Schattenblick →INFOPOOL →POLITIK → REPORT

BERICHT/103: Kongreß Kurdischer Aufbruch - Die kurdische Revolution ist eine Frauenrevolution (SB)


Zukunftsträchtig - Erfahrungen der kurdischen Frauenfreiheitsbewegung

Vortrag von Gönül Kaya am 5. Februar 2012 in der Universität Hamburg

Gönül Kaya am Rednerpult - Foto: © 2012 by Schattenblick

Gönül Kaya spricht für die kurdische Frauenfreiheitsbewegung
Foto: © 2012 by Schattenblick

Wenn Menschen wie eine Ware be- oder vielmehr gehandelt werden und ihr Preis zwischen demjenigen, der die Verfügungsgewalt besitzt und demjenigen, der diese Gewalt inklusive des Objekts welcher Begierden auch immer käuflich erstehen möchte, festgesetzt wird, ist dies Sklaverei. Handelt es sich um Mädchen bzw. junge Frauen, die in einer seitens der westlichen Hegemonialmächte mit einem schnellen Federstrich als kulturell rückständig eingestuften Region leben, wird diese Sklaverei weder zur Kenntnis genommen noch so benannt, um von der Frage, ob und inwieweit die westlichen Staaten diese Entwicklung oder vielmehr Nicht-Entwicklung mitzuverantworten haben durch ihre Beteiligung an der jahrzehntelangen Unterdrückung eines ganzen Volkes, an dieser Stelle noch gar nicht zu reden.

Die kurdische Bewegung, der kurdische Befreiungskampf wird in eben diesen Staaten, sprich in Europäischer Union sowie den USA, mit nur drei Buchstaben geschrieben und definiert: P - K - K. Die im November 1978 von Abdullah Öcalan und anderen - auch Frauen - gegründete "Partiya Karkeren Kurdistan" (PKK, Kurdische Arbeiterpartei) hatte sich zunächst an den Marxismus-Leninismus angelehnt, um für die kurdische (nationale) Befreiung zu kämpfen. Sie richtete ihre Aktionen in den ländlichen Gebieten gegen die Großgrundbesitzer (Aghas) und unterstützte in den Städten das dortige Subproletariat. Nach dem Militärputsch vom 12. September 1980, bereits dem dritten nach 1960 und 1971, wurden viele PKK-Angehörige inhaftiert und - zum Teil zu Tode - gefoltert. Ein Jahr nach dem Putsch, 1981, gab es in der Türkei noch immer 123.000 politische, keineswegs nur kurdische Gefangene. Fast vier Jahre später, im August 1984, gründete die PKK eine eigene Guerilla, die bis 1999, dem Jahr der Festnahme Öcalans, gegen die türkische Armee kämpfte. Bis Ende der 1990er Jahre wurden ca. 17.000 kurdische Zivilisten von Todesschwadronen, genannt "Dorfschützern", getötet.

All dies ist in Geschichtsbüchern wie auch Verfassungsschutzberichten so oder ähnlich nachzulesen. Die Frage allerdings, welchen Stellenwert die Befreiung der Frauen bzw. der Befreiungskampf der kurdischen Frauen in diesem Zusammenhang eingenommen hat, ist dabei noch überhaupt nicht berührt. Auf dem Kongreß an der Hamburger Universität "Die kapitalistische Moderne herausfordern - Alternative Konzepte und der kurdische Aufbruch" wurde diese Thematik keineswegs nachrangig behandelt, sondern nahm den Raum und Stellenwert ein, der ihr auch innerhalb der gesamten kurdischen Bewegung - soll heißen, auch seitens ihrer männlichen Mitstreiter - zuerkannt wird. Im Rahmen des vierten inhaltlichen Schwerpunktthemas des Kongresses (Session 4: Ein neues Paradigma: Demokratische Moderne) referierte die Journalistin Gönül Kaya am 5. Februar 2012 zu dem Thema "Elemente radikaler Demokratie: Erfahrungen der kurdischen Frauenfreiheitsbewegung" und machte deutlich, was auch als Kernmotto des gesamten Kongresses hätte gelten können: Die kurdische Revolution ist eine Frauenrevolution.

