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NAHOST/1410: Russische Luftwaffe greift Rebellen in Syrien an (SB)


Russische Luftwaffe greift Rebellen in Syrien an

Moskau und Washington - Partner oder Rivalen im syrischen Bürgerkrieg?


Im Rahmen des historisch ersten Einsatzes der Streitkräfte Rußlands außerhalb der Gebietes der ehemaligen Sowjetunion seit dem Einmarsch in Afghanistan 1979 haben russische Kampfjets am 30. September mit Angriffen auf Rebellenstellungen in Syrien begonnen, die seitdem andauern. In den Provinzen Idlib, Hama und Homs wurden Dutzende Menschen durch russische Bomben und Raketen getötet. Unter den Opfern sollen sich Aufständische und auch Zivilisten befunden haben. Um alle drei Provinzhauptstädte liefert sich die Syrische Arabische Armee (SAA) mit verschiedenen Rebellengruppen seit langem erbitterte Kämpfe. Die russischen Kampfjets, die auf zwei Stützpunkten in Latakia stationiert sind, haben auch Angriffe auf Ziele in jener Mittelmeerprovinz geflogen, die als Hochburg der Alewiten und der Anhänger des Klans des syrischen Präsidenten Baschar Al Assad gilt. Dem russischen Militär geht es offenbar darum, das bedrängte "Regime" Assads zu stützen und dessen Kontrolle über den Westen des Landes, von Damaskus im Süden nahe der Grenze zu Jordanien bis nach Latakia an der Grenze zur Türkei, zu festigen.

Die militärische Einmischung Rußlands erfolgt vor dem Hintergrund zunehmenden Chaos in der Region zwischen Mittelmeer und Persischem Golf. Europa sieht sich einem Massenansturm von Kriegsflüchtlingen aus Syrien, dem Irak und Afghanistan ausgesetzt. Die vor einem Jahr von den USA, Frankreich, Großbritannien, Australien, Jordanien und den sunnitischen Golfstaaten gestartete Militäroperation gegen die "Terrormiliz" Islamischer Staat (IS) hat sich als Rohrkrepierer erwiesen. Nach wie vor kontrolliert der IS weite Teile im Osten und Nordwesten Syriens beziehungsweise des Irak. Die geplante Rückeroberung der zweitgrößten irakischen Stadt Mossul ist bis auf weiteres verschoben worden, nachdem die irakischen Streitkräfte im Juni trotz Unterstützung der US-Luftwaffe beim Versuch, die Hauptstadt Ramadi der hauptsächlich von Sunniten bewohnten Provinz Anbar einzunehmen, eine katastrophale Niederlage erlitten haben.

Die vor einem Jahr begonnenen alliierten Luftangriffe scheinen den IS nicht im geringsten geschwächt zu haben. In Syrien und im Irak fügen die Kämpfer um den selbsternannten Kalifen Abu Bakr Al Baghdadi den Regierungstruppen nach wie vor empfindliche Verluste zu. Im Pentagon läuft derzeit eine offizielle Untersuchung, nachdem Ende August bekannt geworden war, daß sich eine größere Gruppe Geheimdienstanalysten des für den Nahen Osten zuständigen Zentralkommandos (CENTCOM) über ihre Vorgesetzten beschwert haben, weil diese angeblich seit Monaten von ihnen beschönigende Berichte über den fortlaufenden Kampf gegen den IS verlangen.

Eine langanhaltende, kostenintensive Initiative des US-Militärs, "gemäßigte" Rebellen in der Türkei und Jordanien auszubilden und auszurüsten, um sie anschließend in den Bürgerkrieg in Syrien zurückzuschicken, ist vor wenigen Tagen wegen mangelnden Erfolgs eingestellt worden. Zuvor waren die Mitglieder der geplanten fünften Kolonne Washingtons im syrischen Bürgerkrieg kurz nach dem Grenzübertritt von islamistischen Aufständischen des IS oder des Al-Kaida-Ablegers Al-Nusra-Front in Syrien gefangen genommen worden oder zu den Rebellen übergelaufen. So fielen teure Waffen und Munition in die Hände der erklärten Feinde der USA. Angesichts derartiger Peinlichkeiten wundert es nicht, daß Präsident Barack Obama Ende September den Rücktritt des bisherigen US-Sondergesandten bei der Anti-IS-Koalition, General John Allen, angenommen hat.

Zwischen den außenpolitischen Eliten der USA herrscht eine gewisse Uneinigkeit über den militärischen Einsatz Rußlands in Syrien. Die Neokonservativen und die Liberalinterventionisten sind über die Entwicklung ziemlich aufgebracht. Ihnen zufolge sind die beiden vermeintlichen "Diktatoren" Assad und Wladimir Putin - letzterer durch die Unterstützung Moskaus für Damaskus - für das ganze Blutvergießen in Syrien einschließlich der mehr als 200.000 Toten verantwortlich. Konsequenterweise werfen sie Obama und seinem Außenminister John Kerry vor, nicht aggressiv genug zu handeln, und behaupten, hätte man Assad schneller gestürzt, hätten "gemäßigte" Kräfte Syrien zu "Frieden" und "Freiheit" führen können.

Wie Putin in seiner Rede am 29. September vor der Generalversammlung der Vereinten Nationen in New York erklärte, strafen die unübersehbaren Negativfolgen der überstürzten Beseitigung der "Regime" Saddam Husseins im Irak 2003 und Muammar Gaddhafis in Libyen 2011 den von westlicher Arroganz geprägten, neokolonialistischen Träumereien von Leuten wie David Petraeus, Hillary Clinton, John McCain und Samantha Power Lüge. Gleichwohl ist die Warnung des amtierenden US-Verteidigungsministers Ashton Carter, Rußland riskiere durch den großen "Anti-Terror"-Einsatz in Syrien, noch mehr "Benzin ins Feuer" zu gießen, nicht ganz von der Hand zu weisen.

Zwischen Obama und Putin scheint eine prinzipielle Einigkeit darüber zu herrschen, daß der IS besiegt und Syrien ein geordneter Übergang in die Nach-Assad-Ära ermöglicht werden müsse. Doch die Staatlichkeit, die Moskau und Washington nun gemeinsam in Syrien irgendwie retten wollen, erstreckt sich nicht einmal mehr auf die Hälfte des ursprünglichen Staatsterritoriums. Während russische und amerikanische Militärs inzwischen Gespräche darüber führen, wie man sich im Luftraum über Syrien nicht gegenseitig in die Quere kommt, berichtet die britische Zeitung Guardian in der Ausgabe vom 2. September, daß die Kataris als Reaktion auf Rußlands Intervention bereits damit begonnen hätten, in Absprache mit Saudi-Arabien ganze "Flugzeugladungen mit Waffen in die Türkei zu fliegen", um die mit ihnen kooperierenden radikal-sunnitischen Milizen in Syrien auszurüsten. Vor diesem Hintergrund könnte Sipan Hemo, der Kommandeur der kurdischen Miliz YPG in Syrien, mit seiner am 1. September gegenüber der Nachrichtenagentur Reuters geäußerten pessimistischen Einschätzung, wegen des Einstiegs der ausländischen "Großmächte" könnte der Bürgerkrieg dort noch weitere zehn Jahre dauern, wohl Recht behalten.

2. Oktober 2015


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