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BERICHT/089: Ilan Pappé - Kein Frieden ohne Dekolonialisierung (SB)


Vortrag am 15. Dezember 2011 im Berliner Zentrum Moderner Orient


Im ersten Teil des Berichts [1] über Prof. Ilan Pappés in englischer Sprache gehaltenen Vortrags war von einer Generaldebatte über Modernität als eine Art umfassender Theorie, die uns die wesentlichen Veränderungen der Weltgeschichte in den letzten 200 Jahren erklärt, die Rede, worunter auch der Zionismus und sein Verhältnis zum Säkularismus zu fassen ist. Der Referent stellte in diesem Zusammenhang vier konkurrierende Paradigmen in der akademischen Welt vor, die den Zionismus in die Religion auf der einen Seite und den Säkularismus auf der anderen einzuordnen versuchen.

Ilan Pappé - Foto: © 2011 by Schattenblick

Ilan Pappé
Foto: © 2011 by Schattenblick
Wie Pappé fortfuhr, herrsche in Israel ein regelrechter Medienhype um religiöse und säkulare Fragen. Seines Erachtens sei jedoch nicht die Konfrontation zweier Religionen entscheidend, sondern vielmehr der Kolonialismus. Auf individueller Ebene seien die Möglichkeiten, zwischen Widersprüchen zu navigieren, nahezu unbegrenzt, da man durchaus religiös und säkular zugleich sein könne. Würden solche persönlichen Umgangsweisen jedoch auf soziale, kulturelle und politische Systeme übertragen, bedürfe es eines anderen Paradigmas, um den Dialog zu führen.

In Israel äußert sich dieser Konflikt in der Frage, wer ein Jude sei. Der Streit zwischen Tradition und Säkularismus ist jedoch nicht nur gegenüber dem Kolonialismus von untergeordneter Bedeutung, sondern macht die Sache noch schlimmer, unterstrich Pappé. Kollektive Identität bemesse sich daran, daß wir wissen, wer wir nicht sind. Ich weiß, daß ich Jude bin, weil ich kein Christ oder Muslim bin. Ohne Zuhilfenahme dieser Abgrenzung wäre es weitaus schwieriger, die eigene Identität zu bestimmen. Als sich der Judaismus in Palästina selbst neu erfand und implantierte und als ethnische jüdische Gruppe in Palästina wuchs, war ein Jude jemand, der kein Araber war. Das birgt jedoch den Widerspruch in sich, daß viele Juden arabischer Herkunft sind. Im Jahr 1951 begann Israel, eine Million Araber zu importieren, die Juden waren. Das stellte den säkularen Zionismus und dessen Projekt der Moderne vor enorme Probleme. Die einzige Möglichkeit, diesen Konflikt zu lösen, bestand für arabische Juden darin, sich von den Arabern abzugrenzen. Dies wurde von der politischen Rechten in Israel ausgenutzt, die angesichts der langjährigen Dominanz der Arbeitspartei andernfalls chancenlos geblieben wäre. So aber gewann Likud 1977 die Wahlen.

Die säkulare Energie im Rechtswesen, Bildungssystem und der politischen Realität richtet sich darauf, jüdische Exklusivität zu produzieren. Man kann einen Apartheidstaat befördern, der zweierlei Recht praktiziert. Man kann geschlossene Siedlungen für Juden errichten und viele weitere Maßnahmen derselben Stoßrichtung ergreifen, bis man schließlich so weit geht, Christen aus der ehemaligen Sowjetunion ins Land zu holen, weil es keine Araber sind. Leider sei das ein erfolgreiches Projekt, so Pappés Einschätzung, obwohl er es für fragil halte und glaube, daß es in kurzen Fristen aufgebrochen werden kann. Man sehe sich in Israel mit einer Bewegung konfrontiert, die die Religion als wesentliche Begründung für ihren Rassismus gegenüber den Arabern heranzieht. Ein Beispiel mag das illustrieren: Aus Perspektive des Unterdrückers ist es durchaus von Belang, wie er sein Vorgehen begründet. Will beispielsweise ein Arbeitgeber keine Araber einstellen, verlangt er in der Stellenbeschreibung Bewerber, die ihren Militärdienst abgeleistet haben. Mit Hilfe dieses gängigen Verfahrens verschleiert er seine rassistische Haltung und bekommt doch, was er will.

