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BERICHT/213: Am Beispiel Baskenland - Kulturraum selbstbestimmt ... (1) (SB)


Repression im Baskenland - ohne Selbstbestimmung keine Demokratie (1. Teil)

Informationsveranstaltung mit Walter Wendelin von der baskischen Organisation Askapena im Centro Sociale in Hamburg am 9. Oktober 2015



Hügelige Landschaft, im Vordergrund zwei Bauernhöfe - Foto: By Ulamm (Own work) [Public domain], via Wikimedia Commons

Bäuerlich geprägte Landschaft des Baskenlandes - zwei Höfe in Navarra
Foto: By Ulamm (Own work) [Public domain], via Wikimedia Commons

Nationalitätenkonflikt - ein solcher Begriff könnte kaum fehlangewandter sein, wenn er, wie in Politik und Medien üblich, auf Konflikte bezogen wird, die zwischen Völkern, die keinen eigenen Staat aufweisen, und dem Staat bzw. der Staatengruppe, dem bzw. der ihr Hauptsiedlungsgebiet angehört, nicht selten schon seit langer Zeit bestehen. Auch in der Europäischen Union scheint das Anliegen, sich innerhalb der eigenen, als vertraut empfundenen Sprach- und Kulturgemeinschaft als Staat zu konstituieren, unter Umständen eine politisch hochbrisante Angelegenheit zu sein, die ungewollt Fragen aufwirft nach dem tatsächlichen Charakter einer Staatengemeinschaft, die sich ihrer eigenen Behauptung zufolge auf Werten wie Freiheit und Demokratie gegründet und zur Wahrung der Menschen- und Minderheitenrechte verpflichtet hat. [1]

Aus Sicht derjenigen, die angetreten sind, den Wunsch nach Eigenstaatlichkeit zu realisieren, gibt es keinen plausiblen Grund, der dagegen spräche, daß in einem demokratischen Europa Menschen, die sich beispielsweise der baskischen Sprache, Kultur und Volksgruppe verbunden fühlen, dieselben Rechte geltend machen wie die Angehörigen ihrer Nachbarvölker. Doch so einfach ist das nicht.

Schon der Begriff Demokratie ist in diesem Kontext nicht ganz unproblematisch. Idealtypisch wird mit ihm eine Regierungsform bezeichnet, die durch die Zustimmung der Mehrheit der Bürger wie auch ihrer politischen Beteiligung legitimiert werden kann. Diese Zustimmung wird - vornehmlich durch Wahlen - in parlamentarischen Demokratien erst ab einem bestimmten geographischen Rahmen abgefragt. In den sogenannten Nationalitätenkonflikten besteht das Dilemma jedoch gerade darin, daß ein nicht unerheblicher Teil einer bestimmten Bevölkerung, wie beispielsweise der Kataloniens oder auch des Baskenlandes, mit der ihm aufgezwungenen staatlichen Zugehörigkeit zu Spanien respektive Frankreich nicht einverstanden ist.

Wer über die faktische Macht zur Grenzziehung und die Definitionshoheit in Sachen Staatsgründung verfügt, bestimmt also auch darüber, welche ethnischen Gruppen ihr Selbstbestimmungsrecht ausüben können und welche nicht. Dies ist unter demokratischen Gesichtspunkten auch deshalb problematisch, weil die den Grenzziehungen zugrundeliegenden historischen Vorgänge und die sie dominierenden Interessen zumeist auf Macht- und Gewaltfragen zurückzuführen sind, ohne demokratischen Ansprüchen zu genügen. Betreffen Demokratiedefizite dieser Art nur die zumeist eher kleineren Volksgruppen der europäischen Völkerfamilie, die nicht in einem eigenen Staat leben, oder bergen gerade die sogenannten Nationalitätenkonflikte das Potential in sich, die Probe aufs Ganze zu machen, indem sie Anspruch und Wirklichkeit in Sachen Demokratie gegeneinander in Stellung bringen?


Der Wunsch nach Unabhängigkeit im Baskenland und in Katalonien

Der aus dem Griechischen stammende Begriff Demokratie läßt sich mit Volksherrschaft übersetzen, worunter eine staatliche Ordnung verstanden werden könnte, die es einem Volk ermöglicht, seine gesellschaftlichen Angelegenheiten eigenverantwortlich zu gestalten. Der Begriff Volk bedeutete ursprünglich einfach nur eine große Menschenmenge. Die sich im Verlauf der Geschichte qualifizierende Verfügungsgewalt des Menschen gegen seinesgleichen brachte es schon frühzeitig mit sich, daß Unterscheidungskriterien entwickelt und eingesetzt wurden, um Menschen und Menschengruppen definieren, voneinander unterscheiden und gegeneinander in Stellung bringen zu können, wofür sich im antiken Rom der Ausspruch "divide et impera" (teile und herrsche) eingebürgert hatte.