Dies ist, zumindest für nichtkurdische Interessierte, ein wenig erklärungsbedürftig. Die Referentin sprach auf dem Kongreß stellvertretend für die kurdische Frauenbewegung und machte zunächst einmal deutlich, daß die Frage der Frauenbefreiung von der nationalen kurdischen Befreiung nicht getrennt gedacht und praktiziert werden könne und daß diese Fragen zueinander auch nicht in einem wie auch immer gearteten Unterordnungsverhältnis stünden. Die alte, an den Diskussionsstand sozusagen der klassisch-marxistischen Linken, in der in endlosen Debatten über Definitionsgrenzen zwischen Haupt- und Nebenwiderspruch debattiert worden war, gemahnende Streitfrage, was wichtiger sei, die Befreiung der Frau oder der politische (Klassen-) Kampf, scheint durch die kurdische Bewegung in der Praxis schon beantwortet und damit gegenstandslos gemacht worden zu sein, weil der ihr zugrundeliegende Gegensatz negiert wird.

Gönül Kaya, selbst seit 1991 am Kampf kurdischer Frauen für Freiheit und politische Gleichberechtigung aktiv, gab in ihrem Vortrag ein Zeugnis dafür ab, wie diese beiden Fragen in der kurdischen Befreiungsbewegung in einen untrennbaren Zusammenhang gestellt wurden, wie es überzeugender nicht hätte sein können. Sie benannte die gegenwärtige Situation als eine "sehr historische" und begründete dies damit, daß in dem Verhältnis zwischen den Unterdrückten und den Unterdrückern, den Kolonialisierten und den Kolonialisten, ein historischer Wandel eingetreten sei. Das Wichtigste sei, so Kaya, daß Alternativen entstanden seien, die das herrschende System in seiner Gesamtheit, sprich in seiner historischen, ökonomischen, psychologischen, sozialen und ideologischen Dimension in Frage gestellt hätten. Aus einer historischen Perspektive mag dies ein nur kleiner Schritt sein, doch die Bedeutung dessen sei in Hinsicht auf die zurückliegenden Kämpfe der letzten 40, 50 Jahre sehr groß.

Die Referentin sprach von den praktischen Erfahrungen, die in den letzten Jahren auf diesem Weg gemacht wurden. "Wir kritisieren nicht nur das bestehende System, sondern fragen gleichzeitig, wie wir ein anderes System aufbauen können", so Kaya. Bezugnehmend auf den "Mittleren Osten jenseits der Nationalstaaten", der am Vortag ein eigener Themenschwerpunkt auf dem Kongreß gewesen war, sprach sie von einer Kriegsrealität, in deren Zentrum der Mittlere Osten stünde, und benannte diese als einen Dritten Weltkrieg, mit dem der Kapitalismus die Welt überzöge und sich zu unterwerfen trachte. Die kurdische Journalistin sprach von einer kulturellen Besetzung, die überall auf der Welt stattfände und bei der es nicht wie im Ersten und Zweiten Weltkrieg um die Aufteilung der Welt, sondern gegen all diejenigen gehe, die "Alternativen suchen", was einen Stamm am Amazonas ebenso betreffen könne wie diejenigen, die in Kurdistan den demokratischen Konföderalismus aufbauen wollten oder auch Menschen in Europa, die "frei denken wollen".

Die Referentin äußerte sich in diesem dem Aufbau einer Demokratischen Moderne als neuem Paradigma gewidmeten Schwerpunktthema zu ganz zentralen Fragen des Freiheits- wie Frauenbefreiungskampfes, bei dem es nicht allein darum gehe, den Kapitalismus in Frage zu stellen, sondern ganz generell das Verhältnis von Herrschenden und Beherrschten, mithin eine seit 5000 Jahren bestehende Realität. Die kapitalistische Moderne sei der Gipfel dessen. In ihr sei dieses Herrschaftsverhältnis so verinnerlicht worden, daß die Menschen es gar nicht mehr als ein solches wahrnähmen. Den Frauenbefreiungskampf bezeichnete die Journalistin als den Befreiungskampf eines Geschlechts, der gleichzeitig ein gesellschaftlicher Kampf sei. Diese Kämpfe haben eine gemeinsame Grundlage, wurden sie doch von den Mächten und Staaten geschaffen, die auch die Zivilisation hervorgebracht hätten, und so seien all diese gesellschaftlichen Fragen und Probleme miteinander verknüpft. Über die auf dem Kongreß allgemein anerkannte historische These, die vorherrschende Zivilisation sei auf dem Niedergang der Frauen entstanden, könnte frau oder man unterschiedlicher Meinung sein, was dem von Gönül Kaya formulierten Ansatz, zwischen der Befreiung der (kurdischen) Frauen und der kurdischen Nation überhaupt keinen Unterschied zu machen, jedoch keinerlei Abbruch täte.

