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BERICHT/148: Quo vadis NATO? - sowohl als auch ... (SB)


Legalismus versus Krieg?

Eröffnungsabend des Bremer Kongresses "Quo vadis NATO? - Herausforderungen für Demokratie und Recht" am 26. April 2013


Versammlungsort mit Publikum - Foto: © 2013 by Schattenblick

Quo vadis NATO? Rechtsanwalt Otto Jäckel bei der Kongreßeröffnung im Konsul-Hackfeld-Haus
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Nach der Zukunft der NATO zu fragen, impliziert die Bereitschaft, ihren weiteren Fortbestand, wenn auch in möglicherweise modifizierter Form, zu akzeptieren. Wer demgegenüber die Auffassung vertritt, das mit Abstand größte Militärbündnis der Welt sei in Hinsicht auf seine bisherige und aktuelle Kriegführung sowie seine strategischen Konzepte leicht als bewaffneter Arm einer kleinen Elite imperialer Kräfte zu entlarven, die rücksichtslos ihre Hegemonial- und Überlebensinteressen durchzusetzen bereit ist, wird kaum umhinkommen, seine ersatzlose Abschaffung zu propagieren. In der NATO eine "Herausforderung für Demokratie und Recht" zu sehen, wie es die Initiatoren, Veranstalter und Mitgestaltenden des Bremer Kongresses getan haben, läßt die Absicht vermuten, das Militärbündnis in seiner gegenwärtigen Gestalt einzuhegen und an die Kandare einer Rechts- bzw. Friedensstaatlichkeit zu legen, die nach Auffassung ihrer Protagonisten allerdings erst noch geschaffen werden müsse.

In der Eröffnungsveranstaltung des Kongresses am 26. April 2013 im Bremer Hackfeldhaus ergriff zunächst Rechtsanwalt Otto Jäckel, Vorsitzender der Vereinigung von "Juristen und Juristinnen gegen atomare, biologische und chemische Waffen" (IALANA Deutschland), die den Kongreß unter Mitwirkung zahlreicher anderer Organisationen veranstaltet hat, das Wort. Jäckel kritisierte die bis zur Out-of-Area-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts von 1994 fehlende Beteiligung des Bundestags an Entscheidungen über Krieg und Frieden und deutete zugleich an, daß der seinerzeit damit eingeforderte Parlamentsvorbehalt nur als Trostpflaster für die Bereitschaft des höchsten deutschen Gerichts, den Auslandseinsätzen der Bundeswehr die verfassungsrechtliche Legitimation nicht zu verwehren, zu verstehen gewesen sei.

Auf dem Kongreß solle, so Jäckel, die Demokratiefrage im Zusammenhang mit den Militäreinsätzen der NATO gestellt werden. Konkret benannte er als denkbare Antipoden, bereits in der besten aller Gesellschaften zu leben oder die Annahme, daß es in diesen Fragen doch noch Reformbedarf gäbe - für ein grundsätzliches und bedingungsloses Nein gegenüber Kriegseinsätzen und Militärinterventionen aller Art ließ er keinen Platz. Analog zum Schutz der Grundrechte auf juristischen Wegen entwarf er das Zukunftsbild eines durch dementsprechende Verfahrensabläufe realisierten Friedensschutzes. Auf dem Kongreß werde das Thema Gerechtigkeit und demokratische Kontrolle deshalb im Mittelpunkt gleich mehrerer Plena und Arbeitsgruppen stehen.

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Prof. Dr. Andreas Fischer-Lescano
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Prof. Dr. Andreas Fischer-Lescano, geschäftsführender Direktor des den Kongreß mitveranstaltenden Zentrums für europäische Rechtspolitik (ZERP) an der Universität Bremen, ging in seinem Begrüßungswort auf die Hochschultradition der Hansestadt ein, die sich bereits in den 1970er Jahren einen fortschrittlichen Namen gemacht habe und sowohl namhafte kritische Atomwissenschaftler als auch Rechts- und Politikwissenschaftler, die sich der Militarisierung verweigerten, hervorgebracht habe. Am Beispiel dieser Universität und ihrer aus den 1980er Jahren stammenden Zivilklausel, die ihr jede anwendungsorientierte Militärforschung untersagt, machte der Redner deutlich, daß solche Klauseln wie auch generell Recht und Demokratie der Durchsetzung durch wirksame Verfahren bedürften.

