Schattenblick → INFOPOOL → POLITIK → REPORT


BERICHT/262: Gegenwartskapitalismus - den Droh- und Vernichtungswuchten revolutionär entgegen ... (SB)



Recep Tayyip Erdogan hat jeglichen kurdischen Widerstand mit dem Terrorverdikt überzogen und seine vollständige Auslöschung in den Rang vordringlichster türkischer Staatsräson erhoben. Er führt einen Kolonialkrieg im Südosten des Landes, zerstört die Lebenszusammenhänge kurdischer Siedlungsgebiete und löst eine Massenflucht aus. Seine Streitkräfte greifen Rojava in Nordsyrien an, nur mühsam gezügelt durch die Interessenkonflikte anderer Interventionsmächte. Die prokurdische Partei HDP wird verfolgt, ihre Führung und zahlreiche Mitglieder sitzen im Gefängnis. Wer immer seine Stimme zur Verteidigung der Kurdinnen und Kurden erhebt, wird unter den Terrorgesetzen abgestraft. Der permanente Ausnahmezustand geht in die Präsidialdiktatur über, mit der Erdogan seine Machtergreifung konstitutionell besiegelt. Die verbliebenen Reste demokratischer Verfaßtheit wurden beim Referendum entsorgt.

Wenngleich die Ausgrenzung, Diskriminierung und Drangsalierung kurdischer Interessen so alt wie die türkische Republik und älter ist, geht das AKP-Regime noch einen Schritt weiter als die Vorgängerregierungen. Von seiner Mission besessen, die "Kurdenfrage" endgültig aus dem Feld zu schlagen, beläßt es Erdogan nicht bei einem Guerillakrieg samt der damit stets verbundenen Repression gegen die Bevölkerung. Seine Angriffe weisen darüber hinaus die Züge einer fundamentalen Zerstörung kurdischer Lebenszusammenhänge und Kultur auf, als wolle er selbst den Boden vernichten, auf dem die Identität dieser Volksgruppe gewachsen ist. Daß im Furor des Despoten strategisches Kalkül mit religiös-reaktionärem Fanatismus und brachial vorgetragene Machtpolitik mit obsessivem Größenwahn zu einer explosiven Gemengelage vergären, macht es nicht leichter, aber um so notwendiger, die Stoßrichtung und mithin drohenden Folgeschritte beim Frontalangriff auf die kurdische Bevölkerung in der Türkei wie auch den Nachbarländern zu analysieren und prognostizieren.

Wie die deutsche Geschichte lehrt, wäre es verhängnisvoll, die Vernichtungsgewalt eines reaktionären Führerkults zu unterschätzen, der sich nationalistisch, völkisch und rassistisch geprägter Feindbilder und Heilsversprechen bedient. Nicht minder fatal bliebe andererseits eine bloße Personalisierung der Widerspruchslage oder gar deren Reduzierung auf eine pathologische Persönlichkeitsstruktur. So sehr es gilt, jedes Manöver Erdogans im Blick zu behalten, um nicht vom nächsten Schlag überrascht zu werden, so sehr ist er ein letzten Endes austauschbarer Repräsentant und Statthalter diverser fremder Interessen und insbesondere des kapitalistischen Verwertungsregimes. Wenngleich Erdogan nicht selten einem tobenden Kettenhund gleicht, der sich in alles und jeden verbeißt, der sein Revier auch nur tangiert, ist sein vordergründiger Alleingang letzten Endes doch eingebunden in ein Machtgeflecht, das den Spielraum begrenzt und nur solange nicht gewaltsam interveniert, wie sein Schlingerkurs um die erwünschte Grobrichtung oszilliert.