Gönül Kaya ging auch auf die historischen Erfahrungen ein, die weltweit in nationalen Befreiungsbewegungen sowie in den Kämpfen um die Verwirklichung sozialistischer Utopien, so auch im sowjetischen Staatssozialismus, gemacht wurden und erklärte, daß der Befreiungskampf der Frauen in ihnen nicht geführt wurde. Ohne Frauenbefreiungskampf aber könne, so die These der Referentin, ein "wirklicher Radikalismus" nicht stattfinden. Nach 1968 habe es aus Sicht der Frauenbewegung eine "mentale Revolution" gegeben, in der die bestehenden Systeme - kapitalistische wie staatssozialistische gleichermaßen - in Frage gestellt und Alternativen außerhalb des Systems gesucht wurden. Die kurdische Frauenbewegung begreife sich als eine Art Fortsetzung dieser Suche. Entstanden sei sie allerdings innerhalb der PKK. Um zu verstehen, wie dies geschehen konnte, so Kaya, sei es unumgänglich, die Realität der PKK zu begreifen.

Als die PKK gegründet wurde und im Begriff stand, zu einer Massenbewegung zu werden, habe die Frage der Existenz oder Nicht-Existenz des kurdischen Volkes im Vordergrund gestanden. Für Menschen, die in einem westeuropäischen Staat aufgewachsen sind und die Realität und Kultur des kurdischen Volkes nicht aus eigenem Erleben kennen können, muß wohl an dieser Stelle deutlich gesagt werden, daß sich die Kurden und Kurdinnen in dieser historischen Phase allen Ernstes selbst gefragt haben, ob sie eigentlich (noch) existieren oder nicht. Hätte die Assimilierungspolitik des türkischen und anderer Staaten vollständig zum Erfolg geführt, hätte das kurdische Volk in dem Moment zu existieren aufgehört, in dem sich die letzte Kurdin oder der letzte Kurde nicht länger geweigert hätte, die eigene Identität zu verleugnen und zu "vergessen". Mit der Gründung der PKK war die Frage nach der Existenz des kurdischen Volkes eindeutig und für alle Kurden und Kurdinnen erkennbar beantwortet worden.

Die Referentin skizzierte in ihrem Vortrag die weitere historische Entwicklung der nicht nur in der Türkei, sondern auch in Deutschland verbotenen PKK. Von Anfang an, bei der Gründung 1978, während des Militärputsches von 1980 und auch im Guerillakampf seien Frauen beteiligt gewesen. Mitte der 1980er Jahre habe es dann innerhalb der PKK eine Vertiefung gegeben, mit der sie sich von anderen, um den Sozialismus bemühten Bewegungen abgesetzt hatte. Gönül Kaya referierte über die "Persönlichkeitsanalysen", bei denen die persönlichen, aus der kolonialistischen Gesellschaft stammenden Eigenschaften analysiert werden sollten. Ein heikles Thema, da aus der Außensicht zugeneigter oder auch abgeneigter Beobachter das Urteil, auf diese Weise werde eine Persönlichkeitsformung, um nicht zu sagen ein sozialer Drill durchgeführt, schnell zur Hand sein könnte. Wie Gönül Kaya referierte, sei in der damaligen kurdischen Bewegung der Diskussionsstand so gewesen, daß der Weg zum Sozialismus bei der eigenen Persönlichkeit und dem Denken anfange, weshalb es als sehr wichtig angesehen worden sei, die eigene Persönlichkeit zu befreien. Da der Sozialismus weder Grenzen ziehen noch Mauern bauen sollte, sollte auch eine sozialistische Bewegung so etwas weder errichten noch akzeptieren.

