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BERICHT/162: Quo vadis NATO? - Ziviler Schliff zum Übergriff (SB)


Staatlich sanktionierte Mordtaten haben eine lange Tradition

Forum II "Targeted Killing durch NATO-Bündnispartner und das Recht" am 28. April 2013 in Bremen



Staatlich sanktionierte Mordtaten in Gestalt extralegaler Hinrichtungen, wofür in jüngerer Zeit das verschleiernde Begriffskonstrukt "Targeted Killing" in Stellung gebracht wurde, haben im Rahmen der sogenannten asymmetrischen Kriegsführung eine lange Tradition. In den 1950er Jahren tötete die israelische Regierung Offiziere der ägyptischen Streitkräfte, die Einsätze arabischer Guerillakräfte koordinierten, durch Briefbomben. Nach der Geiselnahme bei den Olympischen Spielen 1972 wurde der "Schwarze September" durch Anschläge dezimiert. Bei der Tötung Salah Schehades mit einer Ein-Tonnen-Bombe kamen vierzehn weitere Menschen, zumeist Kinder, um. Dennoch bezeichnete der damalige Ministerpräsident Ariel Scharon die Mission als großen Erfolg. Im September 2003 scheiterte die Tötung eines Großteils der Führung der Hamas, da die zu gering dimensionierte Sprengbombe nur einen Teil des betreffenden Gebäudes zerstörte. Ranghöchste Opfer solcher Anschläge waren der durch Krankheit an den Rollstuhl gebundene Hamas-Führer Ahmad Yasin, der am 22. März 2004 zusammen mit weiteren Personen durch drei Hellfire-Raketen eines israelischen Kampfhubschraubers getötet wurde, sowie am 17. April 2004 sein Nachfolger Abd al-Aziz ar-Rantisi.

Das südafrikanische Apartheidregime verübte vor allem in den 1980er Jahren mittels paramilitärischer Einheiten mehrere Attentate auf politische Gegner, von denen einige tödlich endeten. Dabei nahm man keine Rücksicht darauf, daß sich die Zielpersonen zum Zeitpunkt des Anschlags oftmals in anderen Staaten aufhielten. Ebenfalls in den 1980er Jahren versuchte die französische Regierung, "Carlos" und Abu Nidal zu liquidieren. Britische Sicherheitskräfte töteten eine Reihe von Angehörigen der IRA.

Die US-Regierung ließ während des Vietnamkriegs im Zuge der "Operation Phoenix" zahllose Menschen umbringen. Im Jahr 1986 mißlang die Liquidierung des libyschen Präsidenten Muammar al-Gaddafi ebenso wie später ein Anschlag auf den irakischen Staatschef Saddam Hussein am 20. März 2003. Seit etwa 2004 sind die USA dazu übergegangen, Drohnenangriffe auf sogenannte Terrorverdächtige in mehreren Ländern, darunter vor allem in bestimmten Regionen Pakistans, durchzuführen. Dort wurden einem Bericht des Bureau of Investigative Journalism (BIJ) vom August 2011 zufolge bis dahin zwischen 2292 und 2863 Menschen getötet. Etwa 385 bis 775 Unbeteiligte, darunter 164 Kinder, kamen demnach bei den Angriffen ums Leben. Andere Quellen gehen jedoch von erheblich höheren Zahlen und insbesondere sehr viel mehr zivilen Opfern aus. Im April 2010 wurde bekannt, daß die CIA mit Anwar al-Awlaki erstmals seit 2001 einen US-Bürger auf eine Liste der meistgesuchten Personen gesetzt hatte, die zur Festnahme oder Tötung ausgeschrieben waren. Ende September 2011 wurde er einem Bericht des US-Militärs zufolge mit einem weiteren US-Bürger, Samir Khan, und zwei anderen Personen bei einem Drohnenangriff im Jemen getötet.

