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NAHOST/1617: Ägypten - auf Abwegen ... (SB)


Ägypten - auf Abwegen ...


In jenem anonymen Gastbeitrag, der am 5. September in der New York Times erschienen ist und international Schlagzeilen gemacht hat, warf der Verfasser, angeblich ein Mitglied einer oppositionellen Verschwörergruppe innerhalb der amtierenden US-Regierung, Präsident Donald Trump eine Vorliebe für "Autokraten und Diktatoren" vor, als zeugten die aktuellen Bemühungen des Weißen Hauses um bessere Beziehungen zu Moskau und Pjöngjang von einem Mangel an Verständnis für die heilige Mission Amerikas, Demokratie in der Welt zu verbreiten. Doch die Kritik am vermeintlichen Anti-Demokraten Trump kann man nicht ernst nehmen, sonst hätte der Autor des spektakulären NYT-Artikels Abdel Fatah Al Sisi und nicht Wladimir Putin oder Kim Jong-un genannt. Schließlich ist das, was die Diktatur des Ex-Generals seit fünf Jahren in Ägypten anrichtet, weitaus schlimmer als alles, was in Rußland und Nordkorea geschieht.

Im Sommer 2013 hat das Militär unter der Führung Al Sisis mit brutaler Gewalt Mohammed Mursi, den ersten frei gewählten Präsidenten Ägyptens, gestürzt und dessen Moslembruderschaft verboten. Als es zu tagelangen Massenprotesten gegen den illegalen Staatsstreich kam, brachte die Armee in Kairo mehr als 1000 Menschen auf offener Straße ums Leben. Al Sisi und seine Schergen haben eine Unterdrückungsorgie vom Zaun gebrochen, die bis heute anhält und bei der sich kein Ende abzeichnet. Aktuell sitzen in Ägypten mehr als 60.000 politische Gefangenen hinter Gittern. Als der frühere langjährige Präsident Hosni Mubarak Anfang 2011 infolge des demokratischen Aufbruchs zurücktreten mußte, waren es nur 10.000.

Um die Verhaftungswelle bewältigen zu können, wurden 16 neue Gefängnisse gebaut. Und dennoch gelten die ägyptischen Haftanstalten als hoffnungslos überfüllt. Dort sind auch Folter und Mißhandlungen an der Tagesordnung. Seit dem Militärputsch sind mehr als tausend mutmaßliche oder tatsächliche Regimegegner verschwunden - von den Sicherheitskräften vermutlich umgebracht und in der Wüste verscharrt. Der Staat hat zahlreiche Nicht-Regierungsorganisationen geschlossen, mehr als zwei Dutzend Journalisten verhaftet und 434 Zeitungen und Nachrichtenportale verboten. Jeder Nutzer von sozialen Medien, der über 5000 oder mehr Follower verfügt, steht automatisch im Blick der Internetzensur.

Am 8. September hat der Oberste Gerichtshof Ägyptens das Todesurteil gegen 75 Teilnehmer der Sitzblockaden im August 2013 auf den Kairoer Plätzen Rabaa und Nahda sowie die langen Freiheitsstrafen für 659 weitere damalige Protestierer bestätigt. Zu denjenigen, die zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt wurden, gehört der 75jährige Mohamed Badie, der Vorsitzende der Moslembruderschaft. Ex-Präsident Mursi, der seit 2013 in Gefängnis sitzt, droht ebenfalls zum Tode durch Hinrichtung verurteilt zu werden. Am 12. September hat das Justizministerium in Kairo die Beschlagnahmung sämtlicher Vermögenswerte von 1133 Wohltätigkeitsverbänden und Firmen, die irgendwie in Verbindung mit der im Dezember 2013 verbotenen Muslimbruderschaft standen, sowie von 1589 Mitgliedern der Organisation verfügt. Zu den Einrichtungen, die entweder ihre Tore schließen oder die an andere Instanzen übergeben werden müssen, gehören 118 wirtschaftliche Betriebe, 104 Schulen, 69 Krankenhäuser sowie 33 Webseiten und Fernsehkanäle.

