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BERICHT/125: Kapitalismus final - Krieg Ratio der Ohnmacht (SB)


Tobias Pflüger über "Krieg als Mittel der Krisenbewältigung?"

Veranstaltung am 21. September 2012 in Hamburg-Rotherbaum



Die Zeichen stehen auf Krieg, denn es ächzt im Gebälk der kapitalistischen Weltwirtschaft. Über die permanente Begleiterscheinung imperialistischer Politik, neue Verwertungschancen auch mit militärischen Mitteln zu erschließen und zu sichern, hinaus kulminiert die Kriegsgefahr in dem zentralen Widerspruch, daß ein auf permanentes Wachstum abonniertes Wirtschaftssystem unausweichlich an die absoluten Grenzen seiner materiellen Reproduktion stößt. Der wichtigste Träger fossilistischer Energieerzeugung, das Erdöl, geht zur Neige, was auch mit dem anwachsendem technischen und finanziellen Aufwand bei der Erschließung neuer Förderstätten nicht mehr kompensiert werden kann. Die ungebrochene Zunahme CO2-intensiver Energieerzeugung auch durch die Stromerzeugung aus Kohle verschlechtert durch die verödende Wirkung des Klimawandels die weltweite Ernährungslage, die durch die Kraftstoffgewinnung aus Getreide, durch die agrarindustrielle Auslaugung der Böden, die Überfischung der Meere, den ineffizienten Verbrauch von Feldfrüchten für die Tierzucht und den zunehmenden Wassermangel in den bevölkerungsreichen Regionen des Südens zusätzlich verschärft wird.

Die aus diesen und weiteren sozialökologischen Problemen resultierenden Spannungen alleine bergen ein erhebliches Gewaltpotential in sich, das in einer Welt, in der lebensbedrohliche Armut und überbordender Reichtum in unmittelbarer Nachbarschaft "friedlich" koexistieren, permanent zur Explosion drängt. Seit dem offenen Ausbruch der sehr viel länger währenden und mit finanzkapitalistischen Mitteln auf die lange Bank geschobenen Krise des Kapitals vor fünf Jahren wird die Parole Georg Büchners, der 1834 mit einer revolutionären Flugschrift "Friede den Hütten! Krieg den Palästen!" proklamierte, von den Kommandohöhen auf gegenteilige Weise beantwortet. Um den Frieden der herrschenden Eigentumsordnung zu sichern, werden die immer baufälligeren Hütten der Armen nicht mehr nur in den Ländern des Südens, sondern auch in den europäischen und nordamerikanischen Metropolengesellschaften mit einem sozialen Krieg überzogen, der ihre mittellosen und lohnabhängigen Bevölkerungen vor die Wahl "Friß oder stirb!" stellt.

Da es sich dabei um keine handelt, sondern die Zwangslogik der neoliberalen Marktdoktrin frei nach dem von Thatcher propagierten TINA-Prinzip ("There is no alternative") mit existenzbedrohender Gewalt durchgesetzt wird, regt sich immer mehr Widerstand auch gegen einen gesellschaftlichen Frieden, der von seiner kriegerischen Artikulation insofern ununterscheidbar ist, als kapitalistische Mangelproduktion und Mehrwertabschöpfung das in beiden Fällen fungierende Gewaltverhältnis benennen. Was einem von Hunger und Krieg betroffenen Menschen unmittelbar einleuchten mag, erscheint in Gesellschaften, in denen ein Vielfaches dessen an Waren konsumiert und Ressourcen zerstört wird, was mehrheitlich von notdürftiger Substitution lebende Bevölkerungen auf die Waage des globalen Bestands endlicher Lebensmöglichkeiten bringen, als abwegige und übertriebene Sicht der Dinge.

