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BERICHT/061: Eurokrake Sicherheit - Exekutive Vernetzung, atomisierte Bevölkerungen (SB)


EU-Polizei-Datenbanken und eine Kampagne: "Wider die DNA-Sammelwut"

Workshop auf dem entsichern-Kongreß in Berlin am 30. Januar 2011

Atomium in Brüssel - © 2011 by Schattenblick

Technische Netzwerke als innovative Herrschaftsstruktur
© 2011 by Schattenblick



Zu den gravierendsten Konsequenzen einer supranationalen Administration auf Ebene der Europäischen Union gehört der Ausbau polizeilicher Zusammenarbeit, der die repressiven Werkzeuge schärft und die Kontrollmechanismen vervollkommnet. Gemeinsamen Interessen der Mitgliedsländer wie insbesondere der Abschottung gegen MigrantInnen stehen partiell und befristet Widersprüche zwischen den Mitgliedsstaaten gegenüber, die aus deren höchst unterschiedlichen Einflußmöglichkeiten resultieren. Führende EU-Staaten wie insbesondere die Bundesrepublik drängen auf umfassende Zugriffsoptionen, denen schwächere Staaten aus rechtlichen und politischen Gründen, nicht zuletzt aber der durchaus begründeten Furcht, eigenständiger Handlungsmöglichkeiten beraubt zu werden, mit Skepsis begegnen. Diese spezifisch europäische Situation hat entsprechende administrative Strukturen hervorgebracht und insbesondere beträchtliche Verzögerungen bei der Umsetzung längst gefaßter Beschlüsse zur Folge. Hinzu kommen neben der Schwergängigkeit bei der Verzahnung diverser Behörden auch enorme technische Probleme im Bereich der Datenverarbeitung, die ihre Bremswirkung entfalteten.

Beklagenswerterweise stand vor allem diese immanente Problematik auf dem Weg zur angestrebten europäischen Überwachungsgesellschaft und nicht so sehr manifester Widerstand gegen deren Durchsetzung einer fristgerechten Abfolge der konzipierten Etappen im Wege. Die Prozesse auf Ebene der EU-Administration weisen ein so hohes Maß an Abstraktion und Unüberschaubarkeit auf, daß sie sich der Kontrolle parlamentarischer Instanzen zu entziehen drohen und in der Bevölkerung kaum noch wahrgenommen werden. Dies dürfte maßgeblich dazu beigetragen haben, daß Aufklärung, Kritik und Gegenmaßnahmen bislang so dünn gesät waren. Überprüft man die größtenteils schon vor Jahren gefaßten Beschlüsse und Entwürfe zur polizeilichen Zusammenarbeit auf ihren aktuellen Realisierungsgrad wie ihre künftige Dynamik, zeichnet sich ein verheerendes Bild bereits vollendeter Tatsachen und noch gravierenderer Folgeschritte ab.

Dabei hat man gerade aus deutscher Sicht allen Grund, diese dampfwalzenartige Wucht aus der Spur zu bringen, ist doch die Vorreiterschaft Deutschlands bei der europäischen Polizeibehörde besonders prägnant. Wirbt man hierzulande gern mit dem Bundeskriminalamt (BKA) und dessen Leistungen, so wurde EUROPOL in wesentlichen Aspekten nach dessen Vorbild strukturiert. Deutschland hatte bereits 1991 im Europäischen Rat den Vorschlag eingebracht, eine Europäische Kriminalpolizeiliche Zentralstelle zu errichten. Im folgenden Jahr wurde im Vertrag von Maastricht die Schaffung eines europäischen Polizeiamts festgeschrieben, das jedoch erst 1999 voll arbeitsfähig war. Nachdem sich die Mitgliedstaaten einig waren, daß als rechtliche Grundlage für EUROPOL nur ein völkerrechtlich bindender Vertrag in Frage komme, legte Deutschland im Juli 1994 einen Entwurf als Verhandlungsbasis vor. Etwa ein Jahr darauf wurde das Übereinkommen von den EU-Mitgliedstaaten unterzeichnet. Nach weiteren Verzögerungen konnte schließlich am 1. Juli 1999 EUROPOL seine Aktivitäten in vollem Umfang aufnehmen. Naheliegenderweise war der deutsche Jurist Jürgen Storbeck erster amtierender Direktor. 2005 wurde der ehemalige BKA-Abteilungspräsident Max-Peter Ratzel neuer Direktor von EUROPOL, bis ihn im April 2009 Rob Wainwright ablöste. Wenngleich der Wunschtraum des früheren Bundeskanzlers Helmut Kohl, aus der Polizeibehörde ein europäisches FBI mit umfassenden exekutiven Kompetenzen zu machen, nicht realisiert wurde, unterstreicht auch diese Absicht, was deutschen Regierungen und Politikern in Sachen Ausbildung europaweiter Exekutivgewalt vorschwebt.