Auch der Bundesregierung ist diese Praxis seit 2001 nicht fremd. Mit den Worten "wer den Tod liebt, kann ihn haben" brachte der damalige Bundesinnenminister Otto Schily das Thema in die Diskussion ein, und im Juli 2007 sprach sich auch sein Amtsnachfolger Wolfgang Schäuble für diese Vorgehensweise aus. Soldaten des Kommandos Spezialkräfte der Bundeswehr äußerten 2005 gegenüber deutschen Medien, sie hätten den Befehl gehabt, lokale Führer in Afghanistan zu töten. Zudem diente die Luftaufklärung von Bundeswehr-Tornados der NATO auch zur Durchführung solcher Tötungen.

Diese schlaglichtartige und zweifellos unvollständige Auflistung bekannter Beispiele für "Targeted Killing" mag anreißen, daß man es mit einem weitreichenden und in jüngerer Zeit eskalierenden Phänomen zu tun hat. Ungeachtet der enormen Opferzahlen in Pakistan ist nicht nur das aktuelle Ausmaß dieser Praxis, sondern insbesondere auch deren zunehmende Billigung bis hin zur Legalisierung als innovatives Moment der Kriegsführung von höchster Brisanz. Was vordem als Geheimoperation vertuscht, verleugnet und verschleiert wurde, tritt heute im Gefolge staatlicher Ermächtigung auf den Plan, willkürlich und unmittelbar über Leben und Tod zu entscheiden, indem der Kriegsfall entgrenzt und der Ausnahmezustand in Permanenz überführt wird.


Gratwanderung auf dem dünnen Eis des Humanitären Völkerrechts

Auf dem Kongreß "Quo vadis NATO? - Herausforderungen für Demokratie und Recht" vom 26. bis 28. April in Bremen stand das Forum II am Schlußtag unter dem Thema "Targeted Killing durch NATO-Bündnispartner und das Recht". Unter der Moderation Steffen Kommers leuchteten Prof. Dr. Michael Bothe als Experte des Humanitären Völkerrechts, MdB Wolfgang Neskovic und Dr. Gerd Hankel vom Hamburger Institut für Sozialforschung die verschiedenen Aspekte des Komplexes aus. Tomislav Chagall von der IALANA hatte das Amt des Rapporteurs inne.

Sitzend beim Vortrag - Foto: © 2013 by Schattenblick

Prof. Dr. Michael Bothe
Foto: © 2013 by Schattenblick

Ob sich das geflügelte Wort, man habe zwar nicht den Himmel auf Erden geschaffen, aber die Hölle verhindert, auf das Humanitäre Völkerrecht anwenden läßt, gilt als umstritten. Während es die einen als tendenzielle Einhegung des Krieges verteidigen, warnen Kritiker vor einer Verrechtlichung und mithin Fortschreibung desselben. Die Kontroverse, ob dabei Menschlichkeit und Vernunft den Kriegsgreueln Grenzen setzen, oder im Gegenteil Wege gebahnt werden, die eigenen Verluste zu minimieren und somit künftige Kriege führbar zu machen, erschöpft sich in der Ambivalenz unausgesetzter Abwägung auf dem Boden unhinterfragter Voraussetzungen. Der Juristentraum, höchstrichterliche Gerechtigkeit zum Wohle aller ins Feld zu führen, unterschlägt die zu ihrer Durchsetzung notwendige Gewalt, mithin also die Herrschaftsverhältnisse, die Gemeinwohl als Machterhalt der Eliten definieren.

Wie viele Kröten man folglich schlucken muß, will man der Exkursion durch den Dschungel juristischer Weltsicht folgen, machte schon Prof. Bothes Ausgangspunkt deutlich. Er wies das Recht auf Leben als ein im Völkerrecht geschütztes Menschenrecht aus, das jedoch nicht schrankenlos gilt. Eine rechtmäßige Kriegshandlung ist demnach keine Verletzung des Rechts auf Leben, und ein Soldat folglich kein Mörder, solange er einen gewissen Rahmen nicht überschreitet. Zum Kriegsverbrecher wird er nicht, wenn er in einem bewaffneten Konflikt feindliche Soldaten, militärähnliche Gegner mit einem ständigen Kampfauftrag oder Zivilisten, soweit und solange sie sich unmittelbar an Kampfhandlungen beteiligen, tötet. Hingegen dürfen Zivilisten, die sich nicht beteiligen, auch nicht getötet werden. Einwände ethischer, moralischer oder politischer Art, die sich hier zwangsläufig aufdrängen, stellt der juristische Diskurs zurück, so daß die Frage naheliegt, was davon später wieder aufgegriffen und was schlichtweg entsorgt wird.