Damit war der Bogen zum Generalthema des Kongresses geschlagen, gehe es doch bei der zentralen Frage "Quo vadis NATO?" darum, wie Prof. Fischer-Lescano ausführte, einen "normativen Rahmen für die transnationale Sicherheitspolitik zu entwickeln und in rechtsstaatlichen und demokratischen Verfahren durchzusetzen". Als vehementer Verfechter rechtsstaatlicher Prinzipien legte er dar, daß "das Netzwerk globaler Sicherheitspolitik nicht durch die Maschen der Rechtsstaatlichkeit und Demokratie schlüpfen" dürfe. Demokratie und Rechtsstaat hätten Verfahren ausgebildet, in denen der Dissens gewaltfrei ausgetragen werden könne, diese strukturellen Errungenschaften würden jedoch durch Argumente der Notwehr oder eines permanenten Selbstverteidigungszustands ausgehebelt.

Dies erläuterte er am Beispiel der NATO-geführten "Operation Active Endeavour" (OAE), die als gemeinsame Reaktion der NATO-Staaten auf die Ereignisse des 11. September ausgewiesen wurde und dem Schutz vor terroristischen Aktivitäten im Mittelmeerraum dienen sollte. Prof. Fischer-Lescano erteilte der völkerrechtlichen Legitimation dieses seit über zwölf Jahren andauernden Militäreinsatzes eine klare Abfuhr. Dieses Mandat und seine rechtliche Begründung nach Art. 51 der UN-Charta sowie Art. 5 des NATO-Vertrags seien "ein offensichtlicher Bruch des Völkerrechts". Der Behauptung der Bundesregierung, daß der Angriff mit den Anschlägen des 11. September 2001 nicht abgeschlossen sei, sondern bis heute andauere, hielt Prof. Fischer-Lescano entgegen, daß es eine solche Bündnisgefährdung, die weltweit seit 12 Jahren ohne konkrete Angriffe und nur als diffuses Risiko fortbestehe, im Völkerrecht nicht gäbe. Deshalb habe der OAE-Bundeswehreinsatz keine rechtliche Legitimation, was den Referenten zu der Frage veranlaßte, warum denn wohl niemand angesichts dieser "eklatanten Rechtswidrigkeit" den Weg zum Bundesverfassungsgericht beschreite.

Wie könne es angehen, daß die Bundeswehr, die Armee eines demokratischen Rechtsstaates, im Rahmen der NATO als globaler Sicherheitsdienstleister in so verfassungswidriger Weise tätig werde, lautete die nächste Frage Prof. Fischer-Lescanos, der seine Eingangserklärung mit den Worten beendete, er würde sich freuen, wenn es auf dem Kongreß gelänge, deutlich zu machen, wie nötig demokratische und rechtsstaatliche Verfahren seien, um einer globalen Friedensordnung im Sinne einer Rechts- und nicht einer Militärordnung ein Stück näher zu kommen. Diese Sätze können als paradigmatisch für den gesamten Kongreß bezeichnet werden, waren sich doch, wie die SB-Redaktion in Erfahrung zu bringen die Gelegenheit hatte, die Kongreßbeteiligten weitgehend einig darin, die Völkerrechtswidrigkeit der gegenwärtigen Kriegführung namentlich der NATO im ersten Schritt festzustellen wie auch im zweiten Schritt Abhilfe auf rechtlichen Wegen bewerkstelligen zu wollen.