Erdogans Logik folgt im Kern durchaus der höchst rationalen Erkenntnis, daß der kurdische Widerstand und dessen Gesellschaftsentwurf nicht nur ihn und seinesgleichen, sondern das gesamte Gefüge staatlicher Gewalt, ökonomischer Ausbeutung und sozialer Unterdrückung vehement bestreiten. Sein Krieg gegen die Kurdinnen und Kurden richtet sich insbesondere gegen deren Kampf um ein Leben in Freiheit wie auch dessen Strahlkraft für andere Menschen, die darin eine solidarische und bündnisfähige Theorie und Praxis erfahren und erschließen. Dieses Aufbegehren und die darin enthaltene Botschaft darf aus Sicht der türkischen Regierung keinesfalls Schule machen, die sich dabei der Rückendeckung all jener Mächte sicher sein kann, mit denen sie sich tagespolitisch in den Haaren liegt. Daß niemand Erdogan in den Arm fällt, wenn er kurdische Städte unter Artilleriefeuer nehmen läßt, militärisch in Nordsyrien einfällt, die erfolgreiche HDP eliminiert, ist keiner Schwäche der europäischen Regierungen oder der Brüsseler Administration geschuldet, sondern deren Kollaboration mit dem Regime.

Steht die kurdische Bewegung mehr denn je zuvor in ihrer langen Geschichte des Kampfs gegen die Unterdrückung mit dem Rücken an der Wand? Wenngleich eine nüchterne Einschätzung der aktuellen Kräfteverhältnisse und Verschiebungen in der Region diesen Schluß durchaus zuläßt, folgt daraus keineswegs, sie als Opfer zu sehen. Dies würde bedeuten, sich der Übermacht zu unterwerfen und ihrer Ratio zu fügen. Die kurdische Bewegung führt vielmehr einen Freiheitskampf, der aus der Not geboren sein mag, doch in seinen Zielsetzungen weit über die Bewältigung der akuten Bedrohung hinausweist. Sein antikapitalistischer, antistaatlicher und antipatriachaler Charakter läßt darauf schließen, daß es dabei nicht allein um die Bestrebung einer diskriminierten und drangsalierten Minderheit geht, zur Mehrheitsgesellschaft aufzuschließen oder ihrerseits die Vorherrschaft zu erlangen. So nachvollziehbar dieses Interesse wäre, führte es doch im Erfolgsfall nicht über den Fortbestand der gesellschaftlichen Verhältnisse und damit des unbewältigten Verhängnisses mit neu gemischten Karten hinaus.

In ihrem Ringen um eine andere Gesellschaft bricht die kurdische Bewegung mit den zentralen inneren und äußeren Strukturen der herrschenden Ordnung. Sie unterwirft sich in ihrem Kampf selbst einem Lern- und Veränderungsprozeß und nimmt in den von ihr kontrollierten Gebieten den Aufbau eines Zusammenlebens unter emanzipatorischen Maßgaben in Angriff. Diese Auseinandersetzung führt sie an verschiedenen Fronten und mit unterschiedlichen Mitteln, wobei ihr die enge Verschränkung von Theorie und Praxis, konkreten Kämpfen und wissenschaftlicher Forschung eine bemerkenswerte Substanz und Konsistenz verleiht. Eine internationalistische Position, die im Konfliktfall Partei für die schwächere Seite ergreift, begegnet im Falle des kurdischen Freiheitskampfs einer ihrerseits solidarischen Bewegung, die sich nicht allein für die eigenen Belange einsetzt, sondern weitreichende und umfassende Vorschläge für die unabdingbaren Voraussetzungen und die Gestaltung einer künftigen Gesellschaft macht, wo immer sie geschaffen werden mag.

Begreift man diese Bewegung als emanzipatorische Offensive, die sich nicht in einem Machtkampf unter denselben Parametern und um dieselben Pfründe wie die des Gegners erschöpft, wird verständlich, warum auch die dritte Konferenz "Die kapitalistische Moderne herausfordern" in ihrem Programm auf ausdrückliche Bezüge zur aktuellen Entwicklung in der Türkei und in Kurdistan verzichtet hat. Zum einen war diese in den geführten Diskussionen ohnehin präsent, vor allem aber fand damit ein langjähriger Prozeß des Austausches und Forschens seine Fortsetzung, den unbeirrt durchzutragen ein unverzichtbares Element eigenständigen Voranschreitens ist.