Diese Diskrepanz in den globalen Lebenswirklichkeiten spiegelt sich auch im Widersinn eines militärischen "Stabilitätsexports" in "gescheiterte Staaten" und dem namenlosen Tod, den dort Tausende von Menschen erleiden, weil sie an einer von außen aufoktroyierten Staats- und Gesellschaftssform genesen sollen. Wie sehr der Friede der Paläste andernorts zum Krieg der Hütten führt, hat viel mit dem sozialen Gefälle zu tun, das den unterschiedlichen Produktivitätsniveaus zwischen verschiedenen Weltregionen entspricht. Wenn sich Arbeiterinnen in chinesischen Megafabriken, in denen unter härtesten Bedingungen Luxusgüter für den westlichen Markt produziert werden, reihenweise umbringen oder ihren Vorgesetzten an die Kehle gehen, dann sind das Auswirkungen eines Gewaltverhältnisses von ganz materieller Art. Das gilt auch für den Feuertod fast der halben Belegschaft einer Textilfirma in Pakistan, die für europäische Endkunden Kleidung herstellte und dem an sie weitergereichten Kostensenkungsdruck durch die Einsparung angemessener Brandschutzvorrichtungen Rechnung trug.

Wenn bei Drohnenangriffen in Pakistan im Namen universaler Menschenrechte ganze Familien ausgelöscht werden, dann betreffen die geostrategischen Erfordernisse der Aggressoren auch die dauerhafte Durchsetzung einer Gesellschaftsordnung, die die Kapitalakkumulation in den hochproduktiven Zentralen der Weltwirtschaft mit der kostengünstigen Verwertung dort so reichlich verfügbarer "Human Resources" befeuern, daß dieser Begriff auch im wortwörtlichen Sinne zutrifft, wie der florierende Transplantationstourismus und Menschenhandel belegt. Die chinesischen iSlaves [2] bleiben dem stolzen Besitzer eines iPhones so unbekannt wie die pakistanischen Frauen, Kinder und Männer, deren Tod zugleich ausbeutbar macht und auf Abstand hält, was den in den Konzernzentralen und Banken Westeuropas, Nordamerikas und Japans endenden Wertschöpfungsketten unentbehrlich ist - menschliche Arbeit als Ausgangspunkt jeder noch so von ihren wertbildenden Grundlagen abgehobenen finanzkapitalistischen Akkumulation.

Beim Vortrag - Foto: © 2012 by Schattenblick

Tobias Pflüger
Foto: © 2012 by Schattenblick


Krisenmanagement mit militärischen Mitteln ...

Der vielschichtige Zusammenhang von Krieg und Krise stand im Mittelpunkt des Vortrags, den der Linkspolitiker und Antimilitarist Tobias Pflüger im Rahmen der Veranstaltungsreihe "Kapitalismus in der Krise" [3] im Hamburger Curiohaus hielt. Zu Beginn verwies er auf den in den NATO-Staaten gültigen erweiterten Sicherheitsbegriff, nach dem der Einsatz militärischer Mittel nicht mehr nur zur Landesverteidigung oder der Verteidigung eines Raumes der kollektiven Sicherheit, sondern auch zur Gewährleistung der Nichtverbreitung von Massenvernichtungswaffen, der Ressourcensicherung, des internationalen Handels und Kapitalverkehrs wie der Abwehr von Migrationsströmen legitim ist. Begründet wird die dadurch bedingte Relativierung der in der UN-Charta verankerten Rechtsnorm des Gewaltverbots und der Souveränität staatlicher Rechtssubjekte unter anderem mit der angewachsenen gegenseitigen Abhängigkeit der globalisierten Staatenwelt, der Angreifbarkeit hochentwickelter technischer Infrastrukturen durch terroristische Anschläge und der angeblichen Schutzverantwortung (Responsibility to Protect) der Vereinten Nationen für Bevölkerungen, die Menschenrechtsverletzungen durch ihre Regierungen ausgesetzt sind.

Was im Klartext die willkürliche Ermächtigung zum Führen kriegerischer Aggressionen meint, findet seine ideologische Entsprechung in der Doktrin des postmodernen Imperialismus, die von dem britischen Sicherheitspolitiker Cooper in dem Text "The Post-Modern State" artikuliert wurde. Er wurde im März 2002 in einer Publikation des Foreign Policy Centre zu den Folgen des 11. September 2001 veröffentlicht:

"Die neue Herausforderung für die postmoderne Welt besteht darin, sich an die Idee zu gewöhnen, dass Doppelmoral zum Alltag gehört. Innerhalb der postmodernen Welt können alle beteiligten Akteure auf der Basis von in gemeinsamen Beschlüssen abgesegneten Gesetzen und einer offenen kooperativen Sicherheit miteinander in Eintracht leben. Aber wenn man es mit altmodischeren Systemen außerhalb des postmodernen Kontinents Europa zu tun bekommt, müssen wir auf die rauheren Methoden einer früheren Ära zurückgreifen: Gewalt, Präventivschläge, Betrug und was immer notwendig wird, um mit denen, die noch immer im 19. Jahrhundert leben, zurecht zu kommen."[4]

