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NAHOST/1620: Syrien - Zwickmühle ... (SB)


Syrien - Zwickmühle ...


Heute empfing im Badeort Sotschi am Schwarzen Meer Rußlands Präsident Wladimir Putin den türkischen Amtskollegen Recep Tayyip Erdogan. Hauptthema des Treffens war die Lage in der nordwestsyrischen Provinz Idlib. Die Syrische Arabische Armee (SAA) will mit russischer und iranischer Hilfe diese letzte Rebellenhochburg zurückerobern, den Bürgerkrieg, der 2011 ausgebrochen ist und bislang mehr als 350.000 Menschen das Leben gekostet hat, beenden und den Weg für den Wiederaufbau freimachen. Die Türkei lehnt eine großangelegte Militäroffensive unter Verweis auf die Gefahr für die drei Millionen Zivilisten in Idlib - die Hälfte von ihnen Binnenflüchtlinge - ab. Ankaras humanitäre Sorgen sind jedoch vorgeschoben. Erdogan geht es darum, daß er aus dem Syrienkrieg als einer der Sieger hervorgeht und die Türkei ihren Einfluß in der Region festigt.

Kaum ein Land, weder die USA, Israel oder Jordanien noch Saudi-Arabien, hat mehr unternommen als die Türkei, um das "Regime" Baschar Al Assads zu stürzen. Doch der große Einsatz - die Aufnahme von Millionen Flüchtlingen, die Verwandlung der südlichen Türkei in ein Rückzugsgebiet für die Aufständischen sowie die umfangreiche Waffenhilfe für sie - hat wenig genutzt. Mit dem Eintritt Rußlands in den Krieg 2015 wendete sich für die bedrängte Zentralregierung in Damaskus und die SAA das Blatt. Seitdem wird ein Rebellengebiet - Ostaleppo, Ostghouta, Quneitra, Palmyra, Deraa et cetera - nach dem anderen befreit. Dies hat zur Folge, daß viele Rebellen mit ihren Familien nach Idlib geflohen sind, weshalb im Juni 2017 Brett McGurk, der US-Vertreter bei der Koalition zur Bekämpfung der "Terrormiliz" Islamischer Staat, die Provinz als "größten Rückzugsort Al Kaidas seit 9/11" bezeichnet hat.

Im Vorfeld der sich abzeichnenden Ausrichtung der SAA sowie ihrer iranischen und russischen Verbündeten auf Idlib hat die Türkei bereits im Mai elf nominell "gemäßigte" Rebellenformationen zur Gründung der Nationalen Befreiungsfront (National Liberation Front - NLF) bewegen können. Diese besteht nun aus mehreren zehntausend Mann. Außen vor bleibt die Al-Kaida-Ablegerin Hayat Tahrir al-Sham (HTS), die einst Al-Nusra-Front hieß und ebenfalls über zehn- bis zwanzigtausend Kämpfer verfügt. Seit Monaten wird die ankara-treue NLF in Idlib von der türkischen Armee mit Waffen, Munition, Proviant und Medikamenten aufgepäppelt mit dem Ziel, sie demnächst gegen die HTS einzusetzen, um die uneinsichtigen Gotteskrieger ausradieren zu können. Noch Anfang September haben wegen der bevorstehenden Abrechnung zwei HTS-nahe, radikale Gruppen, Nour Al Din al-Zenki und Ahrar al-Sham, die Seiten gewechselt und sich der NLF angeschlossen.

Doch beim Dreiergipfel mit Putin und dem iranischen Präsidenten Hassan Rohani am 7. September in Teheran ist Erdogan mit seinem eigenen Befriedungsplan für Idlib nicht durchgekommen. Zwar haben Putin und Rohani die von Ankara betriebene Spaltung der Rebellen gelobt, sich jedoch auf die Befreiung der Provinz von der HTS durch die SAA sowie auf die Wiederherstellung der syrischen Souveränität dort beharrt. Das einzige Entgegenkommen war das Versprechen, keine iranische Offiziere oder Infanteristen der schiitisch-libanesischen Hisb-Allah-Miliz an der Bodenoffensive teilnehmen zu lassen. Das dürfte für Erdogan zu wenig gewesen sein.

Berichten zufolge hat deshalb die türkische Armee in den vergangenen Tagen mit Panzern und anderem schweren Gerät wie Raketenwerfern die zwölf Posten verstärkt, die sie zur Beobachtung und Einhaltung des aktuellen Waffenstillstands in Idlib unterhält. Darüber hinaus ist von der Lieferung von 5000 Armeeuniformen die Rede, was den Schluß naheliegt, daß ein Teil der Rebellen bzw. der NLF zu regulären Soldaten Ankaras "umdeklariert" werden soll. Am 15. September berichtete die Onlinezeitung Middle East Eye, die Türkei hätte zudem in den östlich von Idlib liegenden Regionen Afrin und Nordaleppo rund 50.000 Kämpfer der Freien Syrischen Armee (FSA) für einen eventuellen Kampfeinsatz in Stellung gebracht.

Erdogan pokert hoch. Doch dazu hat er keine andere Wahl, denn er steckt in der Zwickmühle. Seit dem gescheiterten Putschversuch der CIA in der Türkei 2016 sind die Beziehungen zwischen Washington und Ankara auf den tiefsten Punkt seit 1945 gefallen. Die Türken beharren auf den Kauf des russischen Luftabwehrsystems S-400, weswegen US-Präsident Donald Trump praktisch einen Wirtschaftskrieg gegen Ankara vom Zaun gebrochen und mit unfreundlichen Twitter-Meldungen für einen Absturz der türkischen Lira gesorgt hat. Wie einst beim Putsch, als ein freundlicher Telefonanruf aus Moskau Erdogan gerade noch rechtzeitig vor der Verhaftung bzw. Ermordung gerettet hat, ist die Türkei in der Syrien-Krise erneut auf die Hilfe Rußlands angewiesen. Gleichzeitig kann es sich Erdogan innenpolitisch nicht leisten, Putin das Feld einfach zu überlassen. Ankara schwebt so etwas wie eine eigene Einflußsphäre im Norden Syriens vor. Die Frage ist lediglich, ob Erdogan dieses Minimalziel erreichen kann.

Man darf nicht vergessen, daß die Türkei und die USA in Syrien in der kurdischen Frage völlig uneins sind. Ankara hat es extrem verärgert, wie das Pentagon 2015 den jahrelangen Einsatz der Türkei bei der Destabilisierung Syriens ignorierte und östlich des Euphrats die kurdische Rebellengruppe YPG, eine Schwesterorganisation der PKK Abdullah Öcalans, zu seinem Hauptverbündeten im Kampf gegen IS machte. Bis heute fordert Ankara Washington immer wieder zur Aufkündigung seiner Allianz mit der YPG, welche das größte Kontingent bei den sogenannten Syrischen Demokratischen Kräften (Syrian Democratic Forces - SDF) stellt, auf - vergeblich. Folglich versucht Erdogan, so gut er kann zwischen den USA und Rußland, den beiden Hauptakteuren im Syrienkrieg, zu manövrieren, ohne mit einem der beiden in einen offenen militärischen Konflikt zu geraten. Dies erklärt die Kompromißlinie, auf die sich Putin und Erdogan in Sotschi jüngsten Meldungen zufolge geeinigt haben. Für Idlib herrscht bis auf weiteres eine von den türkischen Truppen kontrollierte "demilitarisierte Zone" zwischen Rebellen und SAA. Wie lange diese Notlösung hält, muß sich noch zeigen.

17. September 2018


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