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Prof. Dr. Matthias Stauch
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Für den Bremer Senat hielt Prof. Dr. Matthias Stauch, Staatsrat beim Senator für Justiz und Verfassung sowie beim Senator für Wirtschaft, Arbeit und Häfen, die Anwesenden willkommen. In seinem Grußwort machte der Verwaltungsjurist deutlich, wo seiner Auffassung nach im Zusammenhang mit der völker- wie verfassungsrechtlichen Bewertung militärischer Einsätze die spezifischen Aufgaben für Juristen und Juristinnen liegen, nämlich in der Entwicklung und überzeugenden Begründung diesbezüglicher rechtlicher Maßstäbe. In einem Jahrhundert, in dem das Verhalten staatlicher Organe, aber auch von Staatsführungen und Menschen mehr und mehr anhand internationaler Kriterien bewertet werde, gelte es Prof. Stauch zufolge für Juristen und Juristinnen, nicht nur zu diskutieren, ob der eingeschlagene Weg der NATO aus rechtlichen wie politischen Gründen einer Kurskorrektur bedürfe, sondern sich mit ethischen Abgrenzungsfragen zu befassen wie der, ob militärisches Handeln manchmal auch Hilfe sein könne. Dazu bedarf es sehr genauer und konkreter Begründungen, um dem Recht - oder, wie man sagen könnte, einem Kriegs- und Interventionsrecht der Zukunft - zu Geltung und Durchsetzung zu verhelfen.

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Per Video zugeschaltet - Prof. Dr. Christopher Gregory Weeramantry
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Nach einer Grußbotschaft von Prof. Dr. Weeramantry aus Colombo (Sri Lanka), dem Vizepräsidenten der IALANA und ehemaligen Vizepräsidenten des Internationalen Gerichtshofs in Den Haag, sorgte Dr. Hans-Christof Graf von Sponeck mit seinem Impulsreferat zum Thema "Menschenrechte, Militäreinsätze und geopolitische Interessen" für eine ebenso fundierte wie engagierte Einführung in die generelle wie rechtliche Fragwürdigkeit des militärischen Interventionismus. Der frühere Beigeordnete des UN-Generalsekretärs, ehemalige UN-Koordinator für humanitäre Hilfe im Irak und Träger des Bremer Friedenspreises ging zunächst auf die drei Schlagworte seines Vortragstitels ein, indem er fragte: Menschenrechte für wen? Militäreinsätze von wem? Geopolitische Interessen? - Globalpolitische Entscheidungen!

In seinem Vortrag ging Graf von Sponeck zunächst auf die historische Grundlage der NATO, das 1949 zu ihrer Gründung geschlossene Washingtoner Abkommen, ein, wobei er den Grundsatz der Subsidiarität hervorhob, der bedeutet habe, daß sich das transatlantische Militärbündnis den Vereinten Nationen unter- und nachordnet. Diese rechtlich verankerte Leitidee kontrastierte er mit der tatsächlichen Entwicklung der NATO in ihrem Verhältnis zu den UN in den zurückliegenden 64 Jahren. Längst seien es - in permanenter Verletzung des Washingtoner Abkommens - die NATO-Staaten und nicht die UN, die über die Schritte des Weltsicherheitsrates entschieden. Das Monopolrecht der UN, über die Völkerrechtswidrigkeit militärischer Aktionen zu befinden, wurde und wird in Frage gestellt durch eine NATO, die die globale Ausrichtung ihrer Interessen immer deutlicher zu erkennen gebe bis hin zu dem Ausspruch ihres heutigen Generalsekretärs Anders Fogh Rasmussen, der der NATO eine "ungeteilte globale Verantwortung" zusprach.