Insbesondere bei den Frauen, so fuhr die Referentin fort, hätte es eine große Unsicherheit aufgrund ihrer gesellschaftlichen Herkunft gegeben. Ab Ende der 1980er Jahre wären in der kurdischen Bewegung immer mehr soziale und gesellschaftliche Fragen dieser Art diskutiert worden, nicht mehr nur ideologische Fragen oder Fragen des Sozialismus. Die Befreiung der Frau stand immer wieder im Zentrum der Analysen und kritischen Diskussionen bis hin zu dem Leitgedanken, daß die Befreiung einer Gesellschaft die Befreiung der Individuen der Bewegung, die um die Befreiung kämpfe, voraussetze. Der Gedanke, daß Befreiung nicht als Perspektive oder Versprechen auf den Tag X verschoben, sondern im Ansatz bereits realisiert und zum Ausgangspunkt des Freiheitskampfes gemacht werden müsse, war Gönül Kayas Ausführungen zu diesem Thema zu entnehmen. Wenn die Befreiung der Frau in einer Gesellschaft nicht stattfände, so ihr Fazit, könne auch von Befreiung nicht die Rede sein, und insofern sei die Revolution in Kurdistan eine Frauenrevolution.

Gönül Kaya während ihres Vortrages - Foto: © 2012 by Schattenblick

"Die Revolution in Kurdistan ist eine Frauenrevolution."
Foto: © 2012 by Schattenblick
Bei den Teilnehmerinnen und Teilnehmern des Kongresses, mögen sie mehrheitlich kurdisch gewesen sein, traf die Referentin mit diesen Ausführungen auf ungeteilte Zustimmung, wie auch auf dem Kongreß insgesamt ungeachtet des überproportional hohen Männeranteils ein, wenn man/frau so wollte, pro-feministischer Grundkonsens vorherrschte, der an keiner Stelle ungeachtet der offensichtlich noch bestehenden Widerspruchslagen in Frage gestellt wurde. Für nichtkurdische Interessierte mit einem von der Geschichte und Gegenwart der bundesdeutschen Linken und/oder der hiesigen Frauenbewegung dominierten Erfahrungs- und Sozialisationshintergrund eröffnete Gönül Kaya mit ihrer engagierten Rede einen von Respekt, Interesse und Solidarität begleiteten Zugang zur Realität der kurdischen Bewegung und Frauenbewegung gleichermaßen, verkörperte sie selbst doch eine Verbindung, über die vielerorts bestenfalls theoretisiert oder spekuliert werde.

Wer verstehen wolle, wie hoch das Niveau der Freiheit in einer Gesellschaft sei, müsse sich das Niveau der Freiheit der Frau ansehen, so Kaya. Im praktischen Freiheitskampf sei dies eine sehr wichtige Frage. Natürlich, so räumte sie ein, genüge es nicht, dies zu erklären, und so komme es darauf an, die Frage der Frauenbefreiung in der kurdischen Bewegung wie auch in der ganzen Gesellschaft auf die Tagesordnung zu setzen. Gönül Kaya nahm Bezug auf die Erfahrungen, die die kurdische Frauenbefreiungsbewegung damit gemacht habe, und erklärte, daß es sehr, sehr wichtig sei, sich nicht von der Gesellschaft zu entfernen. Theoretische Diskussionen zu führen, sei eine Sache, doch dann käme es darauf an, Theorie und Praxis zu verbinden und nicht getrennt voneinander zu sehen. So habe die Bewegung niemals gesagt: Erst die Theorie und dann die Praxis, sondern habe immer vertreten, daß das, was in der Analyse verstanden wurde, auch sofort in der Gesellschaft umgesetzt und in Angriff genommen werden müsse.