Cooper, der als Generaldirektor für Außen- und Politisch-Militärische Angelegenheiten beim EU-Rat 2003 maßgeblich an der Erarbeitung der Europäische Sicherheitsstrategie (ESS) beteiligt war, kehrte mit dieser Einteilung der Welt in eine nach Lesart neokonservativer Ideologen "zivilisierte" und "barbarische" Sphäre zur Frühzeit eines kriegsrechtlichen Verständnisses zurück, das aus dem universalen Anspruch christlicher Werte alle anderen Kulturen zur Beute eigener Reichtumsbildung erklärte:

"Für die Ausdehnung der europäischen Welt über Europa hinaus, ohne dabei die nichteuropäischen Gemeinwesen als gleichgestellte in das Völkerrecht einzubeziehen, waren die sogenannten lines of amity oder Freundschaftslinien charakteristisch. Dabei handelte es sich um Trennungslinien rechtlicher Ausgrenzung, der Unterscheidung zwischen einem auf die europäische Welt beschränkten Rechtsraum und einem solchen, der als rechtsfrei galt. Jenseits, westlich dieser Linie, beyond the line, die sich zum westlichen Meridian verdichtete, herrschte anstatt des europäischen Rechts und Friedens die Anwendung unmittelbarer Gewalt, Raub und Plünderungen als Formen des Verkehrs vor." [5]

Was zu jener Zeit vor allem das neuentdeckte Amerika betraf, scheint heute für die Region des Nahen und Mittleren Osten zu gelten. Der 2001 von den USA begonnene "Global War Against Terrorism" hat die Region mit einer Serie militärischer Interventionen überzogen, die dem von Pflüger erklärten Zweck des Kriegs als Mittel zur Ablenkung von der Krise allemal erfüllen. Das dadurch fortgeschriebene Feindbild des "islamistischen Terrorismus" hat in den USA und der EU zu einer Welle des antimuslimischen Rassismus geführt, der in dem gegen Migrantinnen und Migranten gerichteten Vorwurf kultureller Rückständigkeit und wirtschaftlicher Unproduktivität ein starkes Moment nationalistischer und kulturalistischer Selbstvergewisserung freisetzt. Die Selbstverständlichkeit, mit der die zum Terrorkrieg mutierte Abwehr des Terrorismus zu Lasten der Bevölkerungen mehrheitlich islamischer Gesellschaften geht, korrespondiert mit der Verdächtigung migrantischer Gruppen als potentielle Terroristen und den dadurch geschaffenen Vorwänden zur Verschärfung staatlicher Repression aufs effizienteste.

Der Ausbau des staatlichen Gewaltmonopols zu Lasten demokratischer Grund- und Freiheitsrechte korrespondiert mit den Auslandseinsätzen der Bundeswehr auf paradoxe Weise, wenn unterstellt wird, daß es sich dabei quasi um die zweite Verteidigungslinie gegen den in Afghanistan bekämpften Terrorismus an der Heimatfront handle. Umgekehrt wird ein Schuh draus - der Export nicht etwa von Ordnung und Stabilität, sondern Armut und Gewalt in die von Ressourcen- und Hegemonialinteressen der Aggressoren betroffene Peripherie des HighTech-Kapitalismus muß mit repressiven Mitteln gegen jede Form des Widerstands abgesichert werden. Die Doktrin der asymmetrischen Kriegführung meint nicht nur die Verletzlichkeit hochgerüsteter Besatzungsarmeen durch leichtbewaffnete Partisanen, sie soll jeder denkbaren Umkehr des damit aus der Sicht der Stärkeren beschriebenen Gewaltverhältnisses vorbauen.

