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NAHOST/1391: Großoperation gegen IS im Irak verläuft schleppend (SB)


Großoperation gegen IS im Irak verläuft schleppend

Hauptschauplatz der Bodenkämpfe verlagert sich von Tigrit nach Ramadi


Mit der Rückeroberung von Tigrit, dem Heimatort Saddam Husseins, wollten die irakischen Streitkräfte ihren Ruf nach der verheerenden Schlappe im vergangenen Juni, als sie Mossul, die zweitgrößte Stadt des Landes, und weite Teile des Nordwestens des Iraks an die "Terrormiliz" Islamischer Staat (IS) verloren hatten, wiederherstellen. So richtig ist ihnen das aber nicht gelungen. Die Vertreibung des IS aus Tigrit, der 160 Kilometer nördlich von Bagdad liegenden, 250.000 Einwohner zählenden Hauptstadt der Provinz Salah ad-Din, hat, statt wie geplant eine Woche, einen Monat gedauert. Erst nachdem die US-Luftwaffe umfangreiche Bomben- und Raketenangriffe auf IS-Stellungen durchgeführt hat, gelang es der irakischen Armee, die Dschihadisten, die überall Minen und Sprengfallen gelegt hatten, zu vertreiben. Die einst blühende Stadt gleicht einem Trümmerfeld. Die geflohenen Bewohner von Tigrit, die mehrheitlich Sunniten sind, kehren aus Angst vor Übergriffen schiitischer Milizionäre nur langsam zurück.

Der Sturm auf Tigrit war ursprünglich als Probelauf für eine anvisierte Rückeroberung von Mossul gedacht. Der enttäuschende Verlauf der Operation hat jedoch ernüchternde Erkenntnisse über die miserable Kampfbereitschaft der staatlichen irakischen Streitkräfte und die nur bedingte Eignung der schiitischen Milizen bei Einsätzen in den mehrheitlich sunnitisch-bewohnten Teilen des Iraks, nämlich im Zentrum, im Westen und im Norden des Landes, gebracht. Von einer Großoffensive gegen Mossul mit seinen rund zwei Millionen Einwohnern noch in diesem Jahr redet bei der Regierung des irakischen Premierministers Haider Al Abadi und dem US-Militär inzwischen niemand. Dafür sind die irakischen Streitkräfte und ihre ausländischen Verbündeten zu sehr an anderen Stellen, wie zum Beispiel rund um die größte irakische Ölraffinerie bei Baidschi, die 40 Kilometer nördlich von Tigrit liegt, und in Ramadi, der Hauptstadt der Provinz Anbar, mit der Bekämpfung des IS befaßt.

In der Tat scheint der Fall von Tigrit eher das Ergebnis eines taktischen Rückzugs des IS als einer gelungenen Eroberungsstrategie seiner Gegner gewesen zu sein. Kaum, daß die irakische Militärführung am 1. April die Einnahme Tigrits offiziell gemeldet hatte, da trafen erste Berichte von verstärkten militärischen Aktivitäten von des IS in Baidschi und Ramadi ein. Ramadi ist für beide Seiten von großer symbolischer Bedeutung, denn Anbar ist die irakische Provinz mit der größten sunnitischen Bevölkerung - sowohl proportional als auch in absoluten Zahlen. In Anbar hatten ab 2003 sunnitische Rebellen den US-Besatzungstruppen schwer zugesetzt, dort wurde von Musab Al Zarkawi Al Kaida im Irak gegründet, aus der der Islamische Staat im Irak und Syrien (ISIS) und später der IS wurde. Von Anbar gingen 2011 infolge des Arabischen Frühlings die Massenproteste gegen die Benachteiligung der sunnitischen Bevölkerung aus, die von der schiitisch-dominierten Regierung Nuri Al Malikis brutal niedergeschlagen wurde. Der fehlende Wille zur Aussöhnung und Machtteilung hat viele sunnitische Stammeskämpfer, deren Zusammenarbeit gegen Al Kaida die US-Militärs ab 2006 erkauft hatten, in die Arme desIS getrieben, diesen wiederum stark gemacht, und in der Folge letztes Jahr Maliki sein Amt als Premierminister gekostet.

Nach der Rückeroberung von Tigrit hat Malikis Nachfolger Abadi vorerst auf die Hilfe der schiitischen Milizen in Anbar verzichtet. Aus innenpolitischer Sicht ist die Entscheidung vielleicht richtig gewesen, militärisch ist sie nach hinten losgegangen. Bis Mitte April brachten die IS-Salafisten Ramadi fast gänzlich unter ihre Kontrolle. Die Bemühungen der irakischen Spezialstreitkräfte, zusammen mit der US-Luftwaffe und einigen Hundert sunnitischen Stammeskämpfern die IS-Freiwilligen aus Ramadi zu vertreiben, laufen schlecht. Um jede Straße, jedes Haus wird erbittert gekämpft. Die Stadt hat sich in ein einziges Schlachtfeld verwandelt. Aus Angst um ihr Leben sind Hunderttausende Menschen auf der Flucht.

In einem Artikel über die aktuelle Lage berichtete am 19. April der preisgekrönte Nahost-Korrespondent Patrick Cockburn im britischen Independent on Sunday unter Verweis auf Quellen bei der Regierung in Bagdad, die im vergangenen Herbst von Präsident Barack Obama und Generalstabschef Martin Dempsey in den Irak entsandten US-Militärberater seien zu dem deprimierenden Urteil gekommen, daß die irakische Armee "nicht wiederaufgebaut werden kann" und daß sie bestenfalls über "fünf Brigaden [15.000 Mann]" verfüge, "die effektiv kämpfen können". (Zum Vergleich: Vor dem spektakulären Vormarsch des IS im Frühsommer 2014 hatte die irakische Armee nominell eine Mannschaftsstärke von 250.000.) Der IS dagegen habe mit seinen anhaltenden Militäroperationen in Ramadi, Baidschi und anderswo demonstriert, "daß er seine offensive Fähigkeit erhalten hat, während die Einberufung von Männern aus der Bevölkerung unter seiner Kontrolle bedeutet, daß er gleichzeitig Angriffe auf mehreren Fronten starten kann", so Cockburn.

Für Bagdad und Washington gab es immerhin eine wichtige Erfolgsmeldung, als am 17. April bei einem Luftangriff auf einen Autokonvoi der Aufständischen östlich von Tigrit Ezzat al Douri, der frühere Stellvertreter Saddam Husseins, samt Begleitung getötet wurde. Der ehemalige irakische Vizepräsident war das ranghöchste Mitglied der Baath-Regierung, das nach der Invasion 2003 trotz eines 10-Millionen-Dollar-Kopfgeldes den Amerikanern nicht in die Hände gefallen war. Aus dem Untergrund hat Al Douri jahrelang den Aufstand gegen die Besatzungstruppen koordiniert. 2014 ist seine Organisation, die Armee der Männer des Naqshbandi-Ordens, mit dem IS verschmolzen. Für die in den letzten Tagen vielkolportierte Meldung, im März sei der selbsternannte Kalif des IS, Abu Bakr Al Baghdadi, bei einem Luftangriff im Bezirk Ba'aj im Westen der an Syrien grenzenden Provinz Ninawa schwer verletzt worden, hat es dagegen bislang keine Bestätigung gegeben.

23. April 2015


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