Schrankenloser Datenaustausch gegen informationelle Selbstbestimmung

Im ersten Teil des Workshops stellte Markus Murmelstein die Datenbanken im Polizeibereich bis hin zu den Analysedateien von EUROPOL vor, um einen Überblick über die Architektur der einschlägigen Datenverarbeitung auf EU-Ebene zu geben. Wir er darlegte, entwickelt sich die EU auf systematische Weise zu einer übergeordneten Entscheidungsinstanz, deren Ziel spätestens seit dem Stockholm- Prozeß die Überwachungsgesellschaft ist. Tampere (2000) markierte den Beginn des ersten Fünf-Jahres-Plans, der sich insbesondere auf die gemeinsame Abwehr von Asylbewerbern konzentrierte. Hinzu kam bald der Wunsch, in anderen Mitgliedsländern Verhaftungen und andere Polizeiaktionen vornehmen zu lassen. Derzeit gehen die Bestrebungen dahin, eine European Police Order durchzusetzen, die gewissermaßen polizeiliche Aktionen auf Bestellung wie Hausdurchsuchungen, Beschlagnahmen und vieles mehr möglich machen soll. Noch existiert dieses polizeitaktische Äquivalent zum Europäischen Haftbefehl nicht, doch zeigt es die Stoßrichtung der Bestrebungen. Wenngleich sich die Fünf-Jahres-Pläne dadurch auszeichnen, das viel festgeschrieben, aber der Plan zumindest im zeitlichen Rahmen auf Grund politischer, technischer und adminstrativer Hindernisse in den Mitgliedsstaaten nicht erfüllt wird, sollte ihr Inhalt doch geeignet sein, selbst überzeugten Demokraten in eher bürgerlichen Kreisen die Augen zu öffnen, so der Referent.

Das sogenannte Prinzip der Verfügbarkeit im Haager Programm war der Idee gewidmet, die Zusammenarbeit auf Polizeiebene durch den Abtausch von Daten voranzutreiben. Hinzu kommen weitere innovative Schritte im Stockholm-Programm, das unter dem Leitmotiv "Fokus auf die Bürger" so ungewollt wie unverhohlen klarstellt, wer sich im Visier der Staatsagenturen befinden soll. Unter dem Stichwort "Observatorium zur Kriminalprävention" entfaltet sich ein ganzer Komplex miteinander verflochtener Kontrollinstanzen, die allerdings auf Grund nationalstaatlicher Differenzen unter Umständen einander widersprechende Interessen verfolgen können. Wenn im Stockholm-Programm das gegenseitige Vertrauen und die Zusammenarbeit ausdrücklich festgeschrieben wird, so ist das nicht zuletzt Ausdruck eines nach wie vor existierenden Mißtrauens.

Die europäischen Datenbanksysteme sind in einer zentralistischen Struktur vernetzt. Wie sich am Beispiel des Schengener Informationssystems (SIS) darstellen läßt, kommunizieren die nationalen Systeme dabei nicht direkt miteinander, sondern stets über das zentrale C-SIS, das in Straßburg angesiedelt ist. Zwischengeschaltet ist eine Institution namens SIRENE, welche die Kompatibilität der jeweiligen Maßnahmen vor deren Übernahme in den Mitgliedsstaaten prüft. Nationale Polizei-, Zoll- und Steuerbehörden greifen jedoch nicht auf das zentrale C-SIS, sondern auf das nationale SIS zurück.

Grundsätzlich geht es beim SIS stets um Ausschreibungen, nicht jedoch um direkte operative Maßnahmen. Es handelt sich also um Hinweise an nationale Polizeibehörden anderer Länder, tätig zu werden. Um zu illustrieren, welche Personengruppen von SIS ins Visier genommen werden und welche Ausmaße die Speicherung der Daten bereits erreicht hat, nannte Markus Murmelstein einige exemplarische Zahlen. Demnach sind bis zu 27.000 Personen zur Festnahme ausgeschrieben, werden rund 50.000 Ausreißer oder "geistig verwirrte" Menschen gesucht, sind ungefähr 70.000 Aufenthaltsermittlungen zu flüchtigen Zeugen, Straftätern oder anderen gesuchten Personen gespeichert. Vor allem aus Frankreich und Italien, wo die geheimpolizeilichen Strukturen im europäischen Maßstab relativ weit fortgeschritten sind, stammen etwa 35.000 verdeckte Registrierungen oder gezielte Kontrollen. Am umfangreichsten ist mit rund 26 Millionen Daten das nach Artikel 100 gespeicherte Material, das Gegenstände zur Sicherstellung der Beweissicherung wie verlorene Ausweise oder Pässe und vieles mehr zum Inhalt hat.

