Schattenblick →INFOPOOL →POLITIK → REPORT

BERICHT/156: Quo vadis NATO? - vorbei am Grundgesetz (SB)


NATO-Strategie und das Recht

Vortrag von Prof. Dr. Martin Kutscha auf dem Bremer Kongreß "Quo vadis NATO? - Herausforderungen für Demokratie und Recht" am 27. April 2013


Prof. Kutscha während seines Vortrags - Foto: © 2013 by Schattenblick

Prof. Dr. Martin Kutscha
Foto: © 2013 by Schattenblick

Krieg als bloße Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln zu bezeichnen, wie es der preußische General Carl von Clausewitz vor rund 200 Jahren bereits getan hat, ist heute nicht mehr besonders originell, kommt doch die darin angedeutete Erkenntnis, daß militärisch nicht grundsätzlich andere Interessen durchgesetzt werden als mit politischen Mitteln, einer Binsenweisheit gleich. Sie ist nicht ohne Grund auf der Stufe eines konsensfähigen und oft zitierten Allgemeinplatzes steckengeblieben, weil aus dem ersten Halbschritt der Bewertung keine Schlußfolgerung gezogen oder weiterführende Fragestellung formuliert wurde. Wer unter Politik ohnehin nichts anderes als die Sicherung und Durchsetzung bestimmter Herrschaftsinteressen versteht, wird sich auch der Frage nach Kriegen, militärischen Interventionen und Auslandseinsätzen respektive ihrer Rechtfertigung kaum annähern, ohne zu berücksichtigen, wer gegen wen zu welchem Zweck und im welchem historischen Kontext zu den Waffen gegriffen hat oder greift.

Clausewitz entgegengestellt ließe sich die Frage nach dem Verhältnis zwischen Krieg und Politik mit umgekehrten Vorzeichen noch weiter zuspitzen durch die These, daß der Politik, verstanden als eine etablierte Gesellschaftsordnung welcher Couleur auch immer, stets gewaltsam geschaffene Herrschafts- und Ausbeutungsverhältnisse zugrundeliegen und daß die Frage militärischer Stärke bzw. repressiver Gewalt in zwischen- wie innerstaatlichen Konflikten stets die eigentlich entscheidende ist. Da sich dies mit den moralischen Werten und demokratischen Ansprüchen, die zu hüten und weltweit durchzusetzen die sogenannte internationale Gemeinschaft sich berufen fühlt, schwerlich zu vereinbaren ist, wird eine nicht unerhebliche Mühe darauf verwendet, diese im Grunde höchst simplen Zusammenhänge zu verbergen hinter einem Wust anderslautender Behauptungen.

Hier tritt das Recht auf den Plan in der Funktion eines Hoffnungsträgers, suggeriert doch die internationale Rechtsordnung, wie sie nach dem Zweiten Weltkrieg mit den Institutionen der Vereinten Nationen geschaffen wurde, einen für alle Staaten der Welt gültigen und in Anspruch nehmbaren Schutz vor Kriegen und militärischen Angriffen. Nun häufen sich in jüngster Zeit Kriege, die von Seiten der in dieser Weltgemeinschaft dominierenden westlichen Staaten geführt werden zu angeblich besten Zwecken und aus edelsten Motiven, womit die These, durch das Recht ließe sich die Gewalt des militärisch Stärkeren aufhalten oder auch nur eindämmen, als faktisch widerlegt gelten könnte - was allerdings die Bereitschaft voraussetzt, sich mit unattraktiven, weil den gesellschaftlichen Konsens tangierenden Fragen auseinanderzusetzen.