Die genannten Regeln sind im Grundsatz unbestritten, werden jedoch nicht zuletzt von NATO-Bündnispartnern mit erschreckender Häufigkeit gebrochen. Dabei kommen juristische Rechtfertigungsstrategien zum Einsatz, allen voran der sogenannte "Krieg gegen den Terror". Während es sich bei einer Konfliktpartei um eine konkrete Entität handelt, ist der "Terror" ein abstraktes Phänomen und keine juristische Person. Dessen ungeachtet wird er als solche ausgewiesen. Hinzu kommt das Konstrukt des "unrechtmäßigen Kombattanten", der keinerlei Schutzanspruch genießt. Was die Tötung von Zivilisten betrifft, legt die NATO nicht deren aktuelle Beteiligung an Kampfhandlungen, sondern die bloße Mitgliedschaft in einer Kampforganisation zugrunde. Zudem werden die extraterritoriale Geltung von Menschenrechten verneint und Aspekte der Sicherheit über Menschenrechte gestellt.


Sprachverblendung im Dienst gezielter Irreführung

Kreuzt man auf dem Feld der umstrittenen Rechtsauffassungen die juristischen Klingen, so kommen sprachliche Verblendungen hinzu, derer sich Wolfgang Neskovic in Form eines Essays angenommen hatte. Wenn ein junger Soldat stirbt, heißt es, er sei im Felde gefallen. Der Begriff "freundliches Feuer" reduziert die Tragik eines menschlichen Todes auf die Dimension eines unglücklichen Eigentors beim Fußball. Der Begriff "gezielte Tötung" kombiniert gleich zwei Irreführungen, da er fälschlich Präzision und statt Totschlag oder Mord eine legale Vollstreckung der Todesstrafe suggeriert.

Liest aus seinem Essay - Foto: © 2013 by Schattenblick

Wolfgang Neskovic
Foto: © 2013 by Schattenblick

Das wichtigste Regelwerk des Krieges in Gestalt der Genfer Konventionen und ihrer Zusatzprotokolle wurde an die sich ändernde Kriegsführung angepaßt. Bei sogenannten asymmetrischen militärischen Konflikten entbehrt das Humanitäre Völkerrecht auf den ersten Blick jedoch eindeutiger Aussagen. Den scheinbaren Mangel an Regeln deuten US-amerikanische Juristen, aber auch deutsche Rechtswissenschaftler und Politiker in einen Freibrief für die Kriegsführung um. Während das Humanitäre Völkerrecht abschließend zwischen Kombattanten und Zivilisten unterscheidet, ist der Begriff des "ungesetzlichen Kombattanten" ein juristisches Kunstprodukt. Die US-Amerikaner akzeptieren die Logik des Völkerrechts nicht und ignorieren bei der Bekämpfung angeblicher "Terroristen" deren Erkennbarkeit im Kampf.

Zugleich versagt man den Kämpfern der Al Kaida oder Taliban den Status von Kombattanten, da diese den Schutz der Genfer Kriegsregeln genießen. Sie dürfen strafrechtlich nicht verfolgt werden und sind als Kriegsgefangene zu behandeln, was insbesondere Folter oder entwürdigende Behandlung nicht zuläßt. Nach dem 11. September entzogen sich die USA dem völkerrechtlichen Dilemma, "Terroristen" entweder als Kombattanten oder als Zivilisten zu behandeln, also sie entweder nur militärisch zu bekämpfen oder nur strafrechtlich zu verfolgen. So ersannen Völkerrechtler der Bush-Regierung jenseits der Genfer Konventionen die Figur des ungesetzlichen Kämpfers, der weder den Schutz der zivilen noch der militärischen Einstufung genießt. Die Obama-Administration hat diese Rechtsauffassung übernommen, bundesrepublikanische Juristen und Politiker pflichten ihr bei.