Ein typischer Datensatz zu Personen enthält neben den Angaben, wie sie im Paß aufgeführt sind, auch spezielle personenbezogene Hinweise. Darunter fallen beispielsweise besondere sexuelle Neigungen, Nichtseßhaftigkeit und nicht zuletzt die Kategorien "gewalttätig" und "bewaffnet" sowie unter Umständen weitere kodierte Merkmale. Im Unterschied zum Europäischen Haftbefehl können die einzelnen Mitgliedsstaaten beim SIS nationale Maskierungen vornehmen und beispielsweise eine Festnahme in ihrem Hoheitsgebiet aus juristischen oder anderen Gründen ablehnen. Ausgeschlossen sind derartige Maskierungen jedoch insbesondere bei der Kontrolle von MigrantInnen, was einmal mehr das gemeinsame Interesse der Schengen-Staaten in dieser Hinsicht unterstreicht.

Daß nationale Vorbehalte zurückgestellt werden, sobald es um die gemeinsame Abschottung gegen Migranten geht, unterstreicht auch die Indienstnahme von EURODAC. Die älteste tatsächlich funktionierende Datenbank der EU enthält die Fingerabdrücke aller AsylbewerberInnen. Dieses System wurde binnen weniger Jahre und damit für EU-Verhältnisse in Rekordzeit installiert. Ergänzt wird EURODAC um das geplante Visa-Informationssystem (VIS), das die Fingerabdrücke aller Personen speichern soll, die Visa im Schengenraum bekommen. Wie viele bereits vor Jahren beschlossene Instrumente konnte auch VIS nicht zum vorgesehenen Termin realisiert werden.

Der Referent wies auf diverse rechtliche Widersprüche im Kontext polizeilichen Zugriffs auf derartige Datensätze hin, warnte aber zugleich davor, diese als ernsthafte Behinderung der langfristigen Umsetzung der geplanten Maßnahmen zu erachten. Erfahrungsgemäß führten nationalstaatliche Initiativen zu bestimmten Anlässen dazu, die Verwendung der gesammelten Daten zu erweitern. Das entscheidende Manko bleibe stets das Erfassen und Speichern personenbezogener Daten an sich, da es ihrer späteren Nutzung Tür und Tor öffne. Bei ihrer Einführung werden Datenbanken in aller Regel mit beschränkten Zwecken begründet, bei denen es sich zudem nicht selten um besonders konsensfähige Testfälle handelt. Wenn man bedenkt, daß das VIS mindestens 30 Millionen Datensätze verwalten wird und damit als Abgleichsystem die Dimension eines mittelgroßen Staates erreicht, kann man sich ausmalen, welch umfassende Zugriffsinteressen dabei am Werk sind.

Im Stockholm-Programm wurde eine Reihe von Projekten angestoßen, für die teilweise noch nicht einmal eine Rechtsgrundlage existiert. So soll ECRIS einen gegenseitigen Zugriff auf Strafregister ermöglichen, EPRIS einen gegenseitigen Zugriff auf Polizeidatenbanken schaffen. Letztere enthalten nicht nur erfolgte Verurteilungen, sondern darüber hinaus auch die Kategorie "Ausgang unbekannt", was de facto einer Datenspeicherung auch im Falle eines Freispruchs gleichkommt.

Die supranationale Polizeibehörde versteht sich als Informationsbroker, operiert aber laut Murmelstein wie eine Geheimpolizei, die externe Anfragen häufig mit dem Verweis blockiert, es handle sich um eine Verschlußsache. Erfaßt werden Daten zu "Terrorismus" und "organisierter Kriminalität" wie Geldfälschung, Drogenhandel, Autodiebstahl und andere Delikte. Da es sich bei den beiden Grundkategorien um dehnbare Begriffe handelt, die bei Bedarf auf andere Felder ausgeweitet werden können, sind den Aktivitäten von EUROPOL letztlich keine Grenzen gesetzt.

Die Datenbank EUROPOL-Informationssystem funktioniert ähnlich wie der Kriminalaktennachweis des BKA, der Kriminalität von erheblicher oder bundesweiter Bedeutung speichert. In Fällen von europäischer Bedeutung übergeben die nationalen Oberbehörden wie das deutsche BKA Daten an EUROPOL zur zusätzlichen Speicherung. Nach zehnjähriger Praxis, die lange von technischen Sackgassen wie gescheiterten EDV-Projekten gekennzeichnet war, wird inzwischen ein automatisierter Datenaustausch vorgenommen. Wie brisant diese Speicherung für bestimmte Personengruppen sein kann, unterstrich der Referent anhand der zweckgebundenen Analysedateien zu spezifischen Bereichen. Waren diese in den Anfängen vor allem auf MigrantInnen fokussiert, so kamen im Laufe der Zeit beispielsweise MigrationshelferInnen, TierrechtlerInnen und diverse andere Gruppierungen hinzu.