Hingegen sprechen Rabbis offen aus, daß sie Araber ablehnen, weil sie selbst orthodoxe Juden sind. Das müßte eigentlich beschämend für das säkulare zionistische Lager sein. In einer Hinsicht ist das tatsächlich der Fall: Es gibt eine gewisse Gegenbewegung von liberalen Zionisten, NGOs und politischen Parteien, solche Bestrebungen zu blockieren. Schließlich ist es äußerst unangenehm, die verborgensten rassistischen Überzeugungen, die man durchaus teilt, so offen ausgesprochen zu hören. Andererseits sind sie nicht grundsätzlich gegen die Offensive der Rabbis, da sie in der Praxis selbst nichts mit Arabern zu tun haben wollen. Soweit es sich in solchen Kreisen nicht um einen offenen Kulturkrieg gegen die Araber handelt, wird er im Nachtleben Tel Avivs ausgetragen. Die Rechte Homosexueller sind heute das, was Frauenrechte im Kolonialismus waren, als man die Rekrutierung von Frauen als Errungenschaft der Gleichberechtigung ausgab. Damit ist die Frage des Säkularismus heute in Israel auf einen Kampf um den Charakter der "gated community" geschrumpft, während der Kern des Konflikts ausgeblendet wird. Deshalb handle es sich seines Erachtens um eine virtuelle, irrelevante Diskussion, wenngleich das die unmittelbar Beteiligten natürlich anders sehen, so Pappé. Diese Diskussion entbehre jeder Verbindung zu der sehr lebendigen und anhaltenden Diskussion über Tradition und Moderne in der arabischen Welt, da man niemals zuläßt, sich mit deren Multikulturalismus zu befassen. Nicht ohne Grund fürchtet man in Israel den arabischen Frühling, weil dies der Weckruf sein könnte, daß man im Nahen Osten und nicht in Europa lebt.

Besetzung des Podiums - Foto: © 2011 by Schattenblick

BU: Antía Mato Bouzas (ZMO), Ilan Pappé, Sonja Hegasy (ZMO)
Foto: © 2011 by Schattenblick

Abschließend gab Ilan Pappé einen Ausblick auf die mögliche Zukunft Israels, die seines Erachtens zwischen zwei Paradigmen liegt, die beide schwer zu verdauen seien. Eine Möglichkeit bestünde darin, die Diskussion um Tradition und Moderne, Religion und Säkularismus in die Agenda des Nahen Ostens einzubinden und damit Teil seiner Probleme und Lösungen zu werden, wohin auch immer die Geschichte diese Region führt. Um das zu bewerkstelligen, müsse das Regime in Israel geändert werden, das nicht ein jüdischer, ethnischer, rassistischer Staat bleiben kann, der behauptet, er sei die einzige Demokratie im Nahen Osten. Man müßte etwas tun, was niemand freiwillig macht, nämlich Privilegien abgeben. Letzteres könnte jedoch ohnehin geschehen, ob es einem nun gefällt oder nicht, wie das in Südafrika in gewissem Umfang der Fall war.