Pflügers These, daß der Vorbildcharakter dieser großen Interventionen in letzten zwei Jahren durch das Modell Krajina abgelöst wurde, daß also der direkte Kampfeinsatz westeuropäischer und nordamerikanischer Streitkräfte an einheimische Akteure delegiert wird und diese Kriege durch die NATO koordiniert, alimentiert und militärisch aus der Luft flankiert werden, findet im Libyenkrieg und in dem Konflikt in Syrien ihre Bestätigung. Für diese paradigmatische Veränderung, so Pflüger zur entsprechenden Entwicklung in der Bundesrepublik, sei die Zivil-Militärische Zusammenarbeit signifikant, werde mit ihr doch die Militarisierung bis herunter auf die Verwaltungsebene betrieben. Die Einrichtung sogenannter Regionaler Sicherungs- und Unterstützungskräfte (RSUKr) der Bundeswehr in der Bundesrepublik erfolgt nicht umsonst unter dem Titel des "Heimatschutzes" [6], in dem nationalchauvinistische Ressentiments widerhallen, denen die zivilmilitärische Zusammenarbeit auch ein probates Mittel zur Konditionierung der Gesellschaft auf apologetische Beißreflexe und ihre selektierende Durchdringung in Sicht auf die ideologische Zuverlässigkeit ihrer Mitglieder ist.

Folie von Tobias Pflüger zur Zivil-Militärischen Zusammenarbeit - Foto: 2012 by Schattenblick

Aufstandsbekämpfung im Technokratenjargon ...
Foto: 2012 by Schattenblick


... und der Definitionsmacht der Rechtsprechung

Als ob die schleichende Militarisierung der Inneren Sicherheit, die Pflüger exemplarisch am Beispiel der Proteste gegen den G8-Gipfel in Heiligendamm und die dabei zur Sicherung und Observation eingesetzten Spähpanzer und Tornado-Kampfflugzeuge der Bundeswehr schilderte, nicht genügte, hat das Bundesverfassungsgericht am 17. August verkündet, daß der bewaffnete Einsatz der Bundeswehr im Innern auch unterhalb des Inkrafttretens der Notstandsverfassung prinzipiell möglich ist. Der im Mittelpunkt eines solchen Einsatzes stehende Begriff der Katastrophe ist, wie Pflüger erklärte, dabei so unbestimmt, daß er sich als Einfallstor für mit militärischen Mitteln durchgesetzte repressive Maßnahmen aller Art anbietet. Betrachtet man die Argumentation der Verfassungsrichter anhand des Urteils [7] genauer, dann zeigt sich, daß vermeintliche Offenlassungen und Unschärfen in den Beratungen zur Vorbereitung der Notstandsgesetzgebung des Jahres 1968 zum Ausgangspunkt von Schlußfolgerungen genommen werden, die das vorliegende Ergebnis der höchstrichterlich anerkannten Verfassungskonformität des bewaffneten Einsatz der Streitkräfte im Innern nicht zwingend hätten ergeben müssen.

Dies belegt auch das Sondervotum des Verfassungsrichters Reinhard Gaier, der aus der einem bewaffneten Einsatz der Bundeswehr im Innern im Katastrophenfall zustimmenden Plenarentscheidung beider Senate des Karlsruher Gerichts ausscherte und mit einer, wie Pflüger empfahl, lesenswerten Kritik des Urteils [7] erkennen ließ, daß das Gericht auch anders hätte entscheiden können. Bedenkt man, daß die Frage des Bundeswehreinsatzes im Innern aufgrund des damals gescheiterten Versuchs der Großen Koalition verhandelt wurde, für die Befugnis des Inlandeinsatzes der Streitkräfte 2009 eine Veränderung des Grundgesetzes zu erwirken, die den Schutz der Bevölkerung vor Mißbrauch des staatlichen Gewaltmonopols erheblich geschwächt hätte, stellt man zudem den Anlaß dieser Debatte, die Verabschiedung des Luftsicherheitsgesetzes zur Verhinderung von Anschlägen nach dem Vorbild des 11. September 2001 im Jahre 2005, in Rechnung, dann ist die Absicht des Staates, sich Mittel zur bewaffneten Aufstandsbekämpfung an die Hand zu geben, ohne dafür eigens den Spannungsfall oder Notstand ausrufen zu müssen, eindeutig. Da das damals geplante und im Urteil des Karlsruher Gerichts auch dieses Mal nicht stattgegebene Abschießen eines mutmaßlich gekaperten Passagierflugzeugs der Präventivlogik der Gefahrenabwehr folgt und der militärische Waffeneinsatz in vergleichbaren Fällen, bei denen ein größerer Schadensfall erwartet wird, einem terroristischen Anschlag mit offensiven Mitteln vorgreifen soll, sind Szenarien aller Art vorstellbar, in denen etwa aufgrund von Geheimdienstinformationen oder anderen Indizien mit massiver Gewalt gegen Zivilisten vorgegangen wird.