Bezeichnend für den geheimdienstähnlichen Charakter von EUROPOL ist auch der Umstand, daß bei Anfragen kein Hinweis auf eine Speicherung gegeben wird, sobald ein unmittelbar betroffener Mitgliedsstaat der Auskunft widerspricht. Damit entzieht sich EUROPOL in hohem Maße einer Kontrolle seiner Datenbestände. Wenngleich die europäische Polizeibehörde nur über sehr beschränkte exekutive Rechte verfügt, kann sie doch auf Grundlage ihrer Daten nationalen Behörden wie dem BKA entsprechende Hinweise liefern und damit indirekt exekutiv tätig werden.

Wiederum auf deutsche Initiative wurde am 27. Mai 2005 der Prümer Vertrag geschlossen, der Polizei- und Strafverfolgungsbehörden einen direkten Zugriff auf bestimmte Datenbanken von Behörden der anderen Vertragsstaaten gestattet. Da es sich um kein EU-Abkommen handelt, sind andere Staaten nicht verpflichtet, sich den derzeit elf Vertragsstaaten anzuschließen. Die Justiz- und Innenminister der EU-Mitgliedstaaten beschlossen jedoch 2007, die Regelungen des Prümer Vertrags in EU-Recht zu überführen. Nachdem eine Reihe rechtlicher Hürden überwunden war, konnte eine direkte polizeiliche Zusammenarbeit in Fällen von Terrorismus, Migration und grenzüberschreitender Kriminalität eingeleitet werden. Dies schließt den Austausch von Daten über DNA, Fingerabdrücke und zentrale Fahrzeugregister wie auch Informationen im Zusammenhang von Großveranstaltungen ein.

Gegenwärtig können Deutschland, Österreich, Belgien, Luxemburg und Spanien als weltweit erste Staaten ihre DNA-Datenbanken abgleichen. Zudem tauschen Deutschland, Luxemburg und Österreich seit Februar 2008 im automatisierten Verfahren auch Fingerabdruckdaten aus. Die Polizeibehörden erhalten damit binnen Minuten eine Mitteilung, ob zu dem gesuchten Profil beim anderen Vertragsstaat Daten vorhanden sind. Für weitergehende Informationen müssen die Dienststellen in Kontakt treten bzw. ein Rechtshilfeersuchen einleiten.

Bescheinigten Datenschützer diesem Verfahren zunächst einen hohen datenschutzrechtlichen Standard, weil die Informationen anonymisiert vorliegen und zunächst nur mitgeteilt wird, ob Treffer erzielt werden oder nicht, so nahmen die Bedenken der Datenschützer gegenüber dieser Praxis im Laufe der Zeit erheblich zu. Daß personenbezogene und andere relevante Datensätze der anfragenden ausländischen Polizeibehörde nicht sofort zur Verfügung gestellt werden, mag zwar zu einer Verzögerung führen, stellt aber kein ernsthaftes Hindernis für die übergreifende polizeiliche Vernetzung dar.

Da sich die beteiligten Staaten auf Grundlage des Prümer Vertrags verpflichten, an andere Staaten auch Daten für Tatbestände weiterzugeben, die im eigenen Land unter Umständen keinen Straftatbestand ergeben, werden mit diesem Abkommen nationale Rechtsnormen unterlaufen. Zugleich wird das EU-Parlament mit diesem Vertragswerk umgangen, da verbindliche Vereinbarungen zunächst zwischen Einzelstaaten getroffen werden, die man anschließend in EU-Recht aufnimmt.

Mit der insbesondere von deutscher Seite vorangetriebenen Argumentation, die schwerfällige EU-Administration müsse zu viele divergierende Einzelinteressen unter einen Hut bringen, stellt der Prüm-Prozeß eine Abkürzung mit weitreichenden Folgen dar. Unter Aushebelung bestehender rechtlicher Hindernisse und Umgehung parlamentarischer Kontrolle verselbständigt sich die polizeiliche Zusammenarbeit unter der Maßgabe gesteigerter Effizienz im Dienst nationalstaatlicher und insbesondere supranationaler Kontrollansprüche und Zugriffsgewalt.