Die wahrscheinlichere Alternative sei jedoch, daß man das Projekt der Moderne aufgibt, weil es nicht länger funktioniert. Man bezichtigt alle anderen des Antisemitismus, verbündet sich mit den christlichen Fundamentalisten und bringt vielleicht sogar einen Präsidenten ins Weiße Haus, der im Namen der 250 Millionen Amerikaner und der Atomwaffen der USA uneingeschränkten Schutz garantiert. Man hätte dann eine sehr feste ethnische Identität in Israel, wie sie das israelische Parlament derzeit mit den bereits beschlossenen Gesetzen anstrebt. Säkularismus und Religion fänden unter diesen Umständen ohne weiteres eine gemeinsame Sprache, weil die antiarabische Ausrichtung explizit verankert wäre. Tel Aviv als Zentrum des Säkularismus und Jerusalem als Zentrum der Religion müßten sich arrangieren. Vielleicht würde das einige Zeit funktionieren. Er glaube aber nicht, daß das die Palästinenser, die arabischen Nachbarn und die muslimische Welt insgesamt tolerieren würden, ja selbst der Westen entzöge diesem Kurs Israels früher oder später seine Unterstützung. Folglich müßte Israel nach einem Umweg, der zahlreichen Menschen große Leiden beschert hat, am Ende zum ersten Modell zurückkehren, schloß Ilan Pappé seinen ebenso fundierten und wie anregenden Vortrag.

Die anschließende Diskussion gab den Zuhörern im Dialog mit dem Referenten Gelegenheit, Fragen zu stellen, angesprochene Aspekte zu vertiefen und ergänzende Gesichtspunkte zur Sprache zu bringen. Ilan Pappé, dessen wissenschaftliche Arbeit und persönliches Engagement in der Vergangenheit erbitterte Kontroversen bis hin zu offener Anfeindung auf den Plan gerufen haben, wäre zweifellos willens und in der Lage gewesen, sich grundsätzlichen Einwänden gegen seine Thesen zu stellen. Hier sprach er indessen vor einem zugewandten Publikum, das sich offensichtlich nicht israelischer und deutscher Regierungspolitik, sondern eigenständigem Denken und einem unverstellten Blick auf Ursachen, Verlauf und tragfähige Ansätze zur Lösung des Nahostkonflikts verpflichtet fühlt.

In Beantwortung der ersten Frage nach den Quellen seiner Forschung ging Pappé darauf ein, daß der Nationalismus im Zuge seiner frühen wissenschaftlichen Untersuchung überwiegend als Bestandteil der Realität angesehen und neutral behandelt wurde. Nur der Marxismus wandte sich vehement dagegen, doch die übrigen Mitglieder der liberalen akademischen Gemeinde betätigten sich als Archäologen der Entstehungsgeschichte und des Verlaufs des Nationalismus, ohne sein Narrativ in Frage zu stellen. In den 1960er Jahren zeichnete sich eine andere Herangehensweise ab, die den Nationalismus und seine Notwendigkeit dekonstruierte. Man klassifizierte ihn bildlich gesprochen als ein Menü, das von Menschen zubereitet wurde, und identifizierte sogar die Köche. Und da man die Zutaten kannte, verstand man auch die daraus resultierenden Probleme. So waren beispielsweise die Palästinenser nicht im israelischen Menü enthalten, weshalb der Konflikt nicht ausbleiben konnte. Nationalismus, der zuvor unbestritten war, als sei er von Gott gegeben, wurde nun kritisiert. Auch die Geschichte Israels, die bisher den Grund lieferte, warum Palästinenser vertrieben wurden und bis heute unter Besatzung leben, soll dekonstruiert werden, und das nicht nur intellektuell, sondern weil man für Gerechtigkeit eintritt.

Ein anderer Beitrag aus dem Publikum warf die Frage auf, wie es dazu kommen konnte, daß recht unterschiedliche gesellschaftliche Kräfte den Siedlerkolonialismus unterstützen, obgleich er so irrational sei. Der Referent ging darauf zunächst mit dem Hinweis ein, daß die Okkupation aus Perspektive des liberalen Zionismus verwerflich sei. Die gesamte diesbezügliche Literatur vertrete die Auffassung, daß bis 1967 alles gut war und erst durch die Besatzung die Wende zum Schlechten ihren Lauf nahm. Hingegen sieht der Rest der israelischen Gesellschaft 1967 als Fortschritt zum Besseren. Da seither mehrere Generationen geboren wurden, mutet es heute wie eine Geschichte aus ferner Vergangenheit an, daß das Westjordanland einst kein Teil Israels war. Das ließe sich letzten Endes in eine Unterstützung des Siedlerprojekts übersetzen. Daraus resultiert das politische Phänomen der Kadima-Partei, die seinerzeit von Ariel Sharon angeführt wurde, wie auch Sharons Aufstieg zum Premierminister.