Das Argument, gegenüber einem rücksichtslosen Angreifer sei Rücksichtnahme hinderlich, ist insofern juristisch haltlos, als die Genfer Regeln nicht von ihrer gegenseitigen Einhaltung abhängig sind und jede Konfliktpartei unabhängig von der anderen verpflichten. Die Genfer Konventionen werden umgangen, wenn unterschiedliche Schutzgruppen in untypischer Weise verschmolzen werden, so daß in der Synthese weniger Schutz als für jede einzelne der Gruppen allein gewährt wird. Tatsächlich ist der Katalog der Genfer Gewaltbegrenzung sehr viel aktueller als behauptet wird: Im Zweifel ist der Mensch ein Zivilist, und wer Zivilisten, die nicht unmittelbar an Kampfhandlungen beteiligt sind, gezielt tötet, ist nach deutschem Recht ein Totschläger oder Mörder. Daß die Tötung in staatlichem Auftrag erfolgt, ist gänzlich irrelevant, da zu den zentralen Ideen des Rechtsstaats gehört, daß das Recht auch den Staat selbst bindet.

Nach der Logik von Militär und Geheimdienst ist hingegen der Mensch im Zweifel "Terrorist". Drohnen töten jeden, der sich im Wirkungskreis ihrer Waffen befindet. Das führt zu einem wesentlichen Unterschied zwischen dem Abschuß einer Rakete und der Verkündung eines Strafurteils, da es im Gerichtssaal keinen tödlichen "Kollateralschaden" gibt. Es gilt daher, die sprachliche und juristische Verschleierung der "gezielten Tötung" zu durchdringen und sie als das zu benennen, was sie ist: Totschlag beziehungsweise Mord im staatlichen Auftrag. "Die Macht hat ohnehin die Macht zu tun, was sie wünscht. Die schwierige Aufgabe liegt vielmehr darin, die Macht zu begrenzen und an die Grundsätze des Rechts und der Humanität zu binden", schloß Wolfgang Neskovic seinen Vortrag.


Von Todesschwadronen zu administrativen Todeslisten

Dr. Gerd Hankel erinnerte unter anderem daran, daß die USA zwischen den 1960er und 1980er Jahren Folter- und Tötungsprogramme in Lateinamerika installierten und Todesschwadrone ausbildeten, die politisch mißliebige Personen liquidierten. Diese Erfahrungen konnten nach dem 11. September 2001 auf verhängnisvolle Weise verwertet und weiterentwickelt werden. Unter Präsident George W. Bush wurden zwischen 2001 und 2008 sogenannte hochwertige Ziele in einem niedrigen zweistelligen Bereich getötet. Das änderte sich mit Barack Obama ab 2009 insofern, als Todeslisten mit Dutzenden von Namen erstellt wurden, die bis in die unteren Ränge des Gegners reichten. Zudem gab es getrennte Listen der CIA, diverser anderer Geheimdienste, des Nationalen Sicherheitsrates und des Spezialkräftekommandos. So existiert weder eine Transparenz noch eine Kontrolle durch die Judikative. Die Exekutive hat sich in dieser Hinsicht des Staates bemächtigt und oktroyiert der gesamten Bevölkerung ihre Sicherheitsvorstellungen auf.