In dieser Interaktion mit der Gesellschaft sei es unumgänglich, sich selbst in Frage zu stellen, ja mit sich selbst zu kämpfen, um die Eigenschaften, die das System an einem Menschen hervorgebracht hat und die gerade auch Frauen einengen, zu bekämpfen. Für Revolutionärinnen und Revolutionäre sei diese Kultur der Kritik und Selbstkritik sehr wichtig, denn es ginge nicht an, die ganze Welt zu analysieren, aber bei sich selbst nicht nach Lösungen zu suchen. Für Menschen, die nach Alternativen suchen und sich den weltweit mehr und mehr in Erscheinung tretenden Protestbewegungen zugehörig fühlen, ist dies ein sehr interessanter Gedanke. Aus Sicht der kurdischen Frauenbefreiungsbewegung bedeutet dies, einen aktiven Kampf zu führen und auch die Grenzen zu überschreiten, die der eigenen Persönlichkeit gesetzt sind. "Als kurdische Frauen wissen wir, wie die Frauen in der kurdischen Gesellschaft leben", erläuterte die Referentin, um sogleich darauf abzustellen, daß diese Realität nicht allein in der kurdischen, sondern in allen Gesellschaften des Mittleren Ostens anzutreffen ist.

Sie habe sehr viel mit sich gekämpft, berichtete Gönül Kaya. Dieser Kampf sei zu führen gegen die eigene Unwissenheit und die engen Grenzen der eigenen Familie und nächsten Umgebung, gegen feudale, religiöse und staatliche Grenzziehungen und Verbote und schließlich auch gegen männliche Vorbehalte - und seien es scheinbar gutgemeinte - innerhalb der eigenen Bewegung. All diese Mauern müßten zerschlagen werden! Es reiche nicht aus, sich einfach nur anzuschließen, trügen doch die Individuen die rückständigen Seiten der Gesellschaft in eine Bewegung, die sich der Verwirklichung der Befreiung verschrieben hat ungeachtet aller Hindernisse, die auf diesem Weg überwunden oder beseitigt werden müssen, hinein.

Die 1990er Jahren waren für die kurdische Frauenbewegung eminent wichtig, weil in dieser Zeit sehr wichtige Feststellungen getroffen worden waren. Sehr viele Frauen hätten sich in dieser Zeit der kurdischen Bewegung und dem Befreiungskampf angeschlossen, so daß sich diese Diskussionen noch weiter intensiviert hätten. Wenn in der Frauenfrage keine Revolution stattfände, könne eine Bewegung auch keine gesellschaftliche Revolution machen, so der Tenor. In einer Zeit, in der von dem Begriff "Revolution" in fast inflationär zu nennender Weise Gebrauch gemacht wird im Zusammenhang mit Aufstandsbewegungen wie in einigen Staaten des Nahen Ostens, deren Anbindung an die eigene Bevölkerung und tatsächliche politische Ausrichtung und Zielsetzung in extremer Weise ungeklärt sind, besticht die Art und Weise, wie Gönül Kaya über die kurdischen Erfahrungen berichtet, durch ihre Direktheit und Glaubwürdigkeit.

Ungeachtet der engen Verbindung zwischen der allgemeinen und der Frauenbefreiungsbewegung sei es gleichwohl unverzichtbar gewesen, so fuhr sie fort, daß sich die Frauen eigene, spezifische und autonome Organisationen schufen. Das habe innerhalb des allgemeinen Kampfes stattgefunden. In diesem Zusammenhang sei der Begriff der Frauenarmee geschaffen worden, der erläuterungsbedürftig ist. Der vorherrschende Begriff der Armee sei ein Begriff des patriarchalen Systems und ein Gewaltinstrument. Werde eine Frauenarmee zur Befreiung gegründet, beinhalte dies, das genaue Gegenteil zu tun. Gegen das Verständnis einer männlichen Armee, die plündert und besetzt - auch Körper und Persönlichkeit -, gelte es, Freiheit und das Verständnis einer solchen Frauenarmee aufzubauen. Zur legitimen Selbstverteidigung der Frau gehöre es, eine komplette Verteidigung aufzubauen, auch gegen körperliche und auf das Denken gerichtete Angriffe. Dazu habe die kurdische Frauenbefreiungsbewegung Mitte der 90er Jahre die Theorie der Loslösung entwickelt, die das Losreißen vom Mann, vom System und von der patriarchalen Mentalität beinhaltete.