Sobald man die Auffassung vertritt, ein religiöses oder säkulares historisches Recht zu haben, Palästina zu besetzen, betrachtet man die einheimische Bevölkerung dieser Region zwangsläufig als Usurpatoren. Man macht sie zu Fremden, weil man den Wunsch hegt, über das Recht zu verfügen, dort zu siedeln. Diese Auffassung ist tief in den Zionismus eingebettet, gleichgültig ob man seinem linken oder rechten Flügel angehört. Israel sei das angestammte Heimatland, und wenn man nach 2000 Jahren wiederkehrt, sind die dort lebenden Menschen im günstigsten Fall Besucher und im schlimmsten Invasoren. Der Unterschied zwischen den beiden Lagern läßt sich an der Einschätzung festmachen, wieviel Land man braucht, um zu überleben. Das liberale Lager meint, daß die 80 Prozent, über die man bereits verfügt, genug seien. Man habe 1967 fast eine Million Palästinenser vertrieben, und wenn man sie durch weitere Einverleibung des Westjordanlands zu Staatsbürgern macht, ergebe sich ein riesiges demographisches Problem. Diese Entwicklung ist unvermeidlich, sofern man nicht interveniert. Man muß Menschen töten, vertreiben und verhindern, daß sie zu viele Kinder bekommen. In geographischer Hinsicht werden die Probleme der Okkupation im Laufe der Jahre geringer, da sich die geschaffenen Fakten immer mehr verfestigen. Weder für linke noch ultrarechte Zionisten existiert heute noch eine geographische Frage. Für sie gibt es keine zwei politischen Entitäten zwischen dem Jordan und dem Mittelmeer. Offen bleibt hingegen die Frage der demographischen Entwicklung.

Es gibt einen Konsens, daß bestimmte Teile des Westjordanlands aus religiösen, nationalen oder strategischen Gründen über kurz oder lang Teile des jüdischen Staats werden müssen. Daher kolonisiert, besiedelt, entvölkert man diese Gebiete und diskutiert über die "verrückten Siedler". Selbst die Netanjahu-Regierung erklärte ihre Bereitschaft, sie notfalls gewaltsam zu entfernen. Wie Pappé dazu anmerkte, glaube er nicht, daß diese politische Führung realisiert, daß niemand in der Welt ihre Behauptungen noch ernstnimmt. Beim Abzug der Siedler aus dem Gazastreifen nahmen viele der Regierung in Jerusalem ab, daß es ihr mit diesem Vorhaben ernst sei. Damals redete man vom Trauma, einem gerade noch abgewendeten Bürgerkrieg, und Sharon hätte fast den Friedensnobelpreis bekommen. Das sei seines Erachtens das letzte Mal gewesen, daß sich die USA und Europa täuschen ließen, so der Referent. Die Frage der Siedler sei nicht zu trennen von der Lösung des gesamten Konflikts. Allerdings seien nicht die Siedlungen selbst das Hauptproblem, sondern der ideologische Charakter des israelischen Regimes. Nach wie vor stellten Abu Mazen (Mahmud Abbas) und die Palästinensische Autonomiebehörde die Siedlungsfrage in den Mittelpunkt, doch sei die Zukunft der Siedlungen von 1967 und von 1948 dieselbe und müsse zuguterletzt unter dem Paradigma der Friedensverhandlungen erörtert werden. Bis das geschieht, bleibe die Siedlerfrage, wie sie ist: Israel redet darüber, während Tag für Tag weiter gebaut wird.

