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NAHOST/1560: Iraks Truppen vertreiben die Peschmerga aus Kirkuk (SB)


Iraks Truppen vertreiben die Peschmerga aus Kirkuk

Bagdad verteidigt den Irak gegen die Abspaltungsbewegung der Kurden


Mit der Durchführung einer Volksbefragung über die Unabhängigkeit des irakischen Kurdistans am 25. September hat Massud Barsani, der langjährige Präsident der Kurdischen Autonomieregion Nordiraks und Vorsitzende der Kurdischen Demokratischen Partei (KDP) hoch gepokert - und offenbar verloren. Das irakische Parlament in Bagdad hat die Befragung für illegal erklärt, die Zentralregierung ergreift drakonische Gegenmaßnahmen. Hierzu gehörte zunächst die Verhängung eines Start- und Landeverbots auf den internationalen Flughäfen von Erbil und Sulaimaniyya sowie eine Schließung aller Grenzübergänge nach Norden in die Türkei und nach Osten in den Iran. Schließlich hat Bagdad in den letzten Tagen mit einem gewaltigen Truppenaufmarsch die Stadt Kirkuk samt der umliegenden, strategisch wichtigen Ölfelder ballistischen Hassan und Avana Dome zurückerobert und die kurdischen Peschmerga von dort vertrieben.

Aufmerksame Beobachter der Nahost-Politik wie Pepe Escobar, Kolumnist der Asia Times Online, und Patrick Cockburn, Kriegskorrespondent der britischen Tageszeitung The Independent, hatten bereits vor Wochen Barsanis Festhalten an der geplanten Volksbefragung als einen schweren strategischen Fehler bezeichnet. Die internationalen Reaktionen gaben ihnen recht. Als einziges Land hat Israel die Entscheidung der großen Mehrheit der Stimmberechtigten für die Unabhängigkeit eines irakischen Kurdistans begrüßt. Während sich die USA in Person von Außenminister Rex Tillerson zur Einheit des irakischen Staats bekannten und Erbil zu Verhandlungen mit Bagdad rieten, haben die Türkei und der Iran aus Angst vor einer Aufwiegelung ihrer eigenen kurdischen Minderheiten handfeste Maßnahmen ergriffen. Ankara und Teheran haben die Landesgrenzen zum Nordirak geschlossen. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan hat sogar mit einer Schließung jener Pipeline gedroht, über die Iraks Kurden Öl für den Export an das Mittelmeer pumpen. Bei einem solchen Schritt wäre die kurdische Autonomieregion Nordiraks wirtschaftlich nicht mehr überlebensfähig.

Seit die drei mehrheitlich von Kurden bewohnten Nordprovinzen des Iraks - Erbil, Sulaimaniyya and Dohuk - 2006 im Rahmen der neuen irakischen Verfassung einen Autonomiestatus erhielten, liegt Barsanis KDP mit Bagdad im Streit. Die Kurden verlangten eine Abstimmung über den Status von Kirkuk, wo sie bis zum Iran-Irak-Krieg 1980-1988 und der in diesem Zusammenhang von Saddam Hussein beschlossenen Ansiedlung Zehntausender Araber aus dem Südirak die Bevölkerungsmehrheit stellten, doch die Forderung stieß in Bagdad auf taube Ohren. Folglich haben die kurdischen Peschmerga die Gelegenheit genutzt, als im Juni 2014 die Dschihadisten der "Terrormiliz" Islamischer Staat (IS) aus Syrien kommend in den irakischen Nordwesten eindrangen, Mossul, die zweitgrößte Metropole des Landes, eroberten und die irakische Armee in die Flucht schlugen, um in den Kriegswirren Kirkuk zu besetzen.