Zu den ebenso interessanten wie politisch brisanten Fragen nach Krieg und Recht fand vom 26. bis 28. April 2013 unter dem Titel "Quo vadis NATO? - Herausforderungen für Demokratie und Recht" an der Universität Bremen ein von "Juristen und Juristinnen gegen atomare, biologische und chemische Waffen" (IALANA) maßgeblich organisierter Kongreß statt, auf dem die mögliche Zukunft der NATO unter rechtlichen und demokratischen Gesichtspunkten thematisiert wurde. In einem eigenen Themenblock ("Neue Geostrategische Konzepte der USA und der NATO") ging es um die aktuelle NATO-Strategie, was die hier angesprochene Problematik insofern berührt, als sich hinter dem vermeintlichen Strategiewechsel von einer Territorial- zu einer Interessenverteidigung die ohnehin schwer in Abrede zu stellende Interventionspraxis der NATO verbirgt. Über diese Zusammenhänge gerade auch aus rechtlicher Sicht aufzuklären, gehörte zu den selbstgesteckten und auch erfüllten Aufgaben des Kongresses, auf dem sachkundige Juristen und Juristinnen mit allerdings durchaus kontroversen Positionen zum Thema Stellung nahmen.

Zu der Frage, ob und inwiefern die NATO als das mit Abstand größte Militärbündnis der Welt dem Eigenanspruch, ein Verteidigungs- bzw. Friedenssicherungsbündnis zu sein, überhaupt gerecht wird, hat sie selbst für eine gewisse Aufklärung gesorgt. Einem von den Staats- und Regierungschefs ihrer Mitgliedstaaten beim Gipfeltreffen in Lissabon im November 2010 erstellten Dokument ist zu entnehmen, daß die Sicherheit der NATO-Staaten in wachsendem Maße von "lebenswichtigen Kommunikations-, Transport- und Transitlinien, auf denen der internationale Handel, die Energiesicherheit und der Wohlstand beruhen," abhängt. [1] Ungeachtet der hier verwendeten Euphemismen ist aus dieser Formulierung recht unmißverständlich die Bereitschaft der NATO herauszulesen, die Vormachtstellung ihrer Mitgliedstaaten zu sichern. Der hier aufgebauten Logik zufolge wäre es legitim, jede Störung, die den reibungslosen Zugriff auf die in den übrigen Regionen der Welt gehandelten energetischen und sonstigen Ressourcen zu beeinträchtigen droht, mit militärischen Mitteln auszuschalten.

Doch was bedeutet dies für die Menschen, die in den Regionen leben, die nach Definition der NATO die Sicherheit und den Wohlstand ihrer Mitgliedstaaten begründen? Stellt das Lissabonner Gipfeldokument von 2010 nicht für die Staaten des Trikont eine kaum verklausulierte Drohung dar? Längst wird im reichen Norden die wachsende Kluft zwischen Arm und Reich, wie einer anläßlich eines Treffens des Weltwirtschaftsforums (WEF) im Januar in Davos vorgelegten Studie zu entnehmen ist, als eine zunehmende Gefahr für die Weltwirtschaft bewertet. In den Think-Tanks führender NATO-Staaten sind zukünftige Ernährungskatastrophen von einem Ausmaß, von dem Weltbankpräsident Jim Yong Kim glaubt, daß es sich heute noch niemand vorstellen könne, vermutlich längst eine Option, mit der knallhart gerechnet wird.

Da die Ernährung der gesamten Menschheit von dieser Staatenelite längst als eine undurchführbare Aufgabe abgehakt worden zu sein scheint, wird dem Thema Aufstandsbekämpfung allem Anschein nach ein umso größerer Stellenwert eingeräumt. In einer im Auftrag des Bundesverteidigungsministeriums vom Institut für Sicherheitspolitik an der Universität Kiel (ISPK) unlängst zu diesem Thema erstellte Studie wird angesichts der geostrategischen Neuausrichtung der USA erklärt, daß Deutschland "mehr Verantwortung für die Wahrung der Stabilität und Sicherheit der an Europa angrenzenden unruhigen Regionen übernehmen" [2] müsse, und zwar auf der Grundlage der in Afghanistan gewonnenen Erfahrungen. Damit wird einer militärischen Interventionspolitik und Kriegführung das Wort geredet, die mit dem grundgesetzlichen Verteidigungsauftrag der Bundeswehr nicht zu vereinbaren ist.