An dieser Stelle zog die Referentin einen Bogen zur Kernfrage des gesamten Kongresses. Wenn wir gegen die kapitalistische Moderne eine demokratische Moderne schaffen wollen, sei es für die Frauen wichtig, sich vom patriarchalen Denken zu lösen und sich einen eigenen Lebensbereich zu schaffen. Dafür sei es sehr, sehr wichtig, sich auch vom kapitalistischen System zu lösen. Täte frau dies nicht, wäre die Suche nach einer Lösung wie ein Döner, der sich dreht - man komme wieder im Kapitalismus an. Die kurdische Frauenbefreiungsbewegung habe deshalb eine eigene Ideologie entwickelt, die auf fünf Prinzipien beruhe, die Gönül Kaya am Ende ihres Vortrages kurz erläuterte.

Der erste Punkt beträfe den politischen Kampf um einen Bereich, einen Ort der Freiheit, an dem die Frauen so leben könnten, wie sie es wollten. Dabei gehe es auch um die Verbindung zu Kurdistan wiewohl dieser Kampf auch unabhängig von einem bestimmten Territorium geführt werde. In diesem Zusammenhang gehe es auch um ökologische Fragen verstanden als das Recht, das Land und auch den Boden zu befreien. Der zweite Punkt berühre die Selbstaufklärung der Frauenbefreiungsbewegung, ist doch die Geschichte der (kurdischen) Frau noch immer eine ungeschriebene. Die eigene Geschichte, das eigene Bewußtsein zu erforschen sei aus ideologischen Gründen sehr wichtig.

Das dritte Prinzip beträfe die Organisierung der Frauen als Frauen, was die Referentin als eine Vorbedingung bezeichnete, um eine (weibliche) Gesellschaft innerhalb der Gesellschaft zu schaffen. Ein Individuum könne sich nur auf dem Wege der gesellschaftlichen Organisierung entwickeln. Das vierte Prinzip beträfe das grundsätzliche Verständnis, daß die Frage der Befreiung eine Frage des Kampfes sei. Es müsse den Frauen klar sein, daß sie nichts erreichen können, ohne darum zu kämpfen, und so müsse auch eine Haltung wie "Ach, nehmt mich doch bitte ernst" bekämpft werden. Der fünfte und letzte Punkt beinhalte ein generelles Infragestellen des Sexismus in all seinen Ausprägungen bis hin zu ästhetischen Maßstäben, die der Frau vorschrieben, wie sie zu gehen und auszusehen oder wie sie zu sprechen und sich in der Kunst auszudrücken habe.

Zum Abschluß ihrer Rede kam Gönül Kaya noch auf Abdullah Öcalan zu sprechen. Ihn im Zusammenhang mit der Frauenbewegung und -befreiung nicht zu erwähnen, hielten die kurdischen Frauen für ungerecht, dies stünde ihrem weiblichen Gerechtigkeitsempfinden entgegen. Die Referentin begründete dies damit, daß der langjährige PKK-Vorsitzende und -Mitbegründer das patriarchale Denken und sich selbst stets in Frage gestellt habe. Den Mann in mir zu töten, habe er das genannt und gesagt, wenn ihm dies gelänge, wäre das ein revolutionärer Schritt. Öcalan habe die gesellschaftlichen Widersprüche nicht nur auf die nationale Frage, sondern von Anfang an auch auf das Verhältnis der Geschlechter bezogen. In diesem Verständnis seien Revolutionärinnen und Revolutionäre, so erläuterte die kurdische Journalistin, "nicht die, die im Namen der Gesellschaft Revolution machen, sondern die, die die Hindernisse dafür aus dem Weg räumen, daß die Gesellschaft ihre Revolution selber macht". Dies sei auch die Haltung Abdullah Öcalans gegenüber der Frauenbefreiung gewesen, dies habe er in der Praxis unter Beweis gestellt, dafür stehe er auch mit seinem Leben ein.

