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NAHOST/1343: Hamas geht gestärkt aus dem Gazakrieg hervor (SB)


Hamas geht gestärkt aus dem Gazakrieg hervor

Nach Ende von Protective Edge steht Benjamin Netanjahu unter Druck



Nach 50 Tagen ist am 26. August die israelische Militäroperation Protective Edge gegen Gaza mit einer unbefristeten Waffenruhe zu Ende gegangen. Die Bilanz auf palästinensischer Seite ist verheerend. 2168 Menschen, die Mehrheit von ihnen Zivilisten, darunter viele Frauen und Kinder, wurden getötet. Mehr als 10.895 Palästinenser wurden verletzt, viele von ihnen für immer verkrüppelt. Aufgrund der großflächigen Zerstörung der zivilen Infrastruktur sind 450.000 der 1,8 Millionen Gazabewohner obdachlos bzw. zu Binnenflüchtlingen gemacht worden. Der Preis der Kriegsschäden geht in die Milliarden. Der Wiederaufbau wird teuer und eine Rückkehr zur Normalität lange dauern.

Trotz alledem kam es am gestrigen Abend des 27. August überall in dem lediglich 51 Kilometer langen und 11 Kilometer breiten Gazastreifen zu Siegesfeiern. Umgeben von den eigenen Kämpfern zeigte sich Mohammed Deif, der Chef der Al-Qassam-Brigaden, des militärischen Flügels der Hamas-Bewegung, im Zentrum von Gazastadt, das heißt zum erstenmal seit langem in der Öffentlichkeit, und ließ sich von einer großen Volksmasse bejubeln. Vergeblich hatten die israelischen Streitkräfte am 19. August mit einem Raketenangriff auf Deifs Wohnung versucht, ihren erbittertsten Gegner zu liquidieren. Doch Deif, der sich seit Beginn von Protective Edge am 8. Juli sprichwörtlich im Untergrund aufhielt, wurde nicht getroffen. Dafür mußten seine 27jährige Frau, das gemeinsame, sieben Monate alte Kind und drei weitere Zivilisten sterben.

Trotz der schweren Verluste, die sie ertragen müssen, sehen sich die Menschen in Gaza und mit ihnen die Palästinenser im Westjordanland als Sieger der jüngsten militärischen Auseinandersetzung mit Israel. Auf dem Schlachtfeld blieben die Al-Qassam-Brigaden und die anderen paramilitärischen Gruppierungen im Gazastreifen, darunter der Islamische Dschihad, unbesiegt. Bis zuletzt haben sie Raketen auf Israel abgefeuert. Bei Vorstößen der israelischen Bodenstreitkräfte, also in der direkten Konfrontation, haben die palästinensischen Widerstandskämpfer, mittels Taktiken, die sich für die Hisb-Allah-Miliz 2006 im Libanonkrieg bewährt haben - allen voran das plötzliche Auftauchen von kleinen Einheiten hinter feindlicher Linie durch die Verwendung von vorher gelegten Tunneln - behauptet. Bei Bodenkämpfen hat die israelische Armee 64 Soldaten verloren (zum Vergleich: Bei der 22tägigen Operation Gegossenes Blei zur Jahreswende 2008/2009 waren zehn israelische Soldaten gefallen).

Also hat die israelische Regierung von Premierminister Benjamin Netanjahu ihre erklärten Kriegsziele, die Zerstörung der "terroristischen Infrastruktur", will heißen der Raketen und Tunnel der Hamas und ihrer Verbündeten, und die Demilitarisierung des Gazastreifens nicht erreicht. Sollte, wie die meisten Beobachter vermuten, die Gaza-Offensive auch dazu gedacht gewesen sein, die Versöhnung zwischen der im Westjordanland regierenden Fatah um den palästinensischen Präsidenten Mahmud Abbas und der seit 2007 in Gaza herrschenden Hamas zu torpedieren, dann ist auch diese Absicht nicht in Erfüllung gegangen. Angesichts des täglichen Massakers an der Zivilbevölkerung in Gaza sah sich Abbas zum Schulterschluß mit der Hamas gezwungen und hat demonstrativ deren politischen Chef Chalid Maschal in Katar aufgesucht. Bei den Verhandlungen um eine Feuerpause unter ägyptischer Vermittlung in Kairo traten die Palästinenser mit einer vereinten und keiner getrennten Delegation auf.