Sitzend beim Vortrag - Foto: © 2013 by Schattenblick

Dr. Gerd Hankel
Foto: © 2013 by Schattenblick

Es wird ein Kriegszustand gegen den "Terror" dekretiert, man erklärt Menschen zu illegalen Kombattanten, und zur Rechtfertigung dient das diffuse Konstrukt des sogenannten asymmetrischen Krieges. Man attestiert dem Feind, die Kriegsregeln nicht zu beachten, und leitet daraus erweiterte Handlungsoptionen ab. Längst tötet man auf bloßen Verdacht und rechtfertigt zivile Opfer damit, daß es keine Alternative zu dem Angriff gegeben habe. Im Laufe des Irakkriegs starben bei jedem Luftangriff im Durchschnitt 17 Zivilisten, so daß man mit Berechtigung sagen kann, daß diese Form der Kriegsführung gegen das Heimtückeverbot der Haager Landkriegsordnung verstößt. Die postulierte militärische Notwendigkeit entkoppelt sich in zunehmender Weise von Maßgaben der Verhältnismäßigkeit, indem sogenannte Kollateralschäden für unvermeidlich erklärt und in hohem Maße hingenommen werden.

Prof. Bothe unterstrich am Begriff des "Kollateralschadens", daß Sprache in der Tat das Bewußtsein prägt. Da das Recht im Bewußtsein der Adressaten und relevanten Akteure verankert sein müsse, sei der sorgfältige Umgang mit Begriffen von essentieller Bedeutung. Laut Genfer Zusatzprotokoll darf der zivile Schaden nicht außer Verhältnis zu dem angenommenen militärischen Vorteil sein. Dieses Verhältnismäßigkeitsprinzip gilt als Vernunftprinzip und ist überall in der Rechtsordnung anzutreffen. Indessen erweist sich seine Operationalisierung als ausgesprochen schwierig, zumal auf internationaler Ebene Kontrollinstanzen fehlen oder nur in ungenügendem Maße vorhanden sind. Erforderlich sei einerseits neben dem Schutz der Menschenrechte auch ein Rechtsbehelf wie jener der europäischen Menschenrechtskonvention und andererseits eine entwickelte internationale Strafgerichtsbarkeit.

An dieser Stelle ist freilich einzuwenden, daß der Wunsch, ein internationaler Strafgerichtshof möge sich über die bekannten Ansätze hinaus umfassend etablieren, entweder unerfüllbar bleiben dürfte oder das Regime der westlichen Führungsmächte zu perfektionieren drohte. Verhandelt und geurteilt wird bislang ausschließlich gegen deren erklärte Feinde oder zu Zwecken, die den Hegemonialinteressen der NATO-Staaten dienlich sind. Die USA haben nie einen Zweifel daran gelassen, daß sie keine ihnen übergeordnete Strafgerichtsbarkeit anerkennen, und ebensowenig ist vorstellbar, daß die NATO-Verbündeten für ihre Kriegsführung zur Rechenschaft gezogen werden. Nicht nur greift ein Rechtsverständnis zu kurz, das von den gesellschaftlichen Widersprüchen im Innern und der Expansion der herrschenden Verwertungsordnung nach außen absieht, es steht vielmehr zu befürchten, daß sich ein Weltstrafgericht letzten Endes als Zwillingsbruder der globalen NATO-Kriegsführung etabliert.

Dr. Hankel wußte von einschlägigen Erfahrungen bei einem Vortrag zum Humanitären Völkerrecht zu berichten, den er in New York am Remarque Institute gehalten hat. Kaum habe der dort versammelte Kreis ostküstenlastiger Wissenschaftler gemerkt, worauf seine Thesen zum "Kollateralschaden" hinausliefen, habe man ihm als Referenten auch schon eine brutale Abfuhr erteilt. Wie Wolfgang Neskovic hervorhob, denken Juristen der entgegengesetzten Lager in unterschiedlichen Kategorien. Seine langjährige Gremienarbeit habe ihm vor Augen geführt, daß er im Zweifel für die Freiheit argumentiere, seine Gegenüber aus Kreisen von Militär und Geheimdiensten hingegen für die Sicherheit. Angesichts solcher Denkstrukturen versagten juristische Obersätze, denn wie Elias Canetti einmal gesagt habe, beruhe die Kraft falscher Argumente auf ihrer extremen Falschheit: "Das wird häufig beobachtet, weil die Besten unter uns Juristen diejenigen sind, die den Rechtsbruch logisch begründen können."