Bei der Eröffnungsrede - Foto: © 2017 by Schattenblick

Rolf Becker
Foto: © 2017 by Schattenblick


Das Undenkbare denken ...

Der Hamburger Schauspieler und Gewerkschafter Rolf Becker, seit Jahrzehnten an Schauplätzen emanzipatorischer Kämpfe in praktizierter Solidarität präsent, setzte in seiner Begrüßung ein positioniertes Zeichen. Ausgehend von der Aussage "Das Undenkbare denken" in der Ankündigung der Konferenz, entwickelte er die Frage, wie aus der Vielfalt möglicher Antworten, was das Undenkbare und das zu Denkende sei, eine gemeinsame Antwort gefunden werden könne. Dies sei nur möglich, indem man durch praktisches Handeln für das jeweils Erkannte eintrete, ob einzeln, doch besser noch in kleinen oder größeren Kollektiven. "Eine Wahrheit, für die wir nicht eintreten, ist keine Wahrheit", versah er die dreitägige Zusammenkunft von zeitweise weit über tausend Menschen in der Universität Hamburg mit einem Leitmotiv.

Bei seiner Reise nach Diyarbakir in die umkämpfte Altstadt Sur im vergangenen Jahr sei er Müttern im Hungerstreik begegnet, die die Herausgabe der Leichname ihrer ermordeten Kinder forderten. Welche Antwort könne man diesen Müttern geben, wie sich selbst motivieren, an ihrer Seite das zu vertreten, was Ungeheuerlichkeiten, Unrecht und Leiden wie dieses verhindert? Wie Bertolt Brecht gesagt habe, wollen die Kapitalisten keinen Krieg, sie müssen ihn wollen. Die sich permanent steigernde Krise des Kapitals zwinge sie, nach Auswegen zu suchen: Einerseits durch die erzwungene Vernichtung einer Masse von Produktivkräften, andererseits durch die Eroberung neuer Märkte und die gründlichere Ausbeutung alter Märkte. Was das bedeute, erführen die Menschen in Griechenland in vollem Ausmaß, zeigten die Kriege in Nordafrika und im Nahen Osten.

Um noch einmal mit Brecht zu sprechen, versinke unser Erdteil in Barbarei, weil die Eigentumsverhältnisse an den Produktionsmitteln mit Gewalt festgehalten werden. Doch was nütze es, dazu etwas Mutiges zu schreiben, wenn nicht klar sei, warum wir in diesen Zustand geraten sind? Man müsse sagen, daß gefoltert wird, weil die Eigentumsverhältnisse bleiben sollen. Freilich verliere man dabei viele Freunde, die gegen das Foltern sind, weil sie glauben, die Eigentumsverhältnisse könnten auch ohne Foltern aufrechterhalten werden. Man müsse die Wahrheit über die barbarischen Zustände sagen, damit das getan werden könne, was sie zum Verschwinden bringt, nämlich das, wodurch die Eigentumsverhältnisse geändert werden. Nach diesen düsteren, doch unabweislichen Erwägungen gab Rolf Becker der Konferenz ein ermutigenderes Brecht-Zitat mit auf den Weg, das auch seine eigene Überzeugung zum Ausdruck bringe:

Es wechseln die Zeiten. Die riesigen Pläne
der Mächtigen kommen am Ende zum Halt.
Und gehn sie einher auch wie blutige Hähne,
es wechseln die Zeiten, da hilft kein Gewalt.

Am Grunde der Moldau wandern die Steine,
es liegen drei Kaiser begraben in Prag.
Das Große bleibt groß nicht und klein nicht das Kleine.
Die Nacht hat zwölf Stunden, dann kommt schon der Tag.


Projektion des aufgezeichneten Redebeitrages - Foto: © 2017 by Schattenblick

John Holloway
Foto: © 2017 by Schattenblick


Ihr seid nicht allein!