An dieser Stelle tut Aufklärung im besten Wortsinn not. Wird sie dann auch noch, wie in dem Impulsreferat von Prof. Dr. Martin Kutscha, Professor für Staats- und Verwaltungsrecht an der Hochschule für Wirtschaft und Recht in Berlin und Mitglied im Vorstand der deutschen Sektion der IALANA, ebenso fachkompetent wie engagiert vorgetragen, könnte der für Klarheit sorgende Nutzen in diesen rechtlichen Aspekten einer vermeintlichen Kriegslegitimation kaum größer sein. Kutscha widmete sich der neuen Strategie der NATO zunächst aus völkerrechtlicher Sicht, um sich danach in seinem eigenen Arbeitsgebiet, dem Verfassungsrecht, das häufig, so auch auf der Bremer Tagung, zu kurz komme, mit der Thematik zu befassen.

Prof. Kutscha am Rednerpult, Podiumstisch und Leinwand im Hörsaal - Foto: © 2013 by Schattenblick

"NATO-Strategie und das Recht" - Prof. Kutschas Vortrag im Hörsaal EG der Universität Bremen
Foto: © 2013 by Schattenblick

Die NATO sei ursprünglich gegründet worden als klassisches, militärisches Verteidigungsbündnis im Sinne einer Territorialverteidigung, was in Art. 5 des NATO-Vertrages, in dem das auch kollektive Recht auf Selbstverteidigung gegen einen bewaffneten Angriff niedergelegt wurde, seinen völkerrechtlichen Ausdruck fand. Mit Art. 51 der Charta der Vereinten Nationen, in dem ebenfalls ein Recht auf Selbstverteidigung gegen einen Angriff als eine von zwei Ausnahmen der allgemeinen und im übrigen bedingungslosen Friedenspflicht eröffnet wird, läßt sich Kutscha zufolge die kollektive Selbstverteidigung der NATO sehr wohl in Einklang bringen.

Das Problem entstand vielmehr durch die sukzessive Weiterentwicklung der NATO, die nicht "als ein Verteidigungsbündnis bestehen geblieben" sei, sondern ihre Aufgabenselbstzuweisung durch ein neues strategisches Konzept immer weiter ausgedehnt hat, ohne daß der NATO-Vertrag je grundlegend geändert wurde. Daß es sich bei dieser strategischen Neuausrichtung nicht nur "um graue Theorie" gehandelt hat, sondern daß die Abkehr vom ausschließlichen Selbstverteidigungsauftrag mit voller politischer Absicht erfolgt ist, habe sich auf drastische Weise im Krieg gegen Jugoslawien bewahrheitet. Seitdem sei diese Stoßrichtung sogar noch immer weiter ausgedehnt worden.

Kutscha zufolge umfaßt die heutige Ausrichtung der NATO drei Kernbestandteile, wobei er als erstes die Erweiterung der klassischen Verteidigung auf Krisenbewältigung benannte, was kurz gesagt bedeute, daß sich die NATO von der Territorialverteidigung zur Interessenverteidigung fortentwickelt hat. Dies erinnert natürlich nicht zufällig, wie an dieser Stelle ergänzt werden könnte, an den Ausspruch des früheren Bundesverteidigungsministers Peter Struck zum Afghanistankrieg: "Wir verteidigen unsere Sicherheit auch am Hindukusch." [1] Wer könnte es der afghanischen Bevölkerung verdenken, wenn sie diese "Verteidigung" als einen Angriffskrieg und die über zehnjährige militärische Besetzung ihres Landes als neokoloniale Okkupation betrachtet? Wie würden die bundesdeutsche Bevölkerung und die Bundesregierung reagieren, würde ein anderer Staat erklären, seine Sicherheit zwischen Elbe und Weser "verteidigen" zu wollen?

Als zweiten Punkt in der neuen militärstrategischen Ausrichtung der NATO benannte der Referent die Tatsache, daß ihre militärischen Einsätze inzwischen auch ohne UN-Mandat geführt werden können. Die NATO bemühe sich zwar um ein Mandat und halte es für wünschenswert, so Kutscha, "aber wenn es nicht zu erlangen ist, dann wird auch ohne Mandat interveniert." Diese Feststellung kann in ihrem aufklärerischen Wert gar nicht hoch genug bewertet werden, da sie Anlaß und Gelegenheit bietet, die Relevanz des Rechts - in diesem Fall des Völkerrechts bzw. der UN-Charta - einer fundamental-kritischen Überprüfung zu unterziehen. Wenn das stärkste Militärbündnis der Welt, wie bereits 1999 im Krieg gegen die Bundesrepublik Jugoslawien geschehen, ohne UN-Mandat einen regulären Mitgliedstaat der Vereinten Nationen mit Krieg überzieht, ohne daß irgendeine Instanz oder andere Staatengruppe willens oder/und in der Lage gewesen wäre, dies zu unterbinden, ist der damit vollzogene Bruch der UN-Charta nicht mehr zu kitten.