Tobias Pflüger, der diesen Sinneswandel der Karlsruher Richter für einen Dammbruch in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts hält, hofft darauf, daß sich aus den Kreisen der Gewerkschaften Widerstand gegen diese Verfassungsauslegung und die dadurch beschleunigte Militarisierung der Gesellschaft mobilisieren läßt. Sie wären bei einer militärischen Unterdrückung von Streiks, denen laut gängiger Terrorismusdefinitionen etwa die Beinträchtigung der wirtschaftlichen Funktionen eines Staates zur Last gelegt werden könnten, direkt betroffen. Eben diesem Widerstand von vornherein mit einer solchen Gewaltandrohung die Basis zu entziehen ist das naheliegende Motiv einer politischen Funktionselite, die anhand der sozialen Massenproteste in Südeuropa fast täglich studieren kann, welcher Mittel es bedarf, die Diktatur der "Märkte" und den Bestand kapitalistischer Verwertung zu sichern. Die damit verbundene Aufkündigung des gegen die Gefahr diktatorischer Entwicklungen wie im NS-Staat gerichteten Gründungskonsenses der Bundesrepublik zeigt, daß der geschichtsfeindliche Charakter der neoliberalen Gesellschaftsdoktrin wider alle behauptete Staatsferne fest im Anspruch auf die Nutzung des staatlichen Gewaltmonopols zum Schutz der kapitalistischen Eigentumsordnung verankert ist.

Folie von Tobias Pflüger zu Neuen Kriegen - Foto: 2012 by Schattenblick

Kriegführung im Wandel
Foto: 2012 by Schattenblick


Die soziale Frage im Fokus - Herrschaftsicherung innen wie außen

Für den Referenten fungiert Krieg auch als Ablenkungsmanöver von sozialen Mißständen, wie er am Beispiel der israelischen Proteste gegen Wohnungsnot ausführt. Die Regierung Netanjahu erhebt die angebliche Bedrohung aus dem Iran zum wichtigsten Thema ihrer Amtsführung und verhindert damit, daß die sozialen Proteste gegen die auch im wohlhabenden Israel um sich greifende Verelendung das politische Geschehen bestimmen.

Die Regierung Israels suggeriert der Bevölkerung darüberhinaus eine Art permanenten Belagerungszustand, ohne einzugestehen, daß sie eine nicht im Zusammenhang zu eigener Gewaltanwendung stehende äußere Aggression erst plausibel machen kann, wenn die Unterdrückung der Palästinenser durch den von ihr geförderten Siedlerkolonialismus beendet wäre. Eine hochmilitarisierte Gesellschaft wie die Israels bewegt sich nicht nur aufgrund von Feindseligkeiten, die mit der eigenen Politik nichts zu tun haben, am Rande des Ausnahmezustands, sie bedient sich der daraus entstehenden Unsicherheit, um das Volkskollektiv auf eine Politik einzuschwören, die für diese prekäre Lage maßgeblich verantwortlich zeichnet. Ein ähnliches Vorgehen läßt sich auch in der BRD feststellen, wo die Anschläge des 11. September 2001 zu einer massiven Einschränkung der Bürgerrechte und der Einschüchterung der Bevölkerung durch die mögliche Kriminalisierung sozialen Widerstands führten.

Eine weitere Möglichkeit, Krieg neben seiner Instrumentalisierung zur Herrschaftsicherung als Mittel zur Krisenbewältigung einzusetzen, sieht Pflüger in der Profitmaximierung der Rüstungsindustrie. Steigende Rüstungausgaben weltweit - sie stiegen 2011 auf 1,73 Billionen Dollar, laut dem Friedensforschungsinstitut SIPRI 2,5 Prozent des weltweiten Bruttoinlandsprodukts - stehen sinkenden Mitteln für die Bekämpfung des Hungers gegenüber. Das Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen (WFP) bedarf zur Erfüllung seiner Aufgaben eines Jahresbudgets von mindestens 6 Milliarden Dollar, die allerdings von den Geberländern eigens bewilligt werden müssen, so daß die real verfügbaren Mittel inzwischen knapp die Hälfte dieser Summe erreichen. Ein Frieden, für den weltweit mehrere Zehntausend Hungertote täglich zum Normalszustand gehören, ist mithin auch Ausdruck einer sozialen Kriegführung, in der die Rentabilität der Kapitalverwertung zu Lasten dafür nicht mehr verwertbarer Menschen absolut gesetzt wird.