Was könne er Menschen sagen, die viele tausend Meilen entfernt mitten im Krieg um den Aufbau einer neuen Gesellschaft kämpfen, fragte John Holloway in einer Videobotschaft aus Mexiko. "Ihr seid nicht allein! Euer Schmerz ist derselbe, der die gesamte kapitalistische Welt heimsucht. Wir ertragen diesen Schmerz jedoch nicht passiv, sondern schlagen mit einer Würde zurück, die weit über diesen Angriff hinausreicht." Die Kurdinnen und Kurden würden nicht nur vom IS, von Assad oder der türkischen Regierung angegriffen, denn diese Angriffe entsprängen der zugrundeliegenden Struktur der kapitalistischen Welt. Kapitalismus sei ein fortwährender Angriff auf die Menschlichkeit, auf unser alltägliches Leben, auf unsere Wünsche und für viele Millionen Menschen auf deren tagtägliches Überleben, zugleich aber auch auf alle anderen Lebensformen. Bomben, Bulldozer und Banken, Drogenbanden und Minengesellschaften, Verlust der Wohnung oder der Arbeit oder der Arbeitszwang, um andere reich zu machen.

Wie jedes andere System der Unterdrückung habe auch der Kapitalismus einen Anfang und ein Ende. Wenn es scheinbar keine Alternative gibt und unvorstellbar anmutet, über ihn hinauszudenken, verwandle sich der Zorn oftmals in Vernichtungsgewalt, Rassismus und Zerstörung, wie das derzeit überall auf der Welt stattfinde. Daher gelte es, diesen Zorn in produktive Bahnen zu lenken, indem wir zeigen, daß in Rojava, Chiapas und vielen anderen Orten Zeichen gegen die Logik des Systems gesetzt werden, die eine andere Welt schaffen. "Ihr seid nicht allein in eurem Schmerz, eurem Zorn und eurer Entschlossenheit, die Welt zu verändern!" Fühle man sich auch verloren wie in einem abstürzenden Flugzeug, könne man das doch nicht akzeptieren: "Wir müssen den Kapitalismus brechen, ohne daß wir wüßten, wie das zu bewerkstelligen ist." Wie jedoch die Erfahrung lehre, könne das nicht von staatlicher Seite geschehen. "Wir können den Kampf von Millionen Menschen für eine bessere Welt am besten würdigen indem wir sagen: Wir lieben euch, wir respektieren euch für das, was ihr zu tun versucht!" Dann liege die Revolution nicht mehr in ferner Zukunft, sondern finde hier statt. "Wir wenden uns gegen die Logik des Systems, erfragen unseren Weg, schaffen unseren Weg, indem wir gehen, ohne einem vorgegebenen Modell zu folgen. Wir wandern durch stockfinstere Nacht, die von dem Licht der Hoffnung erhellt wird - und Rojava ist ein strahlendes Licht."


Bei der Eröffnungsrede - Foto: © 2017 by Schattenblick

Frank Adloff
Foto: © 2017 by Schattenblick


In der Nische die Welt von morgen?

Die kapitalistische Moderne zu diskutieren und nach Alternativen in Form einer demokratischen Moderne zu suchen, sollte Universitäten interessieren, unterstrich Frank Adloff, Professor für Soziologie am Fachbereich Sozialökonomie der Uni Hamburg, in seinem Grußwort. Der Akademische Senat habe dem Antrag des AStA "Nicht in unseren Namen - Wissenschaft für den Frieden in Kurdistan" zugestimmt. Der Aufruf richte sich gegen den Krieg der türkischen Regierung in den kurdischen Gebieten und spreche sich für eine Friedenslösung aus. Darüber hinaus kritisiere der Akademische Senat aufs schärfste die Einschränkung der Wissenschaftsfreiheit in der Türkei und fordere den Hamburger Senat und die Bundesregierung auf, auf ein sofortiges Kriegsende in der Türkei und die Sicherung von Wissenschaftsfreiheit hinzuwirken.