Von innen nach außen gekehrt - DNA-Profile als Kontrollressource

Susanne Schultz stellte auf dem entsichern-Kongreß die Kampagne "Finger weg von meiner DNA - Wider die DNA-Sammelwut!" gegen die Speicherung von DNA-Daten durch deutsche Polizeibehörden und die internationale Vernetzung von DNA-Datenbanken vor, in deren Rahmen im Frühjahr und Sommer 2011 Protestaktionen geplant sind.

Schultz promovierte an der FU Berlin in Politikwissenschaft und forscht derzeit zur Politik der Gendiagnostik. Sie arbeitete als wissenschaftliche Mitarbeiterin des Lateinamerika-Instituts der FU Berlin, als Journalistin und Referentin für Öffentlichkeitsarbeit und war lange aktiv in internationalistischen Bewegungen und feministischen Gruppen. Sie engagiert sich in respect, einer antirassistisch- feministischen Gruppe zum Thema Migration und bezahlte Hausarbeit. Seit Februar 2008 ist sie Mitarbeiterin des Gen-ethischen Netzwerks und betreut den Bereich Gentechnik und Medizin insbesondere in der Redaktionsgruppe des GID.

Während die ersten DNA-Analysen in der Bundesrepublik 1988 noch eine seltene Ausnahme waren, gehört das Wattestäbchen, mit dem DNA-Analysen zur Speichelprobe entnommen werden, heute zu den wichtigsten Ausrüstungsgegenständen der Polizei. In Europa sind inzwischen Millionen DNA-Profile in polizeilichen Datenbanken gespeichert. Um den Protest gegen diese biopolitische Dimension staatlicher Überwachung wiederzubeleben und gegen ihre neuen Dimensionen vorzugehen, wird ein überdimensioniertes Wattestäbchen durch die Lande ziehen, um bei einschlägigen Veranstaltungen zum Datenschutz ebenso wie bei Treffen der Überwachungsbürokraten zum Einsatz zu kommen. Höhepunkt der Kampagne ist eine dezentrale Protestaktion am 26. August 2011, mit der das Gen-ethische Netzwerk gemeinsam mit anderen Gruppen in Europa den Widerstand gegen den offiziellen Abschluß des europaweiten automatisierten Datenabgleichs (Prüm-Prozeß) wie auch den geplanten transatlantischen DNA-Datenaustausch mit den USA zum Ausdruck bringen will. [1]

Die Kampagne soll insbesondere thematisieren und kritisieren, daß ein erheblicher Teil der DNA-Datensätze in deutschen Polizeidatenbanken jenseits rechtlicher Grenzen erfaßt wird. So stellte sich bei einer Stichprobe des baden- württembergischen Datenschutzbeauftragten heraus, daß nicht weniger als 42 Prozent dieser Datensätze rechtlich nicht gedeckt waren. Hinzu kommt, daß das Prinzip der "Freiwilligkeit" bei der Abgabe der Probe zur Farce verkommt, weil bei Massengentests ein enormer Druck der Öffentlichkeit losgetreten wird oder in Verhörsituationen letzten Endes kaum eine andere Wahl bleibt, als sich dem Prozedere zu fügen. Da inzwischen fast 900.000 DNA-Profile in der DNA-Datenbank des BKA erfaßt sind, werden immer weitere Teile der Bevölkerung registriert, wobei sozial schwache Gruppe überproportional vertreten sind. Dabei bezieht sich die große Masse der Datenbank-"Treffer" auf Kleinkriminalität, allein 63 Prozent auf Diebstahl. Überdies werden ungeachtet unterschiedlicher nationaler Datenschutzbestimmungen DNA-Datenbanken international vernetzt.

Wie Susanne Schultz in ihrem Vortrag erläuterte, werden in den polizeilichen DNA- Datenbanken sogenannte Loci gespeichert, also bestimmte Stellen auf der DNA. Obgleich es nach europäischen Standards sieben gemeinsam festgelegte Loci gibt, hat jede nationale Datenbank ihr eigenes System, wie viele Stellen in der DNA sie kodiert und in die Datenbank einspeichert. De facto werden bislang nur sechs gemeinsame Loci erfaßt, was die Wahrscheinlichkeit falscher "Treffer" beträchtlich erhöht, da unter diesen eingeschränkten Bedingungen nicht selten zwei Personen das gleiche Profil aufweisen. Angesichts der verwalteten Datenmassen beteiligt sich insbesondere Großbritannien, das über die europaweit größte Datenbank mit 6 Millionen Einträgen verfügt, offenbar wegen der beträchtlichen Fehlerquote bislang nicht am internationalen Austausch. Zwar liegt ein Beschluß vor, die Zahl gemeinsamer Treffer auf elf zu erhöhen, um die Fehlerquote zu reduzieren, doch gilt als ungeklärt, ob das im Rahmen des Prüm- Prozesses in allen Staaten verbindlich festgelegt werden kann. Erfahrungen in den USA haben gezeigt, daß bei einer Datenbank in Arizona mit nur 60.000 Einträgen bei einem Vergleich aller Profile miteinander bis zu 100 identische Profile gefunden wurden.