Im Verlauf der Offensive sind sechs israelische Zivilisten, darunter ein kleiner Junge, durch den Einschlag palästinensischer Raketen oder Mörsergranaten aus dem Gazastreifen ums Leben gekommen. Dieser Umstand geht weniger auf Israels vielgepriesenes, aber völlig überbewertetes Raketenabwehrsystem Iron Dome als vielmehr auf seine zahlreichen Sirenen und Luftschutzbunker zurück, welche die Menschen rechtzeitig vor Gefahren warnten bzw. ihnen Zuflucht boten. Hinzu kommt die Tatsache, daß die Sprengköpfe der palästinensischen Raketen relativ klein - bis zu 30 Kilogramm - und von der Wirkung her nicht unbedingt mit den bis 500 Kilogramm schweren Bomben, welche die israelische Luftwaffe über Gaza abwarf, zu vergleichen waren.

Insgesamt läßt sich feststellen, daß für Israel die militärische Überlegenheit und die Unverhältnismäßigkeit in der Anwendung der Mittel nicht zum gewünschten Erfolg geführt haben. Im Gegenteil haben die Zerstörung und das menschliche Leid, die Israels Artilleriegeschosse, Bomben und Raketen in Gaza verursachten, seinem Ansehen im Ausland geschadet. In den Hauptstädten Europas und Lateinamerikas gingen an den vergangenen Wochenenden immer wieder Hunderttausende Menschen auf die Straße, um gegen das israelische Vorgehen zu protestieren. Durch die schockierenden Bilder aus Gaza in den Fernsehnachrichten sowie auf sozialen Medien wie Facebook und Twitter hat weltweit die Kampagne zum Boykott israelischer Handelswaren enormen Auftrieb erfahren.

Sogar in den USA, wo Israel nicht nur in der Politik, sondern auch in der breiten Bevölkerung bisher starke Unterstützung genoß, ist die Stimmung gegen den jüdischen Staat gekippt. Überall im Land, nicht nur in den Großstädten wie New York und Washington kam es zu riesigen Kundgebungen der Solidarität mit Gaza, an deren vorderster Front Vertreter jüdischer Friedensgruppen neben denen arabischer Interessensverbände standen. Mehr als eine Woche lang konnte das israelische Containerschiff Zim Piraeus seine Fracht wegen anhaltender Proteste in der kalifornischen Hafenstadt Oakland nicht löschen. Die Zim-Reederei ist inzwischen auf Seattle, Washington, ausgewichen. Aber auch dort wollen die pro-palästinensischen Aktivisten die Entladung verhindern.

Nach der Vereinbarung von Kairo sollen nun die Grenzübergänge von Gaza nach Israel und Ägypten wieder geöffnet werden. Am Grenzübergang Rafah im südlichen Gazastreifen soll Sicherheitspersonal der palästinensischen Autonomiebehörde (PA) dafür sorgen, daß keine Waffen und Munition aus Ägypten in das abgeriegelte Gebiet hineingeschmuggelt werden. Gazas Fischer sollen wieder bis sechs Seemeilen vor der Küste fischen dürfen. Eine baldige Erweiterung der Fanggründe auf bis zu 12 Seemeilen steht in Aussicht. Darüber hinaus sollen die israelischen Streitkräfte den von ihnen besetzten Streifen entlang der östlichen und nördlichen Grenzen Gazas von 300 auf 100 Meter Tiefe wieder reduzieren, was vielen palästinensischen Bauern Zugang zu ihren Feldern ermöglichte.

In den kommenden Wochen soll über die palästinensischen Forderungen nach Freilassung aller politischen Gefangenen, der Wiederinbetriebnahme des zivilen Flughafens und dem Bau eines Tiefseehafens in Gaza, wofür im Gegenzug Israel eine endgültige Beseitigung der militärischen Bedrohung verlangt, verhandelt werden. Die ausgebrochenen Streitereien innerhalb der Regierung Netanjahu über den Ausgang des jüngsten Waffengangs lassen jedoch jede Hoffnung auf eine baldige Einigung in diesen schwierigen Fragen als verfrüht erscheinen.

29. August 2014