Das Rekordgeschäft, das die Kriegsgefahr in Nahost der Rüstungsindustrie beschert hat, ist einer der wenigen Aktivposten der von einem notorischen Leistungsbilanzdefizit gebeutelten US-Wirtschaft. Sie kann sich eine Verdreifachung der Rüstungsexporte von 21,4 Milliarden 2010 auf 66,3 Milliarden Dollar 2011 zuguteschreiben, womit drei Viertel der globalen Rüstungsexporte auf US-Firmen entfallen. An diesem Beispiel läßt sich auch eine geradezu idealtypische Symbiose von Staat und Kapital illustrieren - die Aufrüstung mit den USA verbündeter Staaten des Nahen und Mittleren Ostens geht Hand in Hand mit einer strategischen Doktrin, die die Pax Americana als nach wie vor gültiges Kommando der Weltgewaltordnung durchsetzt.

In deren Windschatten zu segeln, um die eigene imperialistische Agenda aufzubauen, ist Politik der Bundesregierung, was die Bundesrepublik auf Platz drei unter den Staaten, die Kriegswaffen exportieren, gebracht hat. Auch hierzulande ist die Regierung der Ansicht, daß die eigenen geostrategischen Interessen Vorrang vor Bedenken zur zerstörerischen Wirkung von Waffenexporten haben soll. In diesem Zusammenhang verweist Pflüger auf die "Merkel-Doktrin", laut der strategische Gründe bei der rüstungstechnischen Ausstattung von Streitkräften im Nahen Osten Vorrang vor der bisher gültigen Exportpolitik, aus friedenspolitischen Gründen keine Waffen in Spannungsgebiete zu liefern, haben soll. Zwar gibt es dazu keine positive Bestätigung der Bundesregierung, die derartige Entscheidungen in nichtöffentlicher Sitzung im Bundessicherheitsrat fällt, doch soll etwa eine Reform des Außenwirtschaftsrechts geplant sein, um "deutsche Sondervorschriften aufzuheben, die deutsche Exporteure gegenüber ihren europäischen Konkurrenten benachteiligen" [9]. Zudem soll Bundeskanzlerin Merkel auf dem NATO-Gipfel in Chicago im Mai versucht haben, eine Liste von Drittstaaten aufstellen zu lassen, mit denen Rüstungsgeschäfte aus strategischen Gründen erlaubt sein sollten [10].

Der Versuch, strategische Ziele durch die Aufrüstung von Regimes wie Saudi-Arabien oder Katar zu erreichen, schließt die operative Beteiligung der Bundeswehr an der Kriegführung der NATO oder EU nicht aus. Die dazu durchgeführte Streitkräftereform hat aus einer Verteidigungsarmee eine "Armee im Einsatz" geschaffen, deren Kampfkraft nicht mehr wie in den Zeiten des Kalten Krieges, als von großdimensionierten Landkriegen ausgegangen wurde, aus einer großen Zahl verfügbarer Truppen resultiert, sondern aus der hochgradigen Flexibilität, Mobilität, Spezialisierung und Interoperabilität mit anderen NATO-Streitkräften. Eine zahlenmäßig kleinere, aber weitaus schlagkräftigere Berufsarmee hat zudem den Vorteil, daß die dabei erreichte Professionalisierung der Soldaten eine höhere Zuverlässigkeit bei der inneren Aufstandsbekämpfung gewährleistet, für die eine Wehrpflichtarmee nur bedingt tauglich wäre.