Die erste Priorität lege die NATO dabei auf die Energiesicherheit, wobei sie die Interessen ihrer inzwischen 28 Mitglieder, nicht jedoch, so wie es von Sponeck als ehemaliger UN-Diplomat tun würde, die der 193 UN-Mitgliedstaaten insgesamt im Blick habe. Von der im Washingtoner Abkommen niedergeschriebenen Subsidiarität sei auch in diesem Punkt nichts übriggeblieben. Die NATO sei heute ein Netzwerk, das weitaus größere Regionen beeinflußt oder kontrolliert, als es die Territorien ihrer Mitgliedstaaten vermuten ließen. Graf von Sponeck listete in diesem Zusammenhang die Partnerschaft für den Frieden, einen 1994 gegründeten militärischen Zusammenschluß zwischen der NATO und 23 osteuropäischen und asiatischen Nichtmitgliedstaaten, ebenso auf wie den Mittelmeerdialog mit sieben Mittelmeeranrainerstaaten inklusive Israels, den Golf-Kooperationsrat sowie Bündnisaktivitäten in Singapur, Südkorea, Australien, Taiwan und Neuseeland sowie auch, was weniger bekannt sei, in Vietnam und Myanmar.

Überall gehe die NATO, so der langjährige UN-Diplomat, "wie eine Maus an den Käse". Zusammenfassend stellte er fest, daß die Umklammerung Rußlands und Chinas durch die NATO fast vollständig erfolgt sei. Hinzu käme, daß im NATO-Rußland-Rat aufgrund einer "total verfehlten westlichen Politik gegenüber den Russen" keine Vertrauensbasis geschaffen worden sei. In Sachen Menschenrechtsschutz sähe die NATO keineswegs glaubwürdiger aus, wie schon das US-Gefangenenlager Guantanamo beweise. Die Beteiligung der Europäer habe sich an den sogenannten Rendition-Flügen der CIA offenbart. Das Mißtrauen gegenüber der NATO schließe die sogenannte Schutzverantwortung (Responsibility to Protect), von der auf dem Bremer Kongreß noch viel die Rede sein sollte, mit ein.

Abschließend stellte der Referent zu dessen zentraler Thematik - Quo vadis NATO? - fest, daß die NATO Ursachen zu bekämpfen vorgebe, die sie selbst verursacht habe und daß ihre Interventionen vielfach überflüssig wären, würden die Provokationen eingestellt werden. Die historische Chance durch den Wegfall des Warschauer Paktes 1990 sei vertan worden. Die NATO verfüge über enorme Kapazitäten, die jedoch brach lägen, so lange sie das Subsidiaritätsprinzip gegenüber den Vereinten Nationen nicht realisiere. In Hinblick auf eine generelle Durchsetzung der Menschenrechte müßte es eine allgemeine Rechenschaftspflicht geben, da es nicht anginge, daß es Doppelstandards gäbe und sich nur "die Verlierer" zu verantworten hätten. Politische Reformen der Vereinten Nationen sind seiner Meinung nach längst überfällig, doch auch gegenüber der NATO ließ Graf von Sponeck seinen Reformwillen erkennen durch die Erklärung: "Wir kennen den Weg, den die NATO gehen sollte."

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'Überall geht die NATO wie die Maus an den Käse' - Dr. Hans-Christof Graf von Sponeck
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Das zweite Impulsreferat des Eröffnungsabends hielt Prof. Dr. Reinhard Merkel, Professor für Strafrecht und Rechtsphilosophie an der Universität Hamburg. 2011 sorgte er für Schlagzeilen, indem er öffentlich konstatierte, daß der Libyenkrieg gegen geltendes Recht verstoße. Auf dem Bremer Kongreß war diese humanitär bemäntelte Intervention westlicher Staaten Bestandteil seines Vortrags zum Thema "Militärische Intervention zum Schutz von Menschenrechten?" Damit wurde gleich am ersten Abend eine der wichtigsten, wenn nicht die zentrale Frage des Kongresses gestellt, zu der der Referent aus der Perspektive des Rechtsphilosophen sprach, die eine andere sei als die des Völkerrechtlers. Völkerrechtlich sei es beispielsweise verboten, worüber in deutschen Zeitungen nicht berichtet werde, an Aufständische in bewaffneten Konflikten wie dem Bürgerkrieg in Syrien Waffen zu liefern. Für die Frage nach Grundprinzipien, die eine solche Unterstützung dennoch für zulässig erklären könnten, sei die Rechtsphilosophie zuständig wie auch für die schwierige Frage, wann der legitime Widerstand gegen ein despotisches Regime wie das Assads zum Mittel der militärischen Gewalt greifen dürfe.