Offenbar zum Zwecke der Unterscheidung setzte sich im Begriffsverständnis des Wortes Volk die Bedeutung einer Gruppe von Menschen durch, die aufgrund kultureller oder auch sonstiger Gemeinsamkeiten miteinander verbunden sind. Das heutige "Multi-Kulti" hebt diese Herrschaftsfunktion keineswegs auf, weil es auf der Basis verschiedener Volkszugehörigkeiten oder Nationalitäten Kooperation und Zusammenarbeit verspricht und damit verfestigt, was es zu überwinden behauptet. Wer wollte Betroffenen wie den Baskinnen und Basken verwehren, sich als ein eigenständiges Volk zu bezeichnen, wenn sie doch das Kriterium, durch eine gemeinsame Sprache und Kultur miteinander verbunden zu sein, erfüllen?

Innerhalb Spaniens bzw. Frankreichs mögen sie eine Minderheit sein. Im Baskenland jedoch stellen sie eine klare Mehrheit dar wie auch die Bewohner Kataloniens, der nordöstlichsten Provinz Spaniens, in der der Kampf um Unabhängigkeit bzw. die Loslösung von Spanien aktueller denn je zu sein scheint. Am 11. September haben in der katalanischen Hauptstadt Barcelona Hunderttausende, wenn nicht sogar eine Million Menschen für einen freien Weg in eine katalanische Republik demonstriert. Dieser Tag wird in Katalonien alljährlich als Gedenk- bzw. Trauertag begangen. Er geht auf den 11. September 1714 zurück, als Barcelona vor den Truppen des spanischen Königs Philipp V., die die Stadt belagerten, kapitulierte. Anschließend wurde Katalonien unter dem Verlust jeglicher Eigenständigkeit in den spanischen Zentralstaat integriert.

Der absolute Herrschaftsanspruch Spaniens in Katalonien wie auch den baskischen Provinzen und Navarra ist seitdem ungebrochen. Legitimitätsprobleme konnten da nicht ausbleiben. Dem Soziologen Max Weber zufolge setzt politische Herrschaft im Unterschied zur bloßen Macht eine Legitimität voraus, die nur durch die Akzeptanz der Herrschenden durch die Beherrschten sichergestellt werden könne. Ein solcher Vorgang scheint massiv erschwert zu werden, wenn sich bestimmte Volksgruppen, denen die Eigenstaatlichkeit verwehrt wird, gezwungen sehen, einen Zentralstaat anzuerkennen, dem sie sich aus sprachlichen, kulturellen oder historischen Gründen nicht zugehörig fühlen.


Landkarte Europas mit hervorgehobenem und in Vergrößerung dargestelltem Baskenland - Foto: by Zorion als CC-BY-SA 3.0 Wikimedia Commons (Own work) [CC BY-SA 3.0] (http://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0)], via Wikimedia Commons

Die Lage des Baskenlandes in Europa - Die Autonomen Regionen Baskenland und Navarra liegen in Spanien, die drei nördlichen Provinzen in Frankreich
Foto: by Zorion als CC-BY-SA 3.0 Wikimedia Commons (Own work) [CC BY-SA 3.0 (http://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0)], via Wikimedia Commons

Noch heute sehen offenbar viele im Baskenland lebenden Menschen den spanischen Staat als "Ausland" an. Läge bei einem so schwierig zu lösenden Konfliktstoff, so wäre zu fragen, eine Verhandlungslösung nicht auch im Interesse Madrids, weil zu befürchten steht, daß sich jeder Schritt des spanischen Zentralstaats, durch Repression den eigenen Machtanspruch zu sichern, auf die Akzeptanzbereitschaft der Beherrschten ihm gegenüber negativ auswirken könnte? Wäre es nicht auch aus Demokratieerwägungen heraus naheliegend, die Bevölkerungen des Baskenlandes wie auch Kataloniens per Referendum darüber abstimmen zu lassen, ob sie weiterhin zu Spanien gehören oder eine eigene Republik gründen wollen?

