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NAHOST/1631: Jemen - erbarmungslos... (SB)


Jemen - erbarmungslos ...


Bei den Regierungen der USA, Kanadas, Großbritanniens, Frankreichs, Deutschlands und Spaniens hat der bestialische Foltermord des im Exil lebenden Journalisten Jamal Khashoggi durch eine Killertruppe von Kronprinz Mohammed Bin Salman am 2. Oktober im saudischen Konsulat von Istanbul (Türkei) großes öffentliches Nachdenken ausgelöst, ob vielleicht eine Neubewertung der Beziehungen zu Saudi-Arabien moralisch geboten sei. Schließlich gehören die genannten Länder der "Wertegemeinschaft" NATO an, die sich als Garant des westlichen Fortschrittsglaubens versteht. In den zahlreichen Empörungsbekundungen westlicher Politiker über das Ableben Khashoggis tritt eine kaum zu überbietende Heuchelei zutage, sind es doch dieselben Staaten, die zu den wichtigsten Waffenlieferanten Saudi-Arabiens gehören und deren Rüstungsunternehmen sich am Völkermord, den Riad seit 2015 zusammen mit Abu Dhabi, Hauptstadt der Vereinigten Arabischen Emirate, im Jemen betreibt, eine goldene Nase verdienen. Die USA und Großbritannien machen sich im Jemen des Kriegsverbrechens in besondere Weise schuldig, denn ohne die direkte Hilfe amerikanischer und britischer Techniker und Verbindungsoffiziere in den Bereichen Logistik, Wartung und Luftbetankung könnten die Kampfjets der Saudis und Emirater ihre Einsätze im Jemen vermutlich gar nicht fliegen, und wenn ja, dann im weit begrenzteren Ausmaß.

Die aktuelle Situation in Jemen als katastrophal zu bezeichnen, wäre untertrieben. Der Flüchtlingsrat Norwegens warnt bereits vor einer Hungersnot "biblischen Ausmaßes". Diese Hungersnot haben die Saudis und die Emirater gezielt herbeigeführt, und zwar durch eine dreijährige Hafenblockade sowie absichtliche Luftangriffe auf Lebensmittelkonvois, landwirtschaftliche Betriebe, Marktplätze, Wasseraufbereitungsanlagen, Hochzeitsfeiern, Krankenhäuser sowie andere Teile der kritischen Infrastruktur. Mit dieser Taktik wollen Riad und Abu Dhabi die schiitischen Huthis, die 2014 den Interimspräsidenten Abd Rabbu Mansur Hadi gestürzt haben und bis heute den Nordwesten des Jemen einschließlich der Hauptstadt Sanaa kontrollieren, in die Knie zwingen. Seit dem Sommer versuchen die Interventionstruppen die Hafenstadt Hudeida, den letzten Zugang der Huthis zur Außenwelt am Roten Meer, zu erobern - bislang vergeblich. Dort wird nach wie vor heftig gekämpft.

In Hudeida und Umgebung begehen saudische und emiratische Truppen regelmäßig schwere Kriegsverbrechen. Am 15. Oktober haben sie eine Gruppe Zivilisten, die mit zwei Bussen vor den Kämpfen in Hudeida zu fliehen versuchten, bombardiert, 17 Menschen, darunter Frauen und Kinder, getötet und weitere 20 schwer verletzt. Am 24. Oktober war ein Gemüsemarkt in der Kleinstadt Bait Al Fakih, die 70 Kilometer südlich von Hudeida im gleichnamigen Gouvernement liegt, Ziel eines Raketenangriffs. Dort wurden 21 Menschen getötet und zehn weitere verletzt. Wie üblich in solchen Fällen hat die Leitung der Koalitionsstreitmacht eine Untersuchung des Geschehens versprochen. In einer Meldung, die am 24. Oktober auf der Website der Zeitschrift American Conservative erschienen ist, stellte der außenpolitische Experte Daniel Larison mit Bestürzung fest:

Angriffe, wie dieser, auf Lebensmittelmärkte, sind Teil der systematischen Kampagne der Koalitionäre, die Nahrungsmittelproduktion und -verteilung im Jemen zu zerstören. ... Es gibt keine mögliche Rechtfertigung dafür, Zivilisten gezielt anzugreifen, während sie versuchen, Lebensmittel auf dem Markt zu bekommen.

Deutliche Worte hatte bereits am 23. Oktober beim Auftritt vor der UN-Sicherheitsrat in New York Mark Lowcock, der für die Vereinten Nationen zuständige Koordinator aller humanitären Hilfsbemühungen im Jemen. Laut Lowcock sind von den 28 Millionen Jemeniten 22,2 Millionen "auf humanitäre Hilfe in irgendeiner Form angewiesen". 17,8 Millionen Menschen leiden unter Nahrungsmangel - 8,4 Millionen von ihnen akut. 16 Millionen Menschen haben keinen Zugang mehr zu sauberem Trinkwasser. 16,4 Millionen Menschen werden nicht mehr adäquat medizinisch versorgt. Lowcock erklärte, es bestehe die "dringende Gefahr", daß der Jemen demnächst von einer der größten Hungersnöte "seit Menschengedenken" heimgesucht werde.

Lowcock führte die Zuspitzung der Lage auf die Kämpfe um Hudeida zurück, die Einfuhr und Verteilung von Lebensmitteln und Medikamenten extrem erschwert sowie zu einem weiteren "Zusammenbruch des wirtschaftlichen Lebens" im Jemen geführt hätten. Er machte darauf aufmerksam, daß wegen der Belagerung von Hudeida der Zugang zu einer Lagerhalle am Hafen blockiert sei, in der sich genug gemaltes Getreide, um 3,7 Millionen Menschen für einen Monat zu ernähren, befindet. Lowcock rief die Kriegsparteien zu einer Feuerpause auf, um die unterbrochenen humanitären Hilfslieferungen wieder aufnehmen zu können und verwies auf die "vielen Leben, die auf dem Spiel stehen".

Die Ermahnungen Lowcocks dürften in Riad und Abu Dhabi auf taube Ohren stoßen, versuchen doch die Saudis und die Emirater gerade mit der Hungerkeule die Huthis doch noch zur Aufgabe zu zwingen. Vergeblich hatte Jamal Khashoggi in seiner letzten Kolumne für die Washington Post im September seine Landsleute zur Vernunft zu bringen versucht. Die Überschrift des Gastbeitrags lautete übersetzt: "Saudi-Arabiens Kronprinz muß die Würde seines Landes wiederherstellen - indem er den grausamen Krieg im Jemen beendet." Die blutrünstige Antwort des saudischen Kronprinzen und De-Facto-Regierungschefs auf den ungebetenen Rat seines prominenten Kritikers läßt ein Erbarmen Riads in Sachen Jemen extrem unwahrscheinlich erscheinen.

26. Oktober 2018


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