Auf einen anderen Beitrag aus dem Publikum eingehend, der die Kolonialisierung ansprach, bekräftigte Pappé die Auffassung, daß man sich im Unterschied zu gewissen Eliten, die von "Friedensprozeß" sprechen, mit den Palästinensern einig sei, daß eine Dekolonialisierung herbeizuführen ist. Dabei sei das Hauptproblem seines Erachtens die Repräsentation der Palästinenser, und solange dieses Problem nicht gelöst sei, werde das Projekt der Dekolonialisierung auf schwachen Füßen stehen. Wie im Falle Südafrikas kommt auch anderen Staaten eine beträchtliche Bedeutung zu, doch müsse zugleich die Fragmentierung der Palästinenser, die durch die ethnische Säuberung von 1948 erzwungen wurde, überwunden werden. Es gebe ernstzunehmende Bemühungen in verschiedenen Teilen der palästinensischen Gemeinde in aller Welt, die Frage der Repräsentation auf die Tagesordnung zu setzen, die im digitalen Zeitalter auf andere Weise befördert werden kann, als dies zuvor der Fall war. In diesem Zusammenhang sei das letzte Abkommen zwischen Fatah und Hamas aus seiner Sicht irrelevant. Vor drei oder vier Jahren wäre es außerordentlich bedeutsam gewesen, heutzutage interessiere sich jedoch niemand mehr dafür. Die Palästinenser verfügten nicht über die militärische Macht, bewaffneten Widerstand gegen die Besatzung zu leisten. Erforderlich sei eine andere Agenda, die mit den Ereignissen in der gesamten Region verbunden ist. Man könne die Frage der Palästinenser nicht auf den Gazastreifen und das Westjordanland beschränken, wie es den Israelis so lange gelungen ist. Diese Zeit sei abgelaufen, wobei es freilich ein gewaltiges Projekt bleibe, alle Palästinenser in einer gemeinsamen Repräsentation zusammenzuführen.

Pappé griff eine Anregung aus der Runde auf, als fünftes Paradigma die Option einzuführen, daß Israel wie Tunesien, Ägypten und andere Staaten der Region nur von innen heraus verändert werden könne. Man erlebe in der Tat überall in der Region Umwälzungen nicht nur religiöser, sondern auch sozialer Natur, bei denen die Klassenfrage gestellt wird. Die Welt ist heutzutage so vernetzt und zugleich sind die Palästinenser so verstreut, daß man das Vorgehen nicht auf Gaza und das Westjordanland beschränken könne. Die Zionisten erklärten, daß das, was den Juden in Palästina geschehe, dasselbe sei, was Juden überall auf der Welt geschehe. Die Palästinenser können geltend machen, daß die Rückkehr aller Vertriebenen Teil einer Lösung sein müsse. Die Realität sei heute ein Zusammenspiel lokaler und globaler Personen und Gruppen.

Gefragt, wo er seinen Ansatz als Aktivist sehe, führte Pappé aus, daß jeder Aktivismus kurzfristige und langfristige Ziele verfolge. Die kurzfristigen konzentrierten sich seines Erachtens auf die Außenwelt und hätten damit zu tun, starken Druck auf Israel auszuüben. Sie umfaßten Sanktionen wie Boykott, Desinvestment, Demonstrationen und vieles mehr. Es existierten Beziehungen, die man als "kissing cousins dialogue" bezeichne: Israelis und Palästinenser reisen nach Berlin und bringen viel Geld mit nach Hause, das wenige Palästinenser und noch mehr Israelis sehr reich und den Dialog sehr ärmlich macht. Daher müsse es eine Verschiebung von der Förderung des Dialogs hin zu der Verstärkung des Drucks geben. In lokaler Hinsicht stehe man als Aktivist in Israel vor der ewigen Frage, ob man am politischen Prozeß teilnehmen oder eher auf Erziehung setzen soll. Beides sei wichtig, wobei seine Präferenz dem langfristigen Prozeß der Transformation gelte, so der Referent. Gehe man in die Politik, sehe man im Prinzip rascher Resultate, doch komme dabei in Israel stets das Gegenteil dessen heraus, was man beabsichtigt habe.