Am Beispiel des Libyen-Krieges erläuterte der Referent die Legalität und Legitimität militärischer Interventionen zum Schutz der Menschenrechte. Formell abgedeckt sei dessen Legalität durch Resolution 1973 des Weltsicherheitsrates, die in Ziffer 4 alle Staaten, die dazu fähig und willens waren, autorisierte, alle erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen, um "Zivilisten und von Zivilisten besiedelte Gebiete in Libyen, die von Angriffen bedroht sind, zu schützen". Dies hätte das nach Auffassung Prof. Merkels durchaus begrüßenswerte Nebenziel des Regime Changes sogar miteingeschlossen, nicht jedoch die Anwendung selbständiger militärischer Mittel zu diesem Zweck. Doch genau dies sei in Libyen von Anfang an geschehen.

Die NATO habe über den Sturz Ghaddafis hinaus und sogar noch bis zu vier Wochen nach dessen Tod ihre Bombardierungen fortgesetzt als eine Art Luftwaffe der Rebellen "mit der Folge Tausender ziviler Opfer, zu deren Schutz man den Schlag im Sicherheitsrat hat autorisieren lassen". Damit habe sie die Grenzen ihres Mandats grob verletzt und das legalisierte Ziel des Schutzes der Zivilbevölkerung umstandslos dem nicht-legalisierten des Regime Changes geopfert. 50.000 Kriegstote unter der Zivilbevölkerung - diese Zahl stamme von den Rebellen - seien in einem zu ihrem Schutz durchgeführten Militäreinsatz nicht zu rechtfertigen. Das Land sei für die nächsten zehn Jahre verwüstet worden, und auch der Nebenzweck des Regimechanges wurde verfehlt, was man vorher hätte wissen können, da seit langem bekannt sei, daß militärische Interventionen zu einem solchen Zwecke in der Regel nicht funktionierten.

Der Sicherheitsrat habe nach der Verabschiedung der Resolution 1973, von der NATO-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen bis zuletzt behauptete, die Luftangriffe der NATO hätten im Einklang mit ihr gestanden und ihrer Erfüllung gedient, die Kontrolle über das weitere Geschehen vollständig in die Hände der Intervenienten gegeben. Drei von ihnen waren als Vetomächte in der Lage, jede nachträgliche Wiedereinmischung des Rates wegen Überschreitungen der Befugnisse zu verhindern. Prof. Merkel erklärte, der Rat habe mit Libyen nicht etwa einen Schurkenstaat in die Schranken des Rechts zurückverwiesen, sondern ein UN-Mitglied zum internationalen Outlaw erklärt. Daß eine Kriegsermächtigung an jeden, der willens und in der Lage war, nach Art. 39ff der UN-Charta, der einzigen formalen Ermächtigungsgrundlage zur Kriegsautorisierung, erlaubt sein könnte, sei völlig ausgeschlossen, so Prof. Merkel, der zugleich klarstellte, daß es ihm nicht primär um eine Kritik am Libyen-Krieg gehe.

Auch sei er kein Gegner des 2006 erstmals auch in einer Resolution des Weltsicherheitsrats anerkannten Prinzips einer humanitären Schutzverantwortung (Responsibility to Protect, kurz R2P oder RtoP). Dieses sich allmählich entwickelnde rechtsethische Prinzip, bei dem es sich nicht um eine rechtsverbindliche Norm handelt, wurde bereits in den 1990er Jahren mit der Frage, "ob es eine Hilfspflicht gegenüber Völkern, die unter terroristischen Regimen litten", gäbe, in die Diskussion gebracht. Zur Erläuterung der R2P führte Prof. Merkel aus, daß jeder UN-Mitgliedstaat eine doppelte Verantwortung hätte, nämlich die Souveränitätsrechte anderer Staaten wie auch die Rechte sowie die Würde der eigenen Bevölkerung zu respektieren. Konkret habe jeder Staat die Pflicht, seine Bevölkerung vor völkerrechtlichen Verbrechen zu schützen. Versagten die Organe eines Staates manifest in der Erfüllung dieser Pflicht, komme, so eine friedliche Abhilfe nicht möglich sei, im Rahmen der UN-Charta ein gewaltsames Eingreifen von außen in Frage.