Darüber hinaus gibt es eine Reihe weiterer Fehlerquellen, die beispielsweise mit der Menge der erfaßten Profile zusammenhängen. So argumentieren Kritiker hinsichtlich der Speicherung von Fingerabdrücken, daß dieses System nur solange mit einer geringen Fehlerrelevanz behaftet ist, wie die Anzahl der gespeicherten Daten nicht dramatisch steigt. Wollte man die Fingerabdrücke von mehreren hundert Millionen Menschen speichern, wären vermutlich so viele Fingerabdrücke identisch, daß das Verfahren unbrauchbar wird. Dasselbe Problem könnte auch bei einer Erhöhung der Loci auftreten, wobei sich dieser Prozeß über Jahre hinziehen wird, zumal die Daten auf nationaler Ebene neu gespeichert werden müssen.

Während in der öffentlichen Kontroverse insbesondere Kapitalverbrechen wie Mord oder Sexualdelikte vorgehalten werden, um die Akzeptanz gesammelter DNA-Proben zu erhöhen, beziehen sich laut Statistik des BKA lediglich 1 Prozent der Treffer auf Mord und 1,5 Prozent auf Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung. Hingegen betreffen 63 Prozent der Treffer Diebstahl oder Sachbeschädigung, was das generelle Interesse am Sammeln möglichst vieler Daten wie auch die Stoßrichtung auf spezifische soziale Zielgruppen dokumentiert. Im Jahr 2005 führte eine Gesetzesreform dazu, daß auch mindere Straftaten zum Anlaß einer Speicherung der DNA genommen werden dürfen, sofern laut richterlicher Prognose künftig weitere derartige Straftaten zu erwarten sind.

Von zunehmender Bedeutung ist auch das sogenannte Family-Searching, bei dem die partielle Übereinstimmung der DNA naher Verwandter dazu genutzt wird, über gespeicherte Daten Zugriff auf bislang nicht erfaßte Profile Angehöriger zu erlangen.

Während sich insbesondere nach spektakulären Straftaten Massengentests in der Öffentlichkeit breiter Zustimmung erfreuen, wird die aus der Sammlung von DNA- Proben erwachsende Gefahr von den Datenschützern bislang nur unzulänglich wahrgenommen. So wies Susanne Schultz darauf hin, daß seit 2005 Datensätze auch ohne richterliche Anordnung gespeichert werden können, sofern eine Einwilligung zur Datenanalyse vorliegt. Nachfragen der Datenschutzbeauftragten lassen darauf schließen, daß in Verhörsituationen zwischen 90 und 98 Prozent der Betroffenen unter dem Druck der im Raume stehenden Verdächtigung ihre DNA "freiwillig" abgeben, nicht auf eine richterliche Anordnung warten und keinen Widerspruch einlegen.

Bei Massengentests sollen die Proben in gesonderten Datenbanken gespeichert werden, die nach bislang geltender Rechtslage nicht mit der BKA-Datenbank abgeglichen werden dürfen. Offiziell müssen diese Daten gelöscht werden, sobald das Verfahren abgeschlossen ist. Ist das Verfahren jedoch noch nicht abgeschlossen, können die Proben auch im Falle fehlender Treffer theoretisch weiter aufbewahrt werden, da im Zuge der Ermittlungen weitere Asservate gefunden werden könnten. Wie lange die Daten tatsächlich gespeichert bleiben, ist daher ungewiß.

Die Referentin warnte insbesondere davor, die zahlreichen Unzulänglichkeiten und Fehlerquoten der verwendeten Verfahren in den Mittelpunkt der Kritik zu stellen und darüber die vorhandene Gefährlichkeit dieses Instruments im Dienst der Identifizierung zu unterschätzen. Die BKA-Datenbank verfügt mit ihren inzwischen 900.000 Profilen bereits über ein enormes Potential, wobei es sich um 710.000 Personenprofile sowie nicht zugeordnete Spurenprofile handelt. Jeden Monat kommen rund 8.000 neue Profile dazu, was die rasante Geschwindigkeit dieses Verfügungsprozesses unterstreicht.