Pappé illustrierte dies mit einer Anekdote aus seiner eigenen Lebensgeschichte. Als er im Jahr 2000 in einen kleinen Vorort zwischen Haifa und Nazareth umgezogen war, berichtete die örtliche Zeitung darüber in dem Tenor: Haltet eure Töchter nachts im Haus, Ilan Pappé ist hier. Seine Frau habe sich mit der Auffassung durchgesetzt, daß man sich damit auf ihre vernünftige Weise befassen müsse, womit sie Recht behalten sollte. Man lud viele Leute ins Wohnzimmer ein und redete mit ihnen. Sein Sohn habe ihm daraufhin folgende Rechnung aufgemacht: Sollte es ihm gelingen, bei jeden Treffen 50 Leute von seinen Ansichten zu überzeugen, bräuchte er 550 Jahre, um einen nennenswerten Teil der Gesamtbevölkerung zu erreichen. Daß er keine Option ausschließt, doch um ihre jeweiligen Grenzen weiß, unterstrich Pappé mit der Bemerkung, daß es sich sowohl bei der Erziehung als auch der BDS-Kampagne um einen Dialog handle. Letztere bestrafe die israelische Gesellschaft nicht, sondern mache ihr klar, daß man ihr Verhalten gegenüber den Palästinensern und arabischen Mitbürgern nicht akzeptiere. In beiden Fällen gehe es um ein Engagement, das man nicht aufgibt, und darauf komme es an.

Referent beim Vortrag - Foto: © 2011 by Schattenblick

Ausdruckstarker Vortragstil
Foto: © 2011 by Schattenblick
Ein weiterer Gesprächsteilnehmer bezog sich auf eine Aussage des Friedensforschers Johan Galtung, der nach dem Massaker in Norwegen als größte Gefahr die Doktrin der Dominanz in den USA bezeichnete. Pappé, der an der Universität von Exeter lehrt, kam daraufhin auf die neue Rechte in England zu sprechen, die in Gestalt der English Defense League auf den Plan tritt. Wenn diese gegen jemanden demonstriere, den sie ablehnt, was 95 Prozent der Bevölkerung umfasse, hüllten sich ihre Mitglieder in israelische Fahnen. Es gebe einen engen Zusammenhang zwischen der Situation in Israel, wo man heute nicht mehr den liberalen Demokraten gibt, sondern die rassistische Karte ausspielt, und solchen Strömungen in anderen Ländern. Dieses Denken äußere sich auch in den rechten Bewegungen in Europa und den USA. Aufschlußreich sei in diesem Zusammenhang eine Äußerung der Tochter Jean-Marie Le Pens bei ihrem Besuch in Israel: Sie dürfe viele Dinge nicht laut sagen, die der israelische Außenminister Avigdor Lieberman in Frankreich problemlos äußern könne.

Könne man die Aussicht auf eine künftige Friedenslösung tatsächlich optimistisch einschätzen, wo sich doch der Siedlerkolonialismus wie auch Israel insgesamt nicht zuletzt dank der Unterstützung Washingtons stets durchgesetzt hätten, wollte ein anderer Teilnehmer wissen. Die friedliche Dekolonialisierung sei eine Hoffnung, keine Prognose, gab Pappé zu bedenken. Nicht selten in der Geschichte brächen Systeme nicht durch einen friedlichen Übergang, sondern durch eine Katastrophe zusammen, was ihm persönlich hinsichtlich Israels natürlich nicht gefalle, weil seine Familie dort lebt. Er stimme indessen mit dem Fragesteller überein, daß eine friedliche Transition ein Ausnahmefall in der Geschichte wäre, doch handle es sich andererseits beim Nahostkonflikt auch um einen Ausnahmefall hinsichtlich der Konstellation. Zweierlei gebe Grund zur Hoffnung: Der israelische Kolonialismus tritt in der Periode weltweiter Dekolonialisierung auf den Plan. Wie Rumänien ausgerechnet jetzt in die Eurozone aufgenommen werden will, verhalte es sich ähnlich bizarr, wenn Israel nach dem Ende des Kolonialismus als Kolonialmacht auftritt. Der zweite Grund bestehe darin, daß bei den meisten relevanten historischen Beispielen eine starke Komponente des Genozids mitspielte, dessen Opfer sich nicht gegen den Kolonialismus erheben konnten. Für die Palästinenser treffe das nicht zu, da sie nach wie vor in großer Zahl präsent sind und in einem arabischen Umfeld leben. Aus diesen beiden Gründen schöpfe er Hoffnung, wenngleich er einräumen müsse, daß man die Geschichte nicht auf der eigenen Seite habe.