Viele nicht-kurdische Iraker haben das damalige Verhalten der Peschmerga als opportunistisch und illoyal empfunden, denn weder haben diese die staatlichen irakischen Streitkräfte in deren Stunde der Not unterstützt, noch haben sie etwas Nennenswertes unternommen, um die Volksgruppe der "heidnischen" Jesiden in der Region um das Sindschar-Gebirge an der Grenze zu Syrien vor den mörderischen Greueltaten der IS-Gotteskrieger zu schützen. Tatsächlich mußten PKK-Kämpfer aus den mehrere hundert Kilometer entfernten Kandil-Bergen an der irakisch-iranischen Grenze kommen, um die fliehenden Jesiden vor der endgültigen Ausrottung durch den IS zu bewahren. Vor diesem Hintergrund zeugt es von später Gerechtigkeit, daß infolge des militärischen Vorgehens der irakischen Streitkräfte gegen die Peschmerga nun eine jesidische Miliz namens Lalesch die Kontrolle über die Sindschar-Region übernommen hat - nach eigenen Angaben ohne Blutvergießen.

Bagdad hatte Barsani mehrere Wochen Zeit gegeben, um das Ultimatum zur Annullierung der Volksbefragung zu erfüllen, ohne daß der KDP-Chef der Aufforderung Folge geleistet hätte. Als dann vor wenigen Tagen die irakische Armee mit Hilfe der 2014 entstandenen, mehrheitlich schiitischen Volksmobilisierungskräfte die letzte IS-Hochburg im Irak, Hawidscha, die nur 57 Kilometer südwestlich von Kirkuk liegt, einnahm, hat Premierminister Haider Al Abadi seinen Durchsetzungswillen unter Beweis gestellt. Was zunächst offiziell als Aufräumaktion gegen versprengte IS-Einheiten nördlich von Hawidscha deklariert worden war, entpuppte sich bei zunehmender Annäherung an Kirkuk rasch als unaufhaltsame Großoffensive. Um dem Durchmarsch zusätzlich zu legitimieren, warf Abadi im letzten Moment, nämlich am 14. Oktober, Barsani vor, PKK-"Terroristen" in Kirkuk und Umgebung Unterschlupf zu gewähren, was letzterer natürlich energisch bestreitet.

Abadi hat die Rückeroberung Kirkuks sorgfältig eingefädelt. Im Vorfeld kam es zu Gesprächen zwischen Vertretern Teherans und führenden Mitgliedern des Talabani-Klans, dessen Patriotische Union Kurdistans (PUK) in Sulaimaniyya traditionell das Sagen hat und seit Jahrzehnten mit den Barsanis um Macht und Einfluß im kurdischen Nordirak konkurriert. Offenbar haben die Iraner, deren Revolutionsgarden die wichtigsten schiitischen Milizen im Irak ausbilden, ausrüsten und im Gefecht beraten, die Talabanis dazu gebracht, daß die Peschmerga-Einheiten mit mehrheitlicher PUK-Besetzung nichts gegen die anrückende irakische Armee und deren Verbündete unternahmen.

Von der PUK in Stich gelassen, blieb den Barsani-treuen KDP-Peschmerga quasi nichts anders übrig, als das Feld zu räumen und Kirkuk dem übermächtigen Gegner zu überlassen. Zu vereinzelten Kämpfen ist es dennoch am Südrand der Stadt gekommen. Eine genaue Anzahl der Toten und Verletzten liegt noch nicht vor. In vereinzelten Berichten ist von der ethnischen Vertreibung kurdischer Zivilisten durch schiitische Milizionäre die Rede. Bei den Tätern soll es sich um Turkmenen handeln, welche die demographische Zusammensetzung der Bevölkerung Kirkuks erneut zu eigenen Gunsten verschieben wollen. Aufschreckt durch das Erleben solcher Überfalle und Brandschatzungen oder der Nachricht davon sind Zehntausende kurdische Familien nun auf der Flucht in Richtung Erbil. Unter ihnen befindet sich Barsanis Vertrauensmann Nadschmaddim Karim, den Bagdad vor wenigen Tagen seines Amtes als Gouverneur von Kirkuk enthoben hatte.

17. September 2017


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