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Kein Gegner humanitär begründeter Militärinterventionen - Prof. Dr. Reinhard Merkel
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Bei der Resolution 1973 zu Libyen habe der Weltsicherheitsrat zwar die R2P erwähnt, aber nicht ausreichend erklärt, inwiefern die internen Friedensbrüche einer Regierung gegen das eigene Volk zugleich auch externe Bedrohungen der internationalen Sicherheit seien. Seiner Meinung nach sei es zu begrüßen, wenn der Rat künftig bei Entscheidungen zur Wiederherstellung des Friedens oder der internationalen Sicherheit - was die einzigen Optionen wären, unter denen er überhaupt Kriegseinsätze autorisieren könne - die Kriterien und Grundsätze der R2P stärker berücksichtigen würde. Prof. Merkel zufolge wäre die Beantwortung der Frage, wann und warum interne Friedensbrüche auch den externen Frieden bedrohten, der erste Schritt um zu klären, unter welchen Bedingungen humanitäre Interventionen legitim sein könnten.

Nach dem rechtsethischen Prinzip der Schutzverantwortung R2P müßten zur Legitimation eines solchen Militäreinsatzes sowohl die Souveränität des Zielstaates als auch die Schutzrechte seiner Bevölkerung berücksichtigt werden. Prof. Merkel traf eine Unterscheidung zwischen der Legitimität eines Staates nach innen und nach außen. Wird ein Staat durch seine Bevölkerung delegitimiert wie beispielsweise die späte DDR, mache ihn dies selbstverständlich nicht zu einem legitimen Ziel militärischer Interventionen von außen, was erst der Fall sein könnte, würde er seine Souveränität, die als positives Recht die Selbstgestaltung seiner Bevölkerung wie auch ein Abwehrrecht gegen externe Angriffe beinhalte, gänzlich verlieren. Die Souveränität eines Staates leite sich im Kern aus der permanenten Legitimation durch seine Bürger ab, so er seiner primären Funktion, nämlich für ihren Schutz zu sorgen und den inneren Frieden zu gewährleisten, nachkomme. Erst wenn er diese Aufgabe ins Gegenteil verkehre, zum Feind der eigenen Bevölkerung oder einer ausreichend großen Gruppe werde und in extremer und flächendeckender Weise ihr gegenüber Menschenrechtsverletzungen begehe oder vorsätzlich dulde, verliere er auch nach außen seine Souveränität.

Im Falle Libyens hätten der Weltsicherheitsrat wie auch die NATO geglaubt, die Souveränität dieses Staates nicht mehr respektieren zu müssen, was Prof. Merkel für einen Fehler hält. Die zweite Legitimitätsschranke, nämlich die Frage nach den Rechten unbeteiligter Dritter, also der im Zielstaat lebenden Bürgerinnen und Bürger, sei noch nicht einmal gestellt, geschweige denn beantwortet worden, obwohl die intervenierenden Staaten ihnen gegenüber rechtliche wie rechtsethische Verpflichtungen gehabt hätten. Dies gelte vor allem auch für all die Menschen, die eine Intervention von außen ablehnten, wiewohl sie in einem unterdrückerischen Staat lebten. Eine Familie könne gute Gründe haben, einen solchen Militärschlag abzulehnen, auch wenn sie ihre Regierung hassen würde.