So werde die Krise auch dazu genutzt, die letzten Barrieren zu schleifen, die - wie der Parlamentsvorbehalt, der Verteidigungsauftrag oder das Verbot des bewaffneten Einsatzes im Innern - machtpolitischer Willkür Grenzen setzen sollen. Dies bestätigte sich auch in Berichten einiger Aktivistinnen, die an dem Antimilitarismuscamp "War Starts Here" gegen das im Aufbau befindliche Gefechtsübungszentrum (GÜZ) der Bundeswehr [11] in der Altmark bei Hillersleben/Magdeburg Mitte September beteiligt waren. Nachdem die Behörden mit Hilfe einer Ausnahmeverfügung sämtliche Versammlungen unter freiem Himmel in einem drei Landkreise umfassenden Gebiet von etwa 400 Quadratkilometern rund um das GÜZ verboten hatten und nach Anrufung eines Gerichts lediglich eine Demonstration vor den Toren des Geländes erlaubt worden war, wurden die Aktivistinnen bei Betreten und Verlassen des Camps umfassenden Kontrollen unterzogen. Autos wurden durchsucht, die Kriegsgegner mußten ihre Personalien verifizieren, sie mußten ihre Taschen öffnen und auch körperliche Untersuchungen über sich ergehen lassen.

Als besonders auffällig schilderten die Aktivistinnen die reibungslose Zusammenarbeit zwischen Polizei und Bundeswehr. So führten Feldjäger Hand in Hand mit Polizeibeamten Kontrollen durch, in einem Ort, in dem die Kriegsgegner eine Mahnwache abhielten, wurde ein gemeinsames Pressezentrum von Bundespolizei und Bundeswehr eingerichtet, und die Polizei bewegte sich auf dem Gelände der Bundeswehr ebenso selbstverständlich wie die Bundeswehr im öffentlichen Raum außerhalb dessen. Wie sehr zivile und militärische Repression zusammenwüchsen, wäre ihr seit den G8-Protesten in Heiligendamm noch nie so deutlich geworden, meinte eine Aktivistin, während eine 75jährige Frau, die das Camp besucht hatte, sich über die erniedrigenden Kontrollen empörte. So versuchten 1000 Polizisten und 500 Feldjäger, jegliche Aktivitäten der 300 Demonstrantinnen und Demonstranten zu unterbinden, was ihnen allerdings nicht gelang.

Für Tobias Pflüger sind die Ereignisse um die Proteste gegen das GÜZ ein Symptom dessen, was noch bevorsteht, wenn die Militarisierung der Gesellschaft die fortschreitende Aussetzung demokratischer Rechte bewirkt. Die Möglichkeit, dieser Entwicklung mit juristischen Mitteln entgegenzutreten, führt zwar immer wieder zum Erfolg, doch ändert das nichts an dem autoritären Vorgehen des Staates, das Versammlungsrecht auf kurzem Weg auszusetzen. So wurden Ulla Jelpke und Tobias Pflüger als Anmelderin und Anmelder des Sternmarsches gegen den G8-Gipfel von Heiligendamm 2007 im August vom Oberverwaltungsgericht (OVG) Greifswald [12] zugestanden, daß die selbsterstellte Gefahrenanalyse der Polizei nicht gültig war und die Interessen der Demonstranten nicht berücksichtigt wurden. Die Anerkennung der Rechtswidrigkeit des Demonstrationsverbotes fünf Jahre später hatte dennoch keine Auswirkungen auf die wenige Wochen später erfolgte Verbotsverfügung, mit der die Proteste gegen das GÜZ verhindert werden sollten. Auch hierzu wird, wie Pflüger ankündigte, ein Musterprozeß stattfinden, was zweifellos besser ist, als die fortgesetzte Aushöhlung des Versammlungsrechtes stillschweigend hinzunehmen. Auch wurde dem Komitee für Grundrechte und Demokratie vom Verwaltungsgericht Frankfurt vor wenigen Tagen attestiert, daß das Verbot ihrer für den 17. Mai angemeldeten Versammlung "Für das uneingeschränkte Grundrecht auf Versammlungsfreiheit" rechtswidrig war. Das umfassende Verbot der Blockupy-Proteste, das Anlaß für diese Demonstration war, bleibt davon jedoch unberührt.