Am 9. September hat die neue Hohe Kommissarin der Vereinten Nationen für Menschenrechte, die ehemalige chilenische Präsidentin Michelle Bachelet, die Bestätigung der Todesurteile beim ägyptischen Massenprozeß als "ungerecht" kritisiert und zudem ein neues Gesetz, das ranghohen Militärs Immunität vor Strafverfolgung gewährt, wegen Verbrechen im Dienst verurteilt. Auch Amnesty International hat den politischen Schauprozeß in Kairo als "eine Schande" bezeichnet. Doch die Kritik seitens der Vereinten Nationen und AI kann Kairo vollkommen egal sein. Schon am 7. September hatte das Außenministerium in Washington bekanntgegeben, Ressortchef Mike Pompeo habe bereits am 21. August die Dokumente zur Freigabe der alljährlichen 1,2 Milliarden Dollar "Militärhilfe" der USA für Ägypten unterzeichnet.

In der Erklärung des State Department hieß es, in Washington mache man sich zwar "ernsthafte Sorgen wegen der Menschenrechtslage" am Nil, "gleichwohl" sei eine "verstärkte Sicherheitskooperation mit Ägypten für die nationale Sicherheit der USA wichtig". Gemeint dürfte eher die "nationale Sicherheit" Israels sein, zu dessen Büttel sich der einst unter Gamal Abdel Nasser bedeutendste arabische Staat seit mehr als vierzig Jahren macht. Die Israelis standen beim Putsch Al Sisis 2013 Pate. Tel Aviv paßte die von Mursi verfügte Beendigung der Teilnahme Ägyptens an der Abriegelung des Gazastreifens ebensowenig wie die von ihm verfolgte Wiederaufnahme diplomatischer Beziehungen des mehrheitlich sunnitischen Ägyptens zum schiitischen Iran. Dieser Tage macht sich das Al-Sisi-Regime wieder nützlich, indem es bei geheimen Friedensverhandlungen mit der Hamas-Bewegung in Gaza Stadt die Vermittlerrolle spielt.

Als die Generäle Mursi stürzten, taten sie dies mit dem Versprechen, das politische Durcheinander der kurzen demokratischen Periode zu beenden und die Wirtschaft Ägyptens wiederanzukurbeln. Außer dem Bau einer zweiten Fahrrinne für den Suezkanal ist vom Versprechen wenig übrig geblieben. Der Abbau staatlicher Subventionen für Grundnahrungsmittel und Energie hat viele in die Armut gestürzt. Geschätzte 35 Prozent der fast 100 Millionen Ägypter leben unterhalb der Armutsgrenze. Die Jugendarbeitslosigkeit liegt offiziell bei 25 Prozent. Nicht nur die zu weiten Teilen vom Militär kontrollierte Wirtschaft, sondern auch die Gesellschaft Ägyptens stagniert, wie der plötzliche Tod eines englischen Ehepaars aufgrund einer E.-coli-Vergiftung in einem Luxus-Hotel in Hurghada am Roten Meer zeigt. Der trauriger Vorfall und die vorübergehende Notevakuierung von mehr als 300 Touristen aus der unhygenischen Anlage hat das Ansehen Ägyptens als sicheres Urlaubsziel schwer beschädigt.

Auf der Sinai-Halbinsel tobt weiterhin der Kampf zwischen der Terrormiliz Islamischer Staat (IS) und den staatlichen Streitkräften. Vor dem Hintergrund der wirtschaftlichen Misere, der staatlichen Repression gegen jede politische Regung, die sich in Richtung Reform bewegt, sowie der Perspektivlosigkeit bei der Jugend warnen bereits Experten vor einer Gewaltexplosion. In einem aufschlußreichen, am 15. August bei Middle East Eye erschienenen Analyse der aktuellen Lage in Ägypten meinte Dalia Fahmy, außerordentliche Professorin für Politikwissenschaft an der Long Island University in New York, "fünf Jahre nach Rabaa" [gemeint ist das Massaker dort - Anm. d. SB-Red.] löse "Generation Gewalt Generation Protest" ab; in Ägypten lasse das Militär der Jugend praktisch keine andere Wahl, als zum Mittel des bewaffneten Kampfs zu greifen.

12. September 2018


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