Die Auffassung mancher Völkerrechtler, das Verhältnismäßigkeitsprinzip rechtfertige kollaterale Tötungen, teilt Prof. Merkel nicht. Er weist darauf hin, daß dies ein Begrenzungsprinzip für anderweitig legitimierte Handlungen sei. Kollaterale Tötungen könnten im Krieg mit dem Prinzip des rechtfertigenden Notstands legitimiert werden, was aber problematisch sei, da im innerstaatlichen Notstandsrecht - anders als im strafrechtlichen Notwehrrecht - nicht ohne weiteres getötet werden dürfe. Diese Frage sei die wohl wichtigste unter zahlreichen noch ungelösten Problemen im Völkerrecht.

Im Großen und Ganzen wurde deutlich, daß der Referent, wie er selbst unterstrich, kein Gegner militärischer Interventionen zum Zwecke des Schutzes der Menschenrechte ist. Bei aller Kritik am Vorgehen der NATO wurde im zweiten Schritt, nämlich bei der Frage nach den Schlußfolgerungen und Konsequenzen der festgestellten Mißstände und Völkerrechtsbrüche, schnell deutlich, daß Prof. Merkel, offenbar um zukünftige Militärinterventionen der NATO oder auch anderer Staaten oder Staatenbünde besser als bisher rechtlich abzusichern, um konstruktive Vorschläge bemüht ist.

An die Adresse des Weltsicherheitsrats gerichtet merkte er an, daß dieser die internen Friedensbrüche einer Regierung wie der Ghaddafis auch als einen internationalen Friedensbruch deklariert habe, ohne dies näher zu begründen. Für Militärinterventionen wesentlich, um nicht zu sagen essentiell, ist eine solche Feststellung der Verletzung des Friedens oder der internationalen Sicherheit, weil nur zu deren Wiederherstellung laut UN-Charta eine militärische Gewaltanwendung autorisiert werden darf. Aus dem internen Friedensbruch einer Regierung auch eine externe Bedrohung der internationalen Sicherheit zu machen, scheint ein weiteres, bislang ungelöstes völkerrechtliches Problem zu sein. An dieser Stelle schlug Prof. Merkel folgenden Argumentationstrang vor, um diese Lücke in der Rechtfertigungspraxis humanitärer Interventionen schließen zu können.

Verletze ein Staat in massivster Weise die elementaren Rechte seiner Bürger, so Merkel, taste er damit zugleich auch eine "universale Grundnorm an, die weltweit auch jedem anderen Staat das legitimatorische Fundament gibt". Dies sei eine "Grundnorm der in Staaten verfaßten Weltordnung". Anhand des Beispiels eines Staates X, der eine große Zahl seiner Bürger foltern und ermorden lasse, führte er aus, daß damit nicht nur eine massive Rechtsverletzung in diesem Staat begangen, sondern zugleich eine Norm verletzt werde, die weltweit auch jedem anderen Menschen ein elementares Recht auf Sicherheit garantiere. Bliebe ein solcher Normbruch ohne Reaktion (von außen), zöge dies "den Beginn einer Erosion der Normgeltung nach sich" und bedrohe die rechtliche Gewähr der Sicherheit aller Menschen im Verhältnis zu allen ihren Staaten und damit auch die Staaten selbst in ihrer legitimen Verfaßtheit. Deshalb sei, so Prof. Merkels Fazit, für schwere Völkerrechtsverbrechen in einem Staat normativ die gesamte Staatengemeinschaft zuständig.

Diese Argumentation wirft eine Reihe von Fragen auf. Welchen Grund sollte es dafür geben, eine universale Grundnorm außerhalb der UN-Charta zu postulieren, wenn nicht den, die in ihr enthaltenen völkerrechtlichen Schranken auszuhebeln? Wie plausibel ist die Schlußfolgerung, von schweren Rechtsverletzungen in einem bestimmten Staat auf eine Gefährdung in allen übrigen Staaten, so auch der Bundesrepublik Deutschland, zu schließen, in der bekanntlich gesetzliche und verfassungsrechtliche Schranken bestehen, die in Hinsicht auf die Grundrechte sogar eine Ewigkeitsgarantie haben? Und müßte nicht, so unter der universalen Norm eine Verpflichtung zum Schutz der Menschenrechte verstanden werden sollte, eine Erosion ihrer Geltung festgestellt werden - nicht zuletzt auch deshalb, weil führende Staaten der internationalen Gemeinschaft im Namen der Menschenrechte selbst Verletzungen des Völkerrechts begangen haben?