Biometrische Totalerfassung am Horizont des Sicherheitsstaats

Fast vergessen erscheint die Debatte, als in den 1990er Jahren über die Bioethikkonvention des Europarats unter anderem deshalb gestritten wurde, weil man die Anwendung von Gentests über rein medizinische Zwecke hinaus befürchtete. Heute, da sich der spekulative Charakter der Therapieversprechen, mit denen die humangenetische Forschung Finanzmittel einwarb und die Liberalisierung sie beschränkender Gesetze vorantrieb, bestätigt hat, rückt das Interesse an neuen Kontrolltechniken immer stärker in den Vordergrund möglicher Verwendungszwecke ihrer Erkenntnisse. Wenn Menschen auf biologische Signaturen reduziert werden, dann werden sie auf eine Weise fremden Interessen verfügbar, gegen die selbst die Zugriffsmöglichkeiten einer auf Sklavenhaltung basierenden Produktionsweise begrenzt erscheinen.

Es hat Methode, wenn die fortschreitende Erweiterung der Möglichkeiten, DNA-Profile im Bereich der Strafverfolgung anzulegen, anhand der Aufklärung von Kapitalverbrechen vorangetrieben wird, die die Bevölkerung besonders empören. Insbesondere Sexualdelikte mit Todesfolge eignen sich dazu, letzte Widerstände bürgerrechtlicher Art zu überwinden. Anfängliche Einschränkungen der Anwendung biometrischer Verfahren bei polizeilichen Ermittlungen fallen dann bei der Novellierung der entsprechenden Gesetze weg, ohne daß dies größere Wellen schlüge.

Eine besondere Rolle bei der Durchsetzung biometrischer Verfahren spielt die Abwehr von MigrantInnen. 2007 wurden in Frankreich Gentests für Angehörige von Einwanderern eingeführt. Was die französische Regierung mit dem Verweis auf eine entsprechende Praxis in anderen EU-Staaten rechtfertigte und als besonderes Entgegenkommen für MigrantInnen, die auf diese Weise die Gelegenheit hätten, bei unvollständigen Papieren ihre Verwandtschaft zu verifizieren, verkaufte, ist nichts anderes als eine Form rassistischer Stigmatisierung. Da viele Afrikaner nach Frankreich einwandern wollen, handelt es sich bei dem an ihnen vollzogenen DNA-Abgleich um eine spezifische Form der biologistischen Diskriminierung. Die Schauspielerin Isabelle Adjani, deren Vater Algerier ist, sprach von einer "Art der Purifizierung der Rasse", wenn die Rechte von Menschen an ihre Blutsbande und nicht die Möglichkeit, sich mit anderen Menschen auf freiwilliger Basis zusammenzutun, geknüpft werden. Wenn jemand ein Kind adoptiert oder zwei Partner lediglich auf der Basis gegenseitigen Einvernehmens eine Familie gründen, dann kann dies in einem biologistischen Familienrecht nicht als legale Verbindung gelten. So arbeitete eine Gesellschaft, deren Mitglieder erst durch einen genetischen Nachweis vollwertige Bürger würden, einem reaktionären Standesbewußtsein zu, das weit hinter die humanistische Errungenschaft, Menschen unter Ausschluß ethnischer, religiöser oder sonstiger Faktoren prinzipiell gleich zu stellen, zurückfiele.

Letztlich befindet sich die EU auf dem Weg zur Erfassung der DNA-Profile aller in ihr lebenden Menschen. Dabei geht es nicht allein um Verbrechensbekämpfung, wie sogenannte Sicherheitspolitiker suggerieren. In den Niederlanden wurden schon vor Jahren gesetzliche Grundlagen geschaffen, die den Ermittlern erlauben, aus den gesammelten DNA-Spuren individuelle Merkmale über die dazugehörigen Personen zu gewinnen. Das Potential der DNA-Analyse, die das Erstellen struktureller Vergleichsmuster ergänzen könnte, Erkenntnisse über die jeweilige Person zu gewinnen, erstreckt sich von der Feststellung einzelner physischer Merkmale wie dem Geschlecht, der Haar- und Hautfarbe über das Erstellen von Phantombildern bis hin zur Identifikation psychischer Besonderheiten wie etwa der Tendenz zur Gewaltausübung oder zum Drogenkonsum.

Dabei ist nicht relevant, ob die statistisch ermittelten Wahrscheinlichkeiten, mit denen die Molekularbiologen und Humangenetiker Rückschlüsse vom Zellsubstrat auf das jeweilige Individuum legitimieren, verläßlich sind, sondern daß sie überhaupt angestellt werden. Gerade im Bereich psychischer Dispositionen kommt der DNA-Analyse eher die Funktion einer stigmatisierenden denn wissenschaftlichen Methode zu. Doch auch alle physischen Merkmale, die sich den Behörden via individueller Zellkernsubstanz erschließen, sind von höchst prekärer Art, da sie den einzelnen auf eine Weise verfügbar machen, die jedem, der an der Verfolgung, Erpressung und Beherrschung anderer interessiert ist, wirksame Mittel an die Hand geben.