Die Haltung Madrids ist in dieser Frage unmißverständlich. Unter keinen Umständen scheint Spanien bereit zu sein, Referenden dieser Art zuzulassen, obwohl niemand deren Ergebnisse vorhersagen kann und es deshalb genausogut möglich wäre, daß eine solche Befragung - wie in Schottland unlängst geschehen - für diejenigen, die eine eigene Republik gründen wollen, negativ ausgehen könnte. Ein Demokratiegewinn würde in jedem Fall erzielt werden. Spanien hätte einen Legitimitätsgewinn, sobald sich herausstellen würde, daß die Zentralregierung auch im Baskenland über eine respektable Mehrheit verfügt. Die baskische Unabhängigkeitsbewegung würde in diesem Fall realisieren, daß der Wunsch nach einer Loslösung keine Mehrheit in der eigenen Bevölkerung und damit keine demokratische Legitimation hätte. Der von ihrer Seite gegen Madrid erhobene Vorwurf lautet denn auch nicht, daß Spanien die geforderte Unabhängigkeit nicht gewähren würde, sondern daß ein solches Referendum mit allen Mitteln verhindert wird.


Gibt es eine stille Allianz gegen Unabhängigkeitsbestrebungen?

Spanien scheint sich in seiner starren Haltung auf eine Übereinkunft der internationalen Staatengemeinschaft stützen zu können. Daß der Kosovo von Serbien abgespalten werden konnte und seine einseitige Unabhängigkeitserklärung durch die internationale Gemeinschaft anerkannt wurde, obwohl der Jugoslawienkrieg mit einer UN-Resolution endete, die den Verbleib des Kosovo in Serbien garantierte, scheint die sprichwörtliche Ausnahme von der Regel zu sein. In diesem Fall hatte die westliche Staatenelite offenbar ein spezifisches Interesse an der weiteren Zerschlagung Rest-Jugoslawiens bzw. Serbiens.

Von diesem Sonderfall einmal abgesehen scheint die sogenannte internationale Staatengemeinschaft positive Beispiele für erfolgreich und friedlich verlaufende Sezessionen zu scheuen und einen Dammbruch zu befürchten, sobald ein demokratisch legitimiertes Referendum das Votum einer abspaltungswilligen Mehrheitsbevölkerung ergibt. Befürchten die politischen Eliten demokratischer Staaten, daß immer mehr Menschen, die sich einer bestimmten Kultur, Volksgruppe oder Sprachengemeinschaft zugehörig fühlen, die sie durch einen Zentralstaat ignoriert oder unterdrückt sehen, ebenfalls nach Unabhängigkeit streben könnten?


Unverzichtbar in Sachen demokratischer Freiheit - die eigene Sprache

In fast allen Staaten Lateinamerikas wird mit Spanisch wie auch in Brasilien mit Portugiesisch die Sprache der einstigen Kolonialmächte gesprochen. Wie schön, wie praktisch, mag denken, wer gleichermaßen der Vorherrschaft der englischen Sprache, die weltweit zur Einheitssprache aufgebaut wird, positiv gegenübersteht, so als wäre die Dominanz einer einzigen Sprache bzw. der ihr zugehörigen Kultur nicht zugleich auch ein Verdrängungs- und Gewaltakt gegenüber anderen Kulturen und Lebensformen. Wer vermag da schon zu erahnen, welch ein menschheitsgeschichtlicher Kulturschatz bereits unwiederbringlich verlorengegangen und zerstört worden sein könnte im Zuge der Kolonialisierung Mittel- und Südamerikas, aber auch Afrikas und Asiens durch westliche Okkupanten, die ihren Hegemonialanspruch gegenüber den, wie sie sie nennen, Dritte-Welt- oder Entwicklungsländern aufrechterhalten?

Die baskische Sprache gilt, wie hiesigen Lexika zu entnehmen ist, als einziger überlebender Rest der vorlateinischen Sprachenwelt Latein- Europas mit nicht-indogermanischer Grundlage. Die Basken, die sich durch Sprache, Körperbau und Sitten von den sie umgebenden französischen und spanischen Bevölkerungen unterscheiden würden, hielten, so heißt es, zäh an ihren Traditionen fest. Wäre es da nicht, auch um dem ursprünglichen Demokratiegedanken zu befördern, der doch gerade von Respekt und Wertschätzung gegenüber Anschauungen, Sprachen, Traditionen, Lebensformen und kulturellen Errungenschaften gleich welcher Art bestimmt ist, von allgemeinem Interesse, die baskischen Unabhängigkeitsbestrebungen zu stärken?