Die Frage, wann der legitime Widerstand eines Landes gegen ein despotisches Regime wie das syrische zum Mittel militärischer Gegenwehr und damit zum Bürgerkrieg greifen dürfe, sei schwierig zu beantworten; für sie seien nicht nur Völkerrechtler, sondern auch, was wenig bekannt sei, Rechtsphilosophen zuständig. Und so ging Prof. Merkel zum Abschluß seines Vortrags auf die aktuelle Situation in Syrien ein, wobei er sich gegen eine in diesem Konfliktfall möglicherweise bevorstehende "demokratische Intervention" westlicher Staaten aussprach. Er hege keinerlei Sympathien für die Regierung Assad und machte gleichwohl deutlich, daß das Anheizen eines Bürgerkriegs und Waffenlieferungen an die Aufständischen völkerrechtswidrig und in "hohem Maße verwerflich" seien.

Die Verhältnisse dort seien keineswegs so schlimm, daß sie eine Intervention rechtfertigten, zudem gäbe es Regime wie beispielsweise Saudi-Arabien, die vom Westen unterstützt werden und viel schlimmer seien als das Assads. Durch die Unterstützung der Rebellen hätten mächtige NATO-Staaten, die sehenden Auges einen Krieg duldeten, der bislang zu 70.000 Toten geführt hat, "schwere Schuld auf sich geladen", so Prof. Merkel, was seiner Auffassung nach nicht ausschließe, daß sie irgendwann zur Beendigung des Mordens intervenieren sollten. Unter dem Beifall der Anwesenden beendete der Referent seinen Vortrag mit einer klaren Absage an den "demokratischen Interventionismus", den er als eine "normative Mißgeburt" bezeichnete, die die NATO nicht weiter zu kultivieren sollte.

Unberücksichtigt blieb bei den Schlußfolgerungen und rechtphilosophischen Anmerkungen des Referenten die Gefahr, daß in einem Konfliktfall zwischen verschiedenen Staaten oder Staatengruppen letztendlich immer nur der militärisch Stärkere in der Lage sein könnte, gegen einen potentiellen Gegner Menschenrechtsvorwürfe zu erheben, wie begründet auch immer diese sein mögen, nicht jedoch der Unterlegene. Und stünde nicht zu befürchten, daß ein Staat, der zum Krieg gegen einen anderen entschlossen ist, Menschenrechtsverletzungen eigens zu dem Zweck, auf diesem Wege eine Interventionsberechtigung zu erwirtschaften, behaupten, provozieren oder auf anderen Wegen herbeiführen könnte?

In Hinsicht auf den Irakkrieg läßt sich heute nicht mehr bestreiten, daß der Vorwurf, die Regierung Saddam Husseins hätte heimlich Massenvernichtungswaffen entwickelt und sei deshalb eine Gefahr für den Frieden gewesen, auf gezielt zum Zweck einer Kriegslegitimation eingesetzten Falschinformationen beruhte. Da die kriegführenden Staaten mit einem Achselzucken zur Tagesordnung übergingen, als nach ihrem Einmarsch nicht ein einziger Beweis für die erhobenen Vorwürfe gefunden werden konnte, können die angedeuteten Bedenken gegen einen militärischen Interventionismus zu angeblich humanitären Zwecken schwerlich als unbegründet abgetan werden.

Der Eröffnungsabend des Kongresses "Quo vadis NATO?" wurde mit einer Podiumsdiskussion zum Thema militärischer Interventionen zum Schutz der Menschenrechte beendet. Sie wird in der weiteren Kongreß-Berichterstattung des Schattenblick Berücksichtigung finden.

7. Mai 2013