Als dritten Punkt der neuen NATO-Strategie erwähnte Kutscha noch die bereits von seinem Vorredner Lars Pohlmeier, Vorstandsvorsitzender der "Internationalen Ärzte für die Verhütung des Atomkriegs" (IPPNW), dargelegte Option eines nuklearen Erstschlags, an der die NATO ungeachtet einer Vielzahl völkerrechtlicher Einwände und Bedenken festhält, bevor er etwas ausführlicher auf die völkerrechtliche Beurteilung der neuen Aufgabenzuschreibung der NATO einging. Krisenbewältigung, so darunter ein militärisches Intervenieren in Staaten verstanden wird, in denen Krisen ökonomischer, politischer oder sonstiger Art bestehen, ist weder durch Art. 5 des NATO-Vertrages noch durch Art. 51 der UN-Charta, in denen ein Recht auf Selbstverteidigung postuliert wird, gedeckt, so der Referent.

Foto: © 2013 by Schattenblick

Dr. med. Lars Pohlmeier
Foto: © 2013 by Schattenblick

Unter Juristinnen und Juristen versteht es sich von selbst, daß bei diesen Normen, wenn es um die Legitimation eines kriegerischen Einsatzes geht, nicht nur die formellen, sondern auch die materiellen Voraussetzungen zu prüfen sind. In jedem konkreten Einzelfall müssen die materiellen Tatbestandsvoraussetzungen erfüllt sein. Das bedeutet, daß jeder Bruch des grundsätzlichen Friedensgebots rechtfertigungsbedürftig ist, wofür nur eine der beiden dafür in der UN-Charta vorgesehenen Ausnahmeregelungen in Frage kommt. Kommt eine Selbstverteidigung gegen einen bewaffneten Angriff nach Art. 51 nicht in Betracht, weil ein solcher Angriff nicht vorliegt, bleiben nur Zwangsmaßnahmen nach Art. 7 der UN-Charta auf der Grundlage eines Sicherheitsratsbeschlusses, wie dies auf dem Bremer Kongreß bereits thematisiert wurde. Dazu nahm Kutscha nicht nur sehr deutlich Stellung, er trat auch in einen Dissens zu anderen Kongreßreferenten:

Wir haben uns auch damit beschäftigt, daß da versucht wird, diese Kriterien aufzuweichen - zum Beispiel durch die Responsibility to Protect, die von manchen eben so verstanden wird, als ermächtige sie zum Eingreifen ohne UNO-Mandat. Ich würde das ganz entschieden zurückweisen. Und ich muß auch sagen, ich bin nicht der Auffassung, die Herr Merkel gestern geäußert hat, nämlich daß man hier versuchen kann, in extremen Ausnahmefällen mit einem Grundsatz der Staatsnothilfe zu argumentieren. [3]

In dieser hochbrisanten, die völkerrechtliche Legitimation militärischer Interventionen betreffenden Streitfrage führte Kutscha seinen Standpunkt argumentativ noch weiter aus. Er erinnerte daran, daß Notwehr und Nothilfe (das Eingreifen eines Dritten zugunsten des unmittelbar Angegriffenen) aus dem Strafgesetzbuch stammen. Es sind Rechte der einzelnen Staatsbürger und -bürgerinnen in einer extremen Notsituation, die mit einer Eingriffsermächtigung für den Staat nichts zu tun haben. "In dem Moment", so Kutscha wörtlich unter dem Applaus vieler Anwesender, "in dem wir dem Staat ein Staatsnotwehrrecht oder -nothilferecht zubilligen, legitimieren wir den Verfassungsbruch, so deutlich möchte ich das hier gesagt wissen."