Die drei Referenten im Expertengespräch - Foto: © 2013 by Schattenblick

Wider die Kraft falscher Argumente
Foto: © 2013 by Schattenblick


Omnipotenzanspruch exekutiver Gewalt

Ob es daher gelingt, die Gegenseite in diesem Disput mit juristischer Stringenz dazu zu zwingen, sich der Argumentation zu beugen, oder dieses Vorhaben aufgrund der immanenten Logik entgegengesetzter Interessenlagen zum Scheitern verurteilt ist, sollte als offene Frage behandelt werden, die nicht zuletzt einer Einbeziehung wesentlicher außerjuristischer Analysen und Schlußfolgerungen bedarf. Von einer Evolution der Ethik im Humanitären Völkerrecht auszugehen und daraus die Hoffnung auf eine menschliche Höherentwicklung abzuleiten, hilft insofern nicht weiter, als der Charakter dieser Innovation damit noch nicht ausgelotet ist. Wohl mag es zutreffen, daß, wie in der Diskussion angeführt, zu Beginn des 17. Jahrhunderts Folter für notwendig zur Erforschung der Wahrheit erachtet wurde, diese Auffassung jedoch zu Ende desselben Jahrhunderts als überwunden galt. Dennoch hat heute die Erforschung, Anwendung und Legalisierung von Folter insofern einen historisch beispiellosen Stand erreicht, als sie im Kontext der im Namen von Freiheit, Demokratie und Menschenrechten geführten Angriffskriege weithin praktiziert und akzeptiert wie auch namentlich im Gefängnissystem der USA den Insassen als Isolationshaft vieltausendfach aufgezwungen wird.

"Targeted Killing" verkörpert als Praxis, letztlich jedes beliebige Opfer samt seinem Umfeld an jedem beliebigen Ort liquidieren zu können und ungestraft zu dürfen, einen Omnipotenzanspruch exekutiver Gewalt, die ihren Gegenpart in Gestalt des "Terroristen" generiert. Diese Entmenschlichung spricht dem Feind jedes legitime Motiv wie auch die Inanspruchnahme jedweder Rechtsmittel ab, um ihn als Freiwild zu drangsalieren oder zu vernichten. So werden die Drohnen am Himmel zur Hölle auf Erden für die Bevölkerung Afghanistans und anderer mit Krieg überzogener Länder, da nichts und niemand vor der Vernichtungsgewalt der Raketen sicher sein kann. Die Botschaft "gezielter Tötungen" wirkt mithin weit über den Kreis ihrer ausgewählten Ziele hinaus: Wer sich der Expansion der NATO in den Weg stellt, kann sich seines Lebens nirgendwo sicher sein.


Bisherige Beiträge zum Kongreß "Quo vadis NATO?" im Schattenblick unter
www.schattenblick.de → INFOPOOL → POLITIK → REPORT:

BERICHT/148: Quo vadis NATO? - sowohl als auch ... (SB)
BERICHT/149: Quo vadis NATO? - gedehntes Recht und Kriege (SB)
BERICHT/150: Quo vadis NATO ... Schluß damit! (SB)
BERICHT/152: Quo vadis NATO? - Wandel der Feindschaften? (SB)
BERICHT/153: Quo vadis NATO? - Abgründe der Kriegsrechtfertigung(SB)
BERICHT/154: Quo vadis NATO? - Das Auge der Wahrheit (SB)
BERICHT/156: Quo vadis NATO? - vorbei am Grundgesetz (SB)
BERICHT/157: Quo vadis NATO? - Die Drohnenfront (SB)
BERICHT/158: Quo vadis NATO? - recht und billig (SB)
BERICHT/159: Quo vadis NATO? - Der Film ruft zu den Fahnen (SB)
BERICHT/160: Quo vadis NATO? - Ohne Not und Gründe (SB)
BERICHT/161: Quo vadis NATO? - Hegemonialmilitarismus auf dem Weg? (SB)
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STELLUNGNAHME/001: Quo vadis NATO? - Ermächtigungsfragen (Norman Paech)

10. September 2013