So fordern britische Politiker und Polizisten seit langem die Ausweitung der DNA- Erfassung auf die gesamte Bevölkerung, um einen wirksamen Schutz vor Verbrechen auch im Sinne der Abschreckung zu ermöglichen. Parallel dazu verlangen Gesundheitspolitiker die Entnahme von DNA-Proben bei allen Neugeborenen zur Verbesserung der Volksgesundheit etwa durch "Ausmerzen" von Erbkrankheiten und die Evaluation von Krankheitsrisiken, an denen auch die Assekuranz interessiert ist. Naheliegenderweise wird man sich angesichts der Versuche der biologischen Psychiatrie, genetische Indikatoren für die statistische Erhebung von Verhaltensabweichungen und Geisteskrankheiten zu erwirtschaften, mit sozialmedizinischen Eingriffen nicht auf somatische Erkrankungen beschränken, sondern versuchen, durch frühzeitige Intervention etwa auf eugenischem und psychiatrischem Wege adminstrative Verfügungsgewalt über die Steuerung individuellen Sozialverhaltens wie der gesellschaftlichen Entwicklung zu erlangen. Schon aufgrund der Präventivlogik des Sicherheitsstaates, aber auch im Interesse von Versicherungen, Arbeitsverwaltungen, der medizinischen und sozialwissenschaftlichen Forschung wird dieser Datenpool auf lange Sicht nicht nur für den Nachweis der persönlichen Identität, sondern als Referenz für evaluative Zwecke aller Art in Anspruch genommen werden.

Es gilt im Prinzip der gleiche Vorbehalt wie beim Einsatz der DNA-Analyse durch die Strafverfolgungsbehörden. Je umfangreicher die Erfassung, desto drängender wird die Forderung erhoben, diese Daten mit behavioristischen und kriminologischen Feldstudien zu korrelieren. Zur sozialtechnokratischen Steuerung der Gesellschaft bietet die Verbindung von empirischer Sozialwissenschaft und humangenetischer Forschung zahlreiche Möglichkeiten, den Menschen unentrinnbar auf sein biologisches Substrat festzuschweißen und damit zum Urheber aller ihn heimsuchenden Malaisen zu erklären. Die Verankerung seiner Lebensinteressen in einer genetisch hereditär organisierten Sozialstruktur läßt Prognosen zu seiner wahrscheinlichen Entwicklung und daraus folgende regulative Eingriffe zu, die sich theoretisch bis zur Anordnung von Zwangsmaßnahmen wie einer präventiven Inhaftierung auswachsen könnten.

Von daher ist der Widerstand gegen diese Entwicklung nicht trotz, sondern gerade wegen der Tatsache, daß bereits 2003 in einer EU-Richtlinie die Etablierung einer derartigen Nachweismöglichkeit für Einwanderer in den Mitgliedstaaten verlangt wurde, allemal vonnöten. Allerdings wäre es wünschenswert, nicht nur die Immigranten betreffenden Folgen einer solchen Aufrüstung des Staates aufzuklären, sondern die ganze Reichweite einer mit DNA-Registern arbeitenden biologistischen Sozialkontrolle auszuleuchten.

Anmerkungen:

[1] Flugblatt "Sammelwut stoppen - Finger weg von meiner DNA!" des Gen-ethischen Netzwerks e.V.


Zum entsichern-Kongreß bisher erschienen:
BERICHT/055: Eurokrake Sicherheit - entsichern ... (SB)
BERICHT/056: Eurokrake Sicherheit - Risse in der Festung Europa(SB)
BERICHT/057: Eurokrake Sicherheit - Administrative Logik eines Gewaltapparats (SB)
BERICHT/058: Eurokrake Sicherheit - Netzwerke der Repression (SB)
BERICHT/059: Eurokrake Sicherheit - Vom Himmel hoch ... (SB)
BERICHT/060: Eurokrake Sicherheit - Präventionspolizei probt den Zugriff (SB)
INTERVIEW/070: Eurokrake Sicherheit - Matthias Monroy zur Spitzelproblematik (SB)
INTERVIEW/071: Eurokrake Sicherheit - Detlef Hartmann - Horizonte linker Radikalität (SB)

Menschenmassen beim Aufstieg auf einen Berg - © 2011 by Schattenblick

Zug der Lemminge ... wer verhindert den Sicherheitsstaat?
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4. März 2011