Damit kam der Referent zum zentralen Punkt seiner Ausführungen, der humanitären Intervention, die er als eine Erfindung bezeichnete, die "häufig in der Praxis dazu dient, die Durchsetzung von ökonomischen oder politischen Interessen von Staaten zu bemänteln mit dem Argument des Menschenrechtsschutzes". Er prophezeite, daß man nicht allzu viel finden würde, würde man wirklich einmal testen, welcher Militäreinsatz tatsächlich und nicht nur als verbale Legitimationshülsel dem Schutz der Menschenrechte gedient hat, womit er den inhaltlichen Bogen schlug zu der verfassungsrechtlichen Seite der gesamten Problematik, also der Frage, wie sich denn das nationale Verfassungsrecht zu der Ausdehnung der NATO-Befugnisse verhält.

Zum Grundgesetz schickte der Referent zur Erläuterung vorweg, daß das Gebot der Friedensstaatlichkeit in Art. 26 enthalten ist und daß der Bund laut Art. 87a GG Streitkräfte zur Verteidigung aufstellt, die außer zur Verteidigung nur eingesetzt werden dürfen, soweit das Grundgesetz dies ausdrücklich zuläßt. Derartige Ausnahmeregelungen für einen Einsatz der Bundeswehr im Innern sind in Art. 87a Abs. 3 und 4 sowie in Art. 35 Abs. 2 und 3 klar definiert. Für Auslandseinsätze der Bundeswehr, die im Rahmen der NATO nach dem Willen der jeweils verantwortlichen Bundesregierungen offenbar nicht aus der aktiven Umsetzung der neuen NATO-Strategien herausgehalten werden soll, waren dies verfassungsrechtliche Klippen, die vom Bundesverfassungsgericht erfolgreich umschifft wurden.

Das höchste deutsche Gericht, in dessen alleiniger Verantwortung die Auslegung des Grundgesetzes in Streitfragen dieser Art liegt, machte von seiner Deutungshoheit regen Gebrauch. Den meisten Zuhörenden, so Kutscha, dürfte das Out-of-Area-Urteil aus dem Jahre 1994 bekannt sein. Darin hat das Bundesverfassungsgericht erklärt, die NATO sei ein System gegenseitiger kollektiver Sicherheit, weshalb in ihrem Rahmen Bundeswehreinsätze nach Art. 24 Abs. 2 GG zulässig seien. Wer diese Stelle nachliest, wird lediglich finden, daß sich der Bund in ein System kollektiver Sicherheit einordnen und um der Sicherung einer dauerhaften friedlichen Ordnung in Europa und zwischen den Völkern willen in Beschränkungen seiner Hoheitsrechte einwilligen könne. Das Bundesverfassungsgericht schrieb in das Out-of-Area-Urteil mit hinein, daß ein auf Art. 24 Abs. 2 gestützter Auslandseinsatz der Bundeswehr nur in Frage käme, wenn er "im Rahmen und nach den Regeln solcher Systeme gegenseitiger kollektiver Sicherheit" durchgeführt werde.

Daraus folgt, so das Resümee Kutschas, daß die zur Durchsetzung und Sicherung ökonomischer und politischer Interessen durchgeführten Auslandseinsätze sowohl nach dem NATO-Vertrag als auch nach der UN-Charta unzulässig sind, wie es im übrigen auch im Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 21. Juni 2005 nachzulesen ist, in dem der von seinen Vorgesetzten wegen Befehlsverweigerung im Zusammenhang mit dem Irakkrieg gemaßregelte Major der Bundeswehr, Florian Pfaff, Recht bekam und das Bundesverwaltungsgericht erklärte, es sei die Pflicht des Soldaten, sich gesetzeswidrigen Befehlen zu widersetzen.

Leider habe das Bundesverfassungsgericht diese Klarheit und Eindeutigkeit in seinen Entscheidungen vermissen lassen, und sei, wie Kutscha es formulierte, in zwei seiner Urteile "diese Problematik sehr weich angegangen". Dies betrifft das Urteil zum Neuen Strategischen Konzept der NATO vom 22. November 2001, mit dem das Bundesverfassungsgericht eine Organklage der PDS-Bundestagsfraktion zurückwies mit der Begründung, daß die Bundesregierung mit ihrer Zustimmung zu dem neuen Konzept nicht das Mitwirkungsrecht des Bundestages aus Art. 59 Abs. 2 GG verletzt hätte. Die bloße Fortentwicklung des NATO-Systems, die keine Vertragsänderung darstelle, bedürfe dieser höchstrichterlichen Entscheidung zufolge keiner gesonderten Zustimmung des Bundestages [4], so die vom Bundesverfassungsgericht gelieferte Blaupause für die Beteiligung der Bundeswehr an der neuen Offensivausrichtung der NATO. Der Referent zitierte aus dieser Entscheidung folgende von ihm als besonders wichtig erachtete Stelle ...