Tobias Pflüger - Foto: © 2012 by Schattenblick

Stärkt in der Partei Die Linke antimilitaristische Positionen
Foto: © 2012 by Schattenblick


Krieg und Kapitalismus auf einer Seite des Widerspruchs

Wie die Faust auf das von so viel euphemistischer Realitätsverdrehung tränende Auge dokumentiert die Verleihung des Friedensnobelpreises an die Europäische Union die Ambivalenz eines Begriffs vom Frieden, der selbst in der offenkundigsten Anwendung militärischer Gewalt als solcher bekräftigt wird. Die zahlreichen Belege dafür aufzuzählen, daß die Agenda der EU theoretisch wie praktisch die gewaltsame Durchsetzung ihrer konstitutiven neoliberalen Ordnung innen wie außen vorsieht, sprengt den Rahmen dieses Beitrags. Daher lohnt ein Blick in den mit prognostischer Klarsicht von Sabine Lösing und Jürgen Wagner verfaßten Text "EU-Militarisierung 2020: Ein Blick in die Kristallkugel" [13], veröffentlicht von der Informationsstelle Militarisierung e.V. (IMI), an deren Gründung Tobias Pflüger wesentlichen Anteil hatte. Die dort unter anderem geschilderten Vorkehrungen zur Aufstandsbekämpfung auf EU-Ebene im Rahmen der sogenannten "Solidaritätsklausel" werfen angesichts der sozialen Erschütterungen in der Eurozone, der Riots im spätkapitalistischen Britannien und der Massenarmut in den noch nicht zur Eurozone gehörigen EU-Mitgliedstaaten Osteuropas ihren Schatten voraus.

"Krieg als Mittel der Krisenbewältigung?" - im Rahmen einer Veranstaltungsreihe, in der die Beweggründe und Triebkräfte der europäischen Krisendynamik auf den Begriff gebracht werden sollen, lohnt es sich, auf die systemische Verflechtung von Krieg und Kapitalismus zu sprechen zu kommen. Zu denken wäre etwa an die notwendige Vernichtung durch die Überakkumulation von Kapital aufgelaufener Verwertungsansprüche, die sich nicht mehr materialisieren lassen, weil die vorhandenen Geldmengen die Produktivität, der sie äquivalent sein sollen, weit hinter sich zurückgelassen haben. Die Reproduktion der Ware Arbeitskraft erfolgt zusehends zu Armutsbedingungen, um den realen Verfall des geldwerten Verfügungsanspruchs nicht manifest werden zu lassen, und schreckt auch vor Zwangsmaßnahmen nicht zurück, wie die Konditionen belegen, unter denen in der EU Sozialtransfers gewährt werden. Zu denken wäre auch an militärische Gewalt als letztinstanzlicher Garant einer Kreditwürdigkeit, die bei einem hochgerüsteten Staat wie den USA ganz anders bewertet wird als bei Staaten, die kein damit begründetes politisches Gewicht auf die Waage globaladministrativer Zuständigkeit bringen können. Zu denken ist schließlich an die nicht in Euro und Cent bezifferbare Subjektivität, die dem Diktat der Sachzwänge widersteht und damit die Kollaboration von Krieg und Kapitalismus als eine Seite des Widerspruchs markiert, den es aufzuheben gilt.

Fußnoten:
[1] http://www.schattenblick.de/infopool/politik/kommen/raub1041.html

[2] http://sacom.hk/

[3] http://www.kapitalismus-in-der-krise.de/

[4] http://www.heise.de/tp/artikel/12/12288/1.html

[5] S. 62f., Dan Diner: Weltordnungen. Frankfurt am Main, 1993

[6] http://www.schattenblick.de/infopool/politik/kommen/volk1574.html

[7] http://www.bverfg.de/entscheidungen/up20120703_2pbvu000111.html

[8] http://www.schattenblick.de/infopool/politik/kommen/volk1575.html

[9] http://www.sueddeutsche.de/politik/wirtschaftsministerium-will-exporte-vereinfachen-deutsche-waffen-fuer-alle-welt-1.1412701

[10] http://www.ag-friedensforschung.de/themen/export/panzer-katar2.html

[11] http://www.schattenblick.de/infopool/politik/kommen/volk1579.html

[12] http://www.gipfelsoli.org/Repression/Sternmarsch

[13] http://www.imi-online.de/2010/02/16/eu-militarisierung-2/#rel.articles

Büchertisch im Foyer - Foto: © 2012 by Schattenblick

Antimilitaristischer Widerstand wird auch theoretisch erarbeitet
Foto: © 2012 by Schattenblick

15. Oktober 2012