Auf eine letzte Frage nach der Rolle der sozialen Bewegungen in Israel und der Beteiligung der Palästinenser am Transformationsprozeß eingehend schätzte der Referent eine Veränderung aus dem Innern der israelischen Gesellschaft als wenig realistisch ein. Auch im Falle Südafrikas konnte man nicht von einer Deprogrammierung der rassistischen Weißen ausgehen. Vielmehr bedurfte es eines starken Drucks von innen und außen, um die rassistische weiße Politik zu Fall zu bringen. Er glaube nicht, daß der Zionismus vor einer grundlegenden Veränderung abgeschafft wird, weshalb es gelte, eine solche Situation herbeizuführen. Die palästinensische Lösung lasse sich in drei Begriffen zusammenfassen, die mit dem Buchstaben A beginnen. Das erste A sei Acknoledgement (Anerkennung). Solange der Westen die ethnische Säuberung Palästinas von 1948 und seither nicht anerkennt, besteht kaum eine Chance auf Fortschritt. Das zweite A stehe für Accountability (Haftbarkeit). Jede anerkennenswerte Änderung hinsichtlich des Rückkehrrechts ist ein wesentlicher Schritt in diese Richtung. Das dritte A ist Acceptance (Akzeptanz) von seiten der Palästinenser, daß eine jüdische ethnische Gruppe in ihrer Mitte lebt. Das ist mit hundert Jahren Kolonialismus und folglich viel bösem Blut vorbelastet. Wenngleich es daher alles andere als leicht ist, wäre es hilfreich, formulierten Palästinenser diesbezüglich eine klare Vision. Die Palästinenserführung spricht von einer Zweistaatenlösung, bei der es keine Juden in dem kleinen Bantustan gibt, das Abu Mazen wünscht. Würden die Palästinenser die Präsenz der Juden akzeptieren, könnte das umgekehrt auch die Tür zu einer Akzeptanz der Muslime öffnen. Ahmadinedschads Forderung, die Juden sollten in ihre Herkunftsländer zurückkehren, sei keine Lösung. Es gelte vielmehr, ein kulturelles und politisches System zu schaffen für die, die heute dort leben, wie auch jene, die einst dort gelebt haben. Es sollte nicht so schwer sein, eine Lösung zu finden, wenn man gewisse rassistische und kolonialistische Ideologien abstreift, wählte Ilan Pappé als Schlußwort.

Mit seiner Einladung hatte das Zentrum Moderner Orient einen der renommiertesten Experten des Nahostkonflikts präsentiert, der von seinem Vortragsthema ausgehend vielfältige Aspekte des Problemkomplexes auf ebenso überzeugende wie anschauliche Weise auszuleuchten verstand. Die Rolle Israels als geostrategische Speerspitze des Westens in dieser Weltregion und mithin den Kontext imperialistischer und hegemonialer Suprematie der Vereinigten Staaten und ihrer Verbündeten unter die Lupe zu nehmen, bleibt einer weiteren Diskussion vorbehalten, die mit Ilan Pappé zu führen zweifellos nicht minder aufschlußreich als der rundum gelungene Abend im Süden Berlins wäre, von dem in diesem Bericht die Rede war.

Fußnoten:

[1] http://www.schattenblick.de/infopool/politik/report/prbe0088.html

Nähere Umgebung des ZMO - Foto: © 2011 by Schattenblick

Berlin zwischen Grunewald und Wannsee
Foto: © 2011 by Schattenblick

16. Januar 2012