketenbeschuß in der vergangenen Nacht fortgesetzt hätten. Mit keinem einzigen Wort wurde die Zahl der Getöteten erwähnt, vermutlich deshalb weil die Raketen der Hamas, die zwar in großer Zahl in Richtung Israel abfeuert werden, keine besondere Schlagkraft besitzen. Bis zur Stunde ist kein einziger Bürger Israels im Verlauf des aktuellen Krieges gewaltsam ums Leben gekommen. Entgegen des von der Regierung in Tel Aviv vermittelten Eindrucks, die israelischen Streitkräfte gingen nur gegen militärische Ziele vor, haben diese sowohl zivile Wohnhäuser als auch mindestens ein Krankenhaus bombardiert.

Der Deutschlandfunk hat es auch versäumt, seine Zuhörer in der derzeit im Fußballrausch befindlichen Bundesrepublik darüber in Kenntnis zu setzen, daß am Abend des 9. Juli israelische Kampfjets ein vollbesetztes Strandcafé bei Chan Younis in die Luft gejagt haben, in dem die Besucher gerade das Halbfinale der Fußballweltmeisterschaft in Brasilien zwischen Argentinien und den Niederlanden im Fernsehen verfolgten. Bei dem Angriff, der möglicherweise den Tatbestand des Kriegsverbrechens erfüllt, wurden neun Menschen getötet und Dutzende verletzt. Nach Angaben des israelischen Militärs soll Operation Protective Edge noch mindestens einen weiteren Tag andauern. Die israelische Armee hat inzwischen 40.000 Reservisten rund um den Gazastreifen zusammengezogen, die demnächst zum Einsatz kommen könnten.

Die Hauptverantwortung für das jüngste Blutvergießen in Gaza trägt eindeutig Netanjahu, der gerade vor wenigen Stunden eine Waffenruhe mit der Hamas kategorisch ausgeschlossen hat. Seine rechtsgerichtete Regierung hat die am 18. Juni erfolgte Entführung dreier Jugendlicher aus einer jüdischen Siedlung bei Hebron im Westjordanland genutzt, um in der eigenen Bevölkerung eine Pogromstimmung gegen die Palästinenser und die israelischen Araber zu erzeugen und propagandistisch den Boden für eine Großoffensive gegen die Hamas in Gaza zu bereiten. In dem aufschlußreichen und empfehlenswerten Artikel "Netanyahu government knew teens were dead as it whipped up racist frenzy", der am 8. Juli bei Electronic Intifada erschien ist, weist Max Blumenthal, der als Kritiker des zionistischen Projekts der Schaffung eines "Großisrael" bekannt ist, unter Hinweis auf Berichte der arabischen und israelischen Presse nach, wie Netanjahu und seine Kabinettsmitglieder achtzehn Tage lang durch rassistische Äußerungen und die Verhängung einer Nachrichtensperre bewußt den falschen Eindruck erzeugt haben, daß die drei Entführten noch am Leben seien und somit gerettet werden könnten und daß die Hamas in das Verbrechen verwickelt gewesen sei. [1]

Die Ausführungen Blumenthals sprechen für die Richtigkeit der Vermutung, daß der Fall der drei entführten Torah-Schüler von der Netanjahu-Regierung als günstige Gelegenheit aufgegriffen worden ist, um die diplomatische und militärische Position Israels, die durch das Scheitern der Friedensverhandlungen mit der palästinenischen Führung unter Präsident Mahmud Abbas Ende März und die anschließende Bildung einer Regierung der nationalen Einheit für das Westjordanland und den Gazastreifen Anfang Juni geschwächt worden war, zu verbessern. Obwohl die neue Regierung in Ramallah und Gazastadt aus parteilosen Technokraten besteht und ihr kein Hamas-Mitglied angehört, hat Netanjahu Abbas' Fatah vorgeworfen, einen Pakt mit einer "Terrororganisation" eingegangen zu sein, und deshalb alle Kontakte zur Palästinensischen Autonomiebehörde (PA) abgebrochen. Ungeachtet des militärischen Zwecks zielt Operation Protective Edge eindeutig darauf ab, wenn nicht die Herrschaft der Hamas im Gazastreifen zu beenden, so doch zumindest Präsident Abbas dermaßen unter Druck zu setzen, daß er die Einheitsregierung entläßt und die islamische Widerstandsbewegung wieder in die diplomatische Isolation schickt.

Ob dieses Ziel verwirklicht werden kann, ist eine andere Frage. Derzeit sieht es eher so aus, als würden die schrecklichen Ereignisse in Gaza die Solidarisierungstendenzen unter den Palästinensern verstärken. In einer Rede am 9. Juli hat Abbas Israel vorgeworfen, einen Krieg nicht allein gegen die Hamas, sondern gegen alle Palästinenser zu führen. Mit Sicherheit hatte Abbas nicht nur die Militäroffensive gegen Gaza, sondern die laufenden Überfälle auf Palästinenser im Westjordanland und auf arabische Bürger in Israel im Sinne, als er dies sagte. Bekanntlich waren die jüngsten Friedensverhandlungen, die unter der Obhut von US-Präsident Barack Obamas Außenminister John Kerry stattfanden, an der Frage der jüdischen Siedlungen auf der Westbank und der palästinensischen Gefangenen gescheitert. Als "Vergeltung" für die tödliche Entführung der drei jüdischen Religionsschüler will Netanjahus Regierung nun den Ausbau der völkerrechtlich illegalen jüdischen Siedlungen forcieren, was wiederum die Chancen für die Gründung eines eigenständigen palästinensischen Staates zunichte macht. Mit einer baldigen Wende zum Besseren im Nahen Osten ist also nicht zu rechnen.


Fußnote:

1. http://electronicintifada.net/netanyahu-government-knew-teens-were-dead-it-whipped-racist-frenzy/13533

10. Juli 2014