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NAHOST/1490: Mini-Putsch in Tripolis - weiterhin Chaos in Libyen (SB)


Mini-Putsch in Tripolis - weiterhin Chaos in Libyen

Die Moslembruderschaft meldet sich mit Waffengewalt zurück


Die jüngsten Hoffnungen auf ein Ende der politischen Instabilität in Libyen erweisen sich als verfrüht. Im September hatte die Libysche Nationalarmee, die dem Befehl des selbsternannten "Feldmarschalls" Khalifa Hifter untersteht und im Auftrag des 2014 ins östliche Tobruk geflohenen Abgeordnetenhauses (House of Representatives - HoR) agiert, die wichtigsten Ölverladehäfen des Landes gewaltsam besetzt, die jahrelange Blockade der dortigen Belegschaft beendet und die Ausfuhr des wichtigsten Exportprodukts Libyens wieder in Gang gebracht. Daraufhin war die mit Hilfe der Vereinten Nationen gegründete Regierung der Nationalen Einheit (Government of National Accord - GNA) in Tripolis auf das HoR zugegangen und hatte die von ihm verlangte Führungsposition für Hifter, etwa als Verteidigungsminister oder Generalstabschef der Streitkräfte, in Aussicht gestellt. Doch nach einem erneuten Putschversuch der Islamisten in Tripolis herrscht wieder das politische Durcheinander.

Nachdem im März die GNA unter der Führung des von der "internationalen Gemeinschaft" anerkannten Premierministers Fayiz Al Sarradsch per Schiff in Tripolis gelandet war, hatte der von der Moslembruderschaft dominierte Allgemeine Volkskongreß (General National Congress - GNC), dessen Anhänger ihre Niederlage bei den Parlamentswahlen 2014 nicht akzeptierten, weswegen damals die meisten der neuen Abgeordneten nach Tobruk geflohen waren, passiv verhalten. Die mit dem GNC verbundenen Milizen sahen kampflos zu, wie Al Sarradsch und seine Leute die wichtigsten Ministerien übernahmen, und warteten erst einmal die weitere Entwicklung ab.

Nach diesem Anfangserfolg wurde die mangelnde Durchsetzungsfähigkeit der GNA sichtbar. Wegen der ungeklärten Zukunft Hifters verweigerte ihr das HoR die Anerkennung. Die Mitte Mai eingeleitete Großoffensive, mit der die GNA ihre Autorität beweisen und die "Terrormiliz" Islamischer Staat (IS) aus ihrer libyschen Hochburg in Sirte vertreiben wollte, die etwa auf halber Strecke zwischen Tripolis im Osten und Tobruk im Westen liegt, läuft immer noch. Bis heute haben die für die GNA kämpfenden Milizionäre aus der westlichen Stadt Misurata das Zentrum von Sirte nicht einnehmen können. Scharfschützen und Selbstmordattentäter machen ihnen weiterhin zu schaffen. Den Angaben der Nachrichtenagentur Agence France Presse vom 15. Oktober zufolge haben die Angreifer im Verlauf der Kämpfe bisher 550 Mann verloren und mehr als 3000 Verletzte zu verzeichnen. Die Anzahl der Verluste seitens des IS ist nicht bekannt.

Vor dem Hintergrund einer wachsenden Unzufriedenheit der allgemeinen Bevölkerung mit der GNA, die bislang keine nennenswerte Verbesserung der Lebensbedingungen herbeiführen konnte, meldet sich nun der GNC zurück. Am 14. Oktober haben bewaffnete Kämpfer, die dem GNC treu geblieben sind, mehrere wichtige Gebäude im Stadtzentrum von Tripolis, darunter auch das Luxushotel Rixos, besetzt. Daraufhin wurde dort demonstrativ eine Sitzung des GNC abgehalten. Danach hat Khalifa Al Ghweil, zuletzt Ministerpräsident des GNC, in einer Erklärung seinen Amtsrivalen in Tobruk, Abdullah Al Thini vom HoR, zur Versöhnung und zur Gründung einer wahren Regierung der nationalen Einheit aufgerufen. Al Ghweil, der wegen der Weigerung zur Zusammenarbeit mit Al Sarradsch auf einer Sanktionsliste der EU und der UNO steht, erklärte die GNA für gescheitert.

Der deutsche UN-Sondergesandte für Libyen, Martin Kobler, hat den gewaltsamen Vorstoß des GNC scharf kritisiert, weil er seines Erachtens nur "weitere Unordnung und Unsicherheit" schaffe. Die nächsten Tage werden zeigen, ob sich der international favorisierte Al Sarradsch gegen Al Ghweil und die Moslembruderschaft durchsetzen kann. Entscheidend dürfte sein, inwieweit die Milizionäre aus Misurata zu Al Sarradsch halten. Bei ihnen macht sich aufgrund anhaltender Verluste bei der sich hinschleppenden Rückeroberung von Sirte eine gewisse Kriegsmüdigkeit gepaart mit einem zunehmenden Zweifel am Durchsetzungsvermögen Al Sarradschs breit. Dies geht zum Beispiel aus dem Bericht "Heavy toll weighs on Misrata after battle for Libya's Sirte", der am 7. Oktober bei der Nachrichtenagentur Reuters erschienen ist, hervor. Jedenfalls ist der Machtkampf in Libyen wieder komplizierter geworden. An einer politischen Aussöhnung zwischen Tobruk und Tripolis ist, solange in der Hauptstadt die Machtverhältnisse nicht geklärt sind, nicht zu denken.

17. Oktober 2016


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