Abdullah Öcalan hatte zum 1. September 1998 einen bedingungslosen Waffenstillstand der PKK ausgerufen. Am 15. Februar 1999 war er nach monatelanger Odyssee von Kenia in die Türkei verschleppt worden. Auf der Gefängnisinsel Imrali, auf der er noch heute unter extremen Isolationsbedingungen gefangengehalten wird, wurde er im Juni 1999 zum Tode verurteilt. Um die (bis heute nicht erfolgte) EU-Aufnahme nicht zu gefährden, wurde dieses Todesurteil in eine lebenslängliche Freiheitsstrafe umgewandelt. Nach Feststellungen auch einer deutschen Behörde hat die PKK wenig später, im Jahre 2000, ihrem vorherigen Kernziel, nämlich einen autonomen kurdischen Staat auf türkischem Gebiet errichten zu wollen, ebenso wie der Gewalt abgeschworen und sich auf eine ausschließlich demokratische Durchsetzung ihrer politischen Ziele festgelegt [1]. Die ausgestreckte Hand Öcalans und der durch ihn repräsentierten Kurdinnen und Kurden wurde vom türkischen Staat allerdings bis heute nicht ergriffen.

All dies brauchte Gönül Kaya in ihrem Vortrag nicht zu erwähnen. Über den Kreis interessierter wie betroffener Kurdinnen und Kurden hinaus warf ihr Vortrag Fragen auf, die auch in der Bundesrepublik Deutschland in politischer, kultureller und nicht zuletzt auch wissenschaftlicher Hinsicht auf die Tagesordnung gebracht gehörten, um den demokratischen Anspruch nicht vollends zu korrumpieren. Wie ist es beispielsweise zu erklären, daß es einem Sakrileg und Bruch der zu Gebote stehenden politischen Opportunität gleichkommt, einen Menschen wie Abdullah Öcalan zu erwähnen, der von Kindesbeinen an ein Empfinden und Verständnis zu Fragen der Gerechtigkeit, Befreiung und Würde hat, wie es folgenden, von ihm selbst Ende 1998 während seines Exils in Rom formulierten Textpassagen zu entnehmen ist? [2]


Einmal kamen Leute zu uns, die zwei Tage gereist waren, weil sie um die Hand meiner Schwester anhalten wollten. Dabei hatten sie sie vorher noch nicht einmal gesehen. Für ein paar Säcke Weizen und gegen Zahlung von ein paar Groschen haben sie sie bekommen. Diese Art, mit Menschen umzugehen, verurteile ich heute noch. Ich sagte damals: "Wie ist es möglich, dass so etwas passiert? Da kommt ein Mann zu uns, legt ein wenig feudales Gehabe an den Tag (er war ein Untergebener des Agha) und nimmt unsere Schwester einfach mit! Wie schade um sie!" Natürlich hatte ich nicht die Mittel und Wege, mich dagegen zur Wehr zu setzen. Sie war weg.

Ein anderes Mädchen aus unserem Dorf hatten sie unter Zwang verheiratet, erbarmungslos, unter Verabreichung von Ohrfeigen. Das Mädchen, ein Bauernmädchen übrigens, beugte sich dem Mann nicht, sondern flüchtete vor ihm. Als ich sie das erste Mal sah, bat sie mich, ihr das Lesen und Schreiben beizubringen. Ich muss oft an sie denken und an meine Ohnmacht in jener Situation. Ich konnte ihr nur ein paar Worte sagen, mehr konnte ich zu meinem großen Bedauern nicht für sie tun.

Damals hatte ich keine Macht. Heute räche ich das Mädchen, indem ich versuche, die Gesellschaft zu ändern. Es wäre schön, wenn solche Formen des Zusammenlebens nie existiert hätten. In der Gesellschaft, für die ich kämpfe und die ich herbeisehne, wird es keine solchen Frauen mehr geben.


Anmerkungen:

[1] Petra Lechtenböhmer vom Verfassungsschutz Nordrhein-Westfalen, zitiert in: Vor 25 Jahren - Die PKK wird gegründet. DeutschlandRadio Berlin - KalenderBlatt. Von Tobias Mayer. 27.11.2003

[2]:Quelle: Kurdistan und die Probleme um Öcalan, von Dr. Namo Aziz, erschienen in der Reihe "Krisen Konflikte Kommentare" der Edition Gallas, München, 1. Auflage 1999; daraus zitiert aus dem Beitrag von Abdullah Öcalan: "Wenn du leben willst, dann lebe in Freiheit", S. 153/154


(Fortsetzung folgt)

5. März 2012