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SOZIALES/2086: Klagen gegen Hartz-IV-Bescheide auf Höchststand (SB)


Präsident des Bundessozialgerichts fordert umfassende
Arbeitsmarktreform

Empfänger von Alg-II werden genötigt, ihre Rechte einzuklagen


Die Bezieher von Arbeitslosengeld II (Alg-II) müssen nicht nur mit ihrer gesellschaftlichen Stigmatisierung als "Hartzer" leben und nicht nur entwürdigende Schikanen und Gängelungen seitens der Arbeitsagenturen und Sozialämter hinnehmen, sondern auch erbittert um ihre Rechte kämpfen. Mögen diese auch noch so beschnitten sein, selbst die wenigen Zugeständnisse werden den Alg-II-Empfängern nicht freiwillig erfüllt. Das wird an den vielen Klagen gegen Hartz-IV-Bescheide deutlich, die im vergangenen Jahr mit 174.618 einen neuen Höchststand erreichten - ein Anstieg um 28 Prozent gegenüber dem Vorjahr.

Aus der Sicht des Präsidenten des Bundessozialgerichts (BSG), Peter Masuch, besteht die katastrophale Lage anscheinend nicht in der Hartz-IV-Gesetzgebung an sich, sondern in der Ausführung seitens der Bundesregierung. Die Arbeitsmarktreform müsse nachgebessert werden, verlangte er Medienberichten vom Donnerstag zufolge. Ihm schwebt auch schon vor, was die Regierung unternehmen sollte. Sie möge die Erkenntnisse aus nahezu 100 höchstrichterlichen Urteilen in die Praxis übertragen. "Insbesondere die Anrechnung von Einkommen und Vermögen sowie die Kostenübernahme für Unterkunft und Heizung scheinen mir noch klarstellungsbedürftig", zitiert handelsblatt.com (23.1.2009) den BSG-Präsidenten.

Seine Stellvertreterin, Ruth Wetzel-Steinwedel, machte auf eine Entwicklung aufmerksam, die Alg-II-Empfänger regelmäßig bitter zu spüren bekommen: Die Urteile der Sozialgerichte werden oftmals schlicht und ergreifend ignoriert. "Ein Teil unserer Entscheidungen kommt oft gar nicht dort an, wo er ankommen soll", so Wetzel-Steinwedel.

Daß ein erheblicher Teil der Klagen von den Sozialgerichten mindestens partiell anerkannt wird, je nach Region zwischen 30 und 50 Prozent, macht deutlich, daß es hier nicht um Fälle von Raffgier seitens der Kläger geht, sondern um einen systemischen Mißstand. Daran läßt sich das Grundverhältnis zwischen Staat und Bürger ablesen: Wer ein Leben lang gearbeitet hat, dann aber arbeitslos wurde und auf staatliche Unterstützung angewiesen ist, wird quasi mit den Füßen getreten. Ihm wird zu verstehen gegeben, daß er nichts wert ist, daß er parasitär lebt und dankbar sein muß, wenn ihm irgendeine Unterstützung zuteil wird.

Die von Masuch kritisierte hohe Zahl an Klagen gegen Hartz-IV-Bescheide vor Sozialgerichten ist vordergründig ein Armutszeugnis der Politik, die komplizierte Gesetze mit uneindeutigen Formulierungen und interpretierbaren Paragraphen erlassen hat. Dahinter steckt jedoch ein grundlegender Trend, einerseits umfassende staatliche Verfügungsstrukturen, zu denen Hartz-IV gerechnet werden kann, zu schaffen, in denen Menschen drangsaliert und zunehmend entmündigt werden, andererseits die mit der Verwaltung einhergehenden Unwuchten auf die Opfer dieser Politik abzuwälzen.

Das Hartz-System stellt einen Testlauf dar. Es handelt sich um eine Vorstufe zur künftigen Totalverwaltung großer Menschenmassen, die sich längst nicht nur aus dem überschüssigen Industrieproletariat zusammensetzen. In den bevorstehenden Zeiten globaler Ressourcenverknappung und des Klimawandels werden ordnungspolitische Zwangsstrukturen wie beispielsweise Arbeitslager etabliert. Dafür gibt es Vorbilder. So haben EU-Politiker vorgeschlagen, die in Nordafrika eingerichteten Lager für Flüchtlinge aus Afrika als Pool für nützliche Arbeitskräfte, die zum Beispiel vorübergehend bei der Ernte aushelfen könnten, zu nutzen. Das ist nur der Anfang. Der Trend, größere Mengen an Menschen auf diese Weise unter Kontrolle zu halten, zeigt sich global, wenngleich die Nationalstaaten weiterhin als administrative Bezugsgröße bestehen bleiben.

Die Möglichkeit, den Rechtsweg zu beschreiten, und das juristische Hickhack, dem sich die Kläger gegen Hartz-IV-Bescheide ausgesetzt sehen und das zu den vielen Faktoren gehört, durch die ihr Leben eingeschränkt und zunehmend auf das unmittelbare Überleben reduziert wird, dürfte sich in einigen Jahren rückblickend noch als Ausdruck letzter rechtlicher Möglichkeiten, Einfluß auf das eigene Schicksal zu nehmen, darstellen. Eine Arbeitsmarktreform, wie sie der BSG-Präsident fordert, käme den überarbeiteten Sozialgerichten zugute, nicht aber den Leistungsgebern der Gesellschaft, die in eindeutiger Absicht der Schuldzuweisung als Leistungsbezieher diffamiert werden. Das Hartz-IV-System gehört nicht reformiert, sondern abgeschafft.

23. Januar 2009