Schon die tatbestandliche Formulierung des Art. 24 Abs. 2 Grundgesetz schließt aber auch aus, dass die Bundesrepublik Deutschland sich in ein gegenseitiges kollektives System militärischer Sicherheit einordnet, welches nicht der Wahrung des Friedens dient.

... und fügte die Frage an, ob diese Grenzziehung bei der NATO nicht als überschritten zu betrachten sei. Dazu habe das Bundesverfassungsgericht in seinem Tornado-Urteil vom 3. Juli 2007 festgestellt:

Die Verletzung des Völkerrechts durch einzelne militärische Einsätze der NATO könne zwar ein Indikator dafür sein, daß sich die NATO von ihrer friedenswahrenden Ausrichtung strukturell entfernt. Darüber dürfe aber im Rahmen der Kontrolle im Organstreitverfahren nicht entschieden werden.

Um etwaigen Mißverständnissen vorzubeugen, stellte Kutscha klar, daß das Bundesverfassungsgericht in dieser Entscheidung auch noch behauptet hat, daß es an Anhaltspunkten für eine strukturelle Entfernung der NATO von ihrer friedenswahrenden Ausrichtung fehle und daß die in dem Verfahren angegriffenen Maßnahmen keinen Wandel der NATO zu einem Bündnis erkennen ließen, das nicht mehr dem Frieden diene und an dem sich die Bundesrepublik Deutschland aus Verfassungsgründen nicht mehr beteiligen dürfe. Der Referent beließ es an dieser Stelle nicht bei einer Entscheidungsschelte, für die es aus juristischer und friedenspolititscher Sicht Gründe und Argumente genug gäbe, und schloß auch die Option einer "professionell bedingten Naivität" aus. Seiner Auffassung nach ist eine solche Position dem Bestreben des Bundesverfassungsgerichts geschuldet, "der Bundesregierung bei einer so zentralen politischen Grundsatzentscheidung nicht in den Arm zu fallen".

Abschließend verwies Kutscha auf die Ausführungen des Lübecker Politikwissenschaftlers Robert Christian van Ooyen, der die Entwicklung der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur NATO "sehr schön, sehr kritisch" [5] zusammengefaßt und deutlich gemacht habe, wie die Verfassung "durch dynamische Grenzverschiebungen Stück für Stück flexibilisiert" wurde. So wurde aus einem verfassungsrechtlichen Grundkonsens der Ablehnung von Auslandseinsätzen eine Grundsatzentscheidung für die Zulässigkeit der Out-of-Area-Einsätze, der bloße NATO-Auftrag einer kollektiven Sicherheit wich dem Sicherheitsverständnis der neuen Militärstrategie, und aus dem räumlich begrenzten Bezug einer transatlantischen Sicherheit wurde ein globalisierter Sicherheitsbegriff.

Das Fazit van Ooyens, daß auf diesem Wege Auslandseinsätze der Bundeswehr in räumlicher wie inhaltlicher Hinsicht mit einfacher Parlamentsmehrheit nahezu unbegrenzt ermöglicht wurden, bezeichnete Kutscha als eine sehr realistische und zutreffende Einschätzung, die deutlich mache, wie die bewußte Grenzziehung des Grundgesetzes aufgeweicht und politischen Interessen verfügbar gemacht wurde. Der Referent beendete seinen ebenso informativen wie von einer klaren Stellungnahme getragenen Vortrag mit dem Fazit, daß diese Feststellungen nicht Anlaß zur Resignation sein sollten sowie dem Appell an die friedensbewegten Bürgerinnen und Bürger hier im Saal wie anderswo, mit dem Versuch der Aufklärung nicht nachzulassen.

