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USA/1331: Hungerstreik in Guantánamo Bay - Erste Tote befürchtet (SB)


Hungerstreik in Guantánamo Bay - Erste Tote befürchtet

Mit Zwangsernährung will das Pentagon die PR-Blamage durchstehen



In Guantánamo Bay spitzt sich die Lage dramatisch zu. Anfang Februar hat in dem Sonderinternierungslager auf dem Gelände des gleichnamigen US-Marinestützpunktes ein Hungerstreik begonnen, an dem inzwischen mehr als 100 der 166 Insassen der sogenannten Camps 5 und 6 teilnehmen (In diesen Zahlen sind die 16 mutmaßlich Beteiligten an den Flugzeuganschlägen vom 11. September 2001, denen im Hochsicherheitstrakt Camp 7 vor einem Militärtribunal der Prozeß gemacht wird, nicht inbegriffen). Die Hungerstreikenden, die zum Teil mehr als 11 Jahre hinter Gittern sitzen, protestieren dagegen, daß man sie nicht freiläßt, obwohl in vielen Fällen ihre Unschuld längst feststeht. Nach Angaben ihrer Anwälte wollen sie lieber sterben, als ihr Schicksal in Guantánamo weiter zu erleiden bzw. sich damit abzufinden. Mit der mutigen wie zugleich verzweifelten Aktion haben die Häftlinge immerhin eines erreicht, nämlich dem erklärten demokratischen Rechtsstaat USA samt der Regierung um Präsident Barack Obama ein schweres PR-Problem beschert.

Hätten die Republikaner 2009 im Kongreß nicht eine hysterisch-chauvinistische Kampagne gegen Obamas Plan, in seinem ersten Amtsjahr als Präsident Guantánamo zu schließen, die Unschuldigen freizulassen und die noch unter "Terrorismusverdacht" Stehenden in ein neues Gefängnis in Chicago, Illinois, zu verlegen, gestartet, stünde Washington heute nicht vor dieser peinlichen Situation. Aus angeblicher Sorge um die nationale Sicherheit hat die republikanische Opposition damals ein Gesetz durch das Repräsentantenhaus und den Senat gebracht, das die Unterbringung der mutmaßlichen "islamistischen Extremisten" auf dem amerikanischen Festland untersagte. Dennoch hat die von Obama ins Leben gerufene Guantánamo Review Task Force 2010 die Freilassung von mehr als der Hälfte der Häftlinge - 126 von damals 240 - empfohlen, weil gegen sie kein erkennbarer Haftgrund vorlag. Von den heute 166 Insassen in den Camps 5 und 6 gelten 86 als unbescholtene Bürger islamischer Staaten wie Afghanistan, Pakistan und Jemen.

Auslöser des Hungerstreiks war die Enttäuschung der Guantánamo-Häftlinge darüber, daß Obama die Gelegenheit zu Beginn seiner zweiten Amtszeit im Januar nicht nutzte, um sie in ihre Heimatländer zu entlassen. Entgegen ihren Erwartungen hat der US-Präsident sie weder in seiner Antrittsansprache noch in seiner wenige Tage später vor beiden Kongreßhäusern gehaltenen Rede zur Lage der Nation mit einem Wort erwähnt. Hinzu kam, daß Anfang 2013 das Amt, das mit der Schließung des Sondergefängnisses in Guantánamo beauftragt war, aufgelöst wurde, während das Pentagon dort umfangreiche Renovierungsmaßnahmen im Wert von 150 Millionen Dollar ankündigte. All das hat das Faß zum Überlaufen gebracht und den Gefängnisinsassen keinen anderen Ausweg gelassen, als denjenigen, den sie nun seit drei Monaten beschreiten.

Hatte Thomas Wilmer, ein Anwalt mehrerer Guantánamo-Häftlinge, in einem am 28. März in der Washington Post erschienenen Gastkommentar den Hungerstreik als einen "Hilfeschrei" bezeichnet, so stellen sich die Verantwortlichen im Pentagon und Weißen Haus demgegenüber bisher taub. Vermutlich aus Angst, von republikanischen Populisten als nachgiebig gegenüber dem "islamistischen Terror" angeprangert zu werden, lassen es Obama und sein neuer Verteidigungsminister Chuck Hagel auf eine Eskalation ankommen (Der Bombenanschlag am 15. April auf den Bostoner Marathon, für den zwei junge muslimische Einwanderer aus Tschetschenien verantwortlich gemacht werden, dürfte den ohnehin geringen politischen Spielraum der Obama-Regierung in der Guantánamo-Frage zusätzlich eingeschränkt haben).

Und so nimmt das Unheil seinen Lauf. Wegen der sich zuspitzenden Krise hat die US-Marine am Wochenende des 27. und 28. April 40 zusätzliche Ärzte und Krankenschwestern nach Guantánamo Bay entsandt. Dort werden inzwischen 21 Gefangene aufgrund ihres drastischen Gewichtsverlusts zwangsernährt. An Betten gefesselt wird ihnen über Plastikschläuche, die durch die Nasenhöhle in den Magen geführt werden, Flüssignahrung verabreicht. Fünf Gefangene mußten inzwischen ins Krankenhaus eingeliefert werden. Ihr Zustand wird aber als stabil bezeichnet.

Bereits am 25. April hatte Dr. Jeremy Lazarus, Vorsitzender der American Medical Association, in einem offenen Brief an Verteidigungsminister Hagel den Standpunkt des US-Ärzteverbandes wiederholt erläutert, wonach es gegen die medizinische Ethik verstößt, geistig zurechnungsfähige Erwachsene, die Lebensmittel verweigern, gegen ihren Willen zwangszuernähren. In einer Meldung der Nachrichtenagentur Reuters vom 29. April hat Pentagonsprecher Oberstleutnant Todd Breasseale den Hungerstreik in Guantánamo als Ergebnis einer unzulässigen Gruppendynamik unter den Gefangenen, die zu unterbinden man absolut entschlossen sei, zu erklären versucht. "Wir werden nicht zulassen, daß die Internierten sich Schaden zufügen - das schließt Selbstmordversuche, darunter auch das Hungern bis in den Tod, sei es aus eigenem Antrieb oder als Resultat von Gruppendruck, mit ein", so Breasseale.

Bisher haben sich seit 2002 in Guantánamo Bay zehn Häftlinge das Leben genommen - mehr als von einem Militärtribunal bisher schuldig gesprochen wurden. Der letzte Selbstmord ereignete sich im September vergangenen Jahres, als der 1975 geborene Jemenit Adnan Latif nach 10 Jahren, 7 Monaten und 25 Tagen sich im dortigen Gefängnis selbst tötete. Wenn sich die Obama-Regierung nicht endlich zu einer humanitären Lösung des Problems Guantánamo durchringt, werden bald weitere Mithäftlinge Latif ins Jenseits folgen.

30. April 2013