Betrifft nicht der drohende Verlust von immer mehr sprachlichen wie kulturellen Eigenarten die Qualität demokratischer Gesellschaften insgesamt, weshalb ihm an jeder nur denkbar möglichen Stelle entgegengewirkt werden sollte nicht zuletzt deshalb, weil die koloniale und postkoloniale Entwicklung weltweit zu einer Zentralisierung der Verwaltungs- und Verfügungsstrukturen geführt hat inklusive einer sprachlichen Vereinfachung, die die Handlungs-, Denk- und Entfaltungsmöglichkeiten letzten Endes aller Menschen einschränkt und fundamental gefährdet?


Friedensinitiative der abertzalen Linken

Es könnte der Standpunkt vertreten werden, daß der Unabhängigkeitskampf der Katalonen oder die politische Initiative der baskischen Linken für einen Friedens- und Versöhnungsprozeß auch weiterhin an den Rand des internationalen Politikgeschehens verlagert werden könnten, weil es drängendere Fragen und Probleme gäbe. Dies ist, gerade auch mit Blick auf die Krisen und Kriege im Nahen Osten und ihre katastrophalen Folgen, die wegen ihrer humanitären Dringlichkeit viele Kräfte der kritischen und engagierten Öffentlichkeit auch in den kerneuropäischen Staaten wie Deutschland binden, keineswegs von der Hand zu weisen.

Mit welch einem Verlust kultureller Freiräume, sprachlicher Ausdrucksmittel und damit auch gesellschaftlicher Gestaltungsmöglichkeiten die bisherige, mit dem Begriff Demokratisierung etikettierte weltweite Entwicklung bereits einhergegangen sein mag, ist kaum zu ermessen, und so ist auch die Frage, wie elementar die politische Lösung sogenannter Autonomie- und Nationalitätenkonflikte für die demokratische Qualität der internationalen Staatenwelt insgesamt sein könnte, noch völlig offen.

Nicht auszuschließen ist, daß gerade auch an diesem Frontabschnitt die Schlachten um das Denken und Fühlen der Menschen geschlagen werden mit dem aus dem bisherigen Verlauf der Herrschaftsgeschichte ableitbaren und deshalb vorhersagbaren Ergebnis - sollte es nicht zu einer deutlichen Zäsur kommen - einer Vereinheitlichung, die Herrschaft in einer Totalität bisher unerreichten Ausmaßes ermöglichen würde, wenn jede Abweichung schon im Denken und Empfinden auf der noch zu erledigenden Reststrecke eliminiert wird.


Transparent mit der Aufschrift 'Independentzia' vor mit Stickern beklebter Wand - Foto: © 2015 by Schattenblick

Unabhängigkeit (baskisch Independentzia) und Demokratie untrennbar? Independentzia-Plakat im Centro Sociale
Foto: © 2015 by Schattenblick


Informationsveranstaltung zum Baskenland im Hamburger Centro Sociale

Aus diesen Gründen können die aktuelle Entwicklung im Baskenland, aber auch der neue Prozeß, der demnächst vor einem spanischen Sondergericht gegen fünf baskische Aktivisten beginnen wird, von großem Interesse sein für Menschen, die sich dem Anliegen der Demokratieentfaltung in ihrer ursprünglichsten Form und der gezielten Zuspitzung der Frage nach der Befreiung des Menschen verbunden fühlen.

Mit Walter Wendelin hat ein von dem bevorstehenden Prozeß Betroffener und Repräsentant der baskischen Organisation Askapena, deren Verbot vom spanischen Staat in diesem Verfahren ebenfalls angestrengt wird, vom 6. bis 9. Oktober eine Rundreise in Deutschland gemacht und auf Veranstaltungen in Nürnberg, Potsdam, Berlin und Hamburg über die Lage informiert. Den zweiten Teil des Berichts wird der Schattenblick dem Vortrag bzw. Gespräch widmen, das Walter Wendelin im Hamburger Centro Sociale mit Interessierten geführt hat.

(wird fortgesetzt)


Fußnote:


[1] In Artikel 2 der Gemeinsamen Bestimmungen des Vertrags über die Europäische Union vom 7. Februar 1992 in der konsolidierten Fassung vom 30.3.2010 heißt es:
"Die Werte, auf die sich die Union gründet, sind die Achtung der der Menschenrechte, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte einschließlich der Rechte der Personen, die Minderheiten angehören. Diese Werte sind allen Mitgliedsstaaten in einer Gesellschaft gemeinsam, die sich durch Pluralismus, Nichtdiskriminierung, Toleranz, Gerechtigkeit, Solidarität und die Gleichheit von Frauen und Männern auszeichnet."

14. Oktober 2015


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