Podiumsrunde am Tisch sitzend - Foto: © 2013 by Schattenblick

Podiumsrunde mit Julia Pippig, Prof. Dr. Martin Kutscha, Prof. Dr. Lothar Brock und Hauke Ritz
Foto: © 2013 by Schattenblick


Fußnoten:

[1] zit. aus: Fragen und Antworten zum Bremer Kongress "Quo vadis NATO? - Herausforderungen für Demokratie und Recht", in: IALANA Rundbrief Nr. 2, Dez. 2012, S. 6

[2] http://www.german-foreign-policy.com/de/fulltext/58590

[3] Siehe auch zum Eröffnungsabend des Kongresses im Schattenblick unter INFOPOOL → POLITIK → REPORT:
BERICHT/148: Quo vadis NATO? - sowohl als auch ... (SB)
http://schattenblick.de/infopool/politik/report/prbe0148.html
BERICHT/149: Quo vadis NATO? - gedehntes Recht und Kriege (SB) http://schattenblick.de/infopool/politik/report/prbe0149.html
INTERVIEW/168: Quo vadis NATO? - Interventionsgefahren (SB)
http://schattenblick.de/infopool/politik/report/prin0168.html

[4] http://www.bundesverfassungsgericht.de/entscheidungen/es20011122_2bve000699.html

[5] Das Bundesverfassungsgericht als außenpolitischer Akteur: von der "Out-of-Area-Entscheidung" zum "Tornado-Einsatz". Von Robert Christian van Ooyen, Recht und Politik 2/2008, S. 75 (83).


Bisherige Beiträge zum Kongreß "Quo vadis NATO?" im Schattenblick unter INFOPOOL → POLITIK → REPORT:

BERICHT/148: Quo vadis NATO? - sowohl als auch ... (SB)
BERICHT/149: Quo vadis NATO? - gedehntes Recht und Kriege (SB)
BERICHT/150: Quo vadis NATO ... Schluß damit! (SB)
BERICHT/152: Quo vadis NATO? - Wandel der Feindschaften? (SB)
BERICHT/153: Quo vadis NATO? - Abgründe der Kriegsrechtfertigung(SB)
BERICHT/154: Quo vadis NATO? - Das Auge der Wahrheit (SB)
INTERVIEW/166: Quo vadis NATO? - Handgemacht und kompliziert (SB)
INTERVIEW/167: Quo vadis NATO? - Zügel für den Kriegseinsatz - Gespräch mit Otto Jäckel (SB)
INTERVIEW/168: Quo vadis NATO? - Interventionsgefahren (SB)
INTERVIEW/169: Quo vadis NATO? - Desaster der Mittel - Hans-Christof Graf von Sponeck im Gespräch (SB)
INTERVIEW/170: Quo vadis NATO? - Was keiner wissen will - Bernhard Docke im Gespräch (SB)
INTERVIEW/171: Quo vadis NATO? - Hegemonialschaft USA - Nikolay V. Korchunov im Gespräch (SB)
INTERVIEW/172: Quo vadis NATO? - Der Friedensstandpunkt - Gespräch mit Eugen Drewermann (SB)
INTERVIEW/174: Quo vadis NATO? - Hegemonialmißbrauch, Hauke Ritz im Gespräch (SB)
INTERVIEW/176: Quo vadis NATO? - Empire exklusiv - Bill Bowring im Gespräch (SB)
INTERVIEW/177: Quo vadis NATO? - Aufklärungsmangel und Demokratiemüdigkeit - Jörg Becker im Gespräch (SB)
INTERVIEW/178: Quo vadis NATO? - Recht bleibt Recht - Karim Popal im Gespräch (SB)
INTERVIEW/179: Quo vadis NATO? - Kriegsvorwände, Tobias Pflüger im Gespräch (SB)
INTERVIEW/180: Quo vadis NATO? - Trümmerrecht und Pyrrhussiege, Prof. Dr. Werner Ruf im Gespräch (SB)
INTERVIEW/181: Quo vadis NATO? - Cyberwar, Wissenschaftsethik, Chancen, Prof. Dr. Hans-Jörg Kreowski im Gespräch (SB)


22. Juli 2013