Der Austausch zwischen Wissenschaftlerinnen und Aktivistinnen, wie er auf dieser Konferenz stattfinde, sei unverzichtbar. Eine Gesellschaftveränderung bedürfe der Menschen, die etwas Neues in der Praxis ausprobieren, und ebenso einer theoretische Reflexion der Grundlagen des eigenen Handelns. Die Frage, was an die Stelle des krisengeschüttelten Kapitalismus treten könnte, werde weltweit intensiv diskutiert. Viele befürchteten nach dem Ende des sogenannten progressiven Neoliberalismus den Aufstieg neuer Faschismen und sprächen von einer weltweiten Regression. Der Kapitalismus habe in seiner Geschichte verschiedene Formen angenommen, als Manchesterkapitalismus, als sozial befriedeter Kapitalismus in den Nachkriegsjahrzehnten der westlichen Gesellschaften und nun vielleicht als autoritär-nationalistischer Kapitalismus in den USA, China, Rußland oder der Türkei. Geeint habe den Kapitalismus in all seinen Phasen eines, nämlich seine Reproduktion mittels Gütern, die nahezu kostenlos waren: koloniale und postkoloniale Ausbeutung, Ausbeutung der Frauen und Ausbeutung der Natur.

Demgegenüber bedeute Nachhaltigkeit, daß Bedürfnisse der Gegenwart nicht auf Kosten derjenigen befriedigt werden, die das künftig tun wollen. Eine postkapitalistische Gesellschaft müsse Entwicklungsmöglichkeiten offen halten, die man heute noch nicht antizipieren könne, doch bedürfe es andererseits auch der Reflexion konkreter Utopien. Es genüge nicht, die Eigentumsverhältnisse zu überwinden, da eine Idee vonnöten sei, was an deren Stelle treten soll. Adloff grenzte sich von marxistischen Traditionen ab, die den Kapitalismus analysiert und seinen Zusammenbruch prognostiziert, aber wenig bis gar nichts zu einer Welt nach dem Kapitalismus gesagt hätten. Wie er weiter behauptete, hätten sich die Strategien der Reform und der Revolution erschöpft. Er plädiere für ein Transformationsprogramm, das in den vorhandenen Räumen und Rissen des Kapitalismus emanzipatorische Alternativen aufbaue, um deren Ausweitung dann gekämpft werden müsse. Solche Projekte brauchten konkrete Experimente, wie sie in vielen zivilgesellschaftlichen Initiativen weltweit zu beobachten seien, wie auch positiv besetzte Leitbegriffe, die anzeigen, wofür man eintritt.

Er selbst sei in einem Netzwerk von Wissenschaftlerinnen, den Konvivialisten, involviert, die 2013 ein Manifest für eine grundlegende Transformation der kapitalistischen Gesellschaften verfaßt hätten. Darin werde eine positive Vision des Zusammenlebens entworfen: Demokratisierung, Abkehr vom Wachstumsparadigma, Konvivialität der Menschen untereinander und mit der Natur. Der Homo oeconomicus müsse von einem Menschenbild abgelöst werden, das der wechselseitigen Abhängigkeit Rechnung trage: Menschen setzen sich auch für andere ein. Die Arbeit an einem antiutilitaristischen Paradigma des Menschen sei für eine Transformationsstrategie genauso wichtig wie solidarische Projekte der Commonsbewegung. Ziel müsse eine Gesellschaft sein, die Menschen und Nichtmenschen in ihrem Geben anerkennt und dieses nicht ausbeutet: "Wir arbeiten hier und heute an der Gesellschaft von morgen und versuchen, ein gelingendes Zusammenleben in Nischen zu verwirklichen."


Bei der Eröffnungsrede - Foto: © 2017 by Schattenblick

Havin Guneser
Foto: © 2017 by Schattenblick


Nicht vor Ort, doch stets präsent

Daß im Laufe der Konferenz vielfach auf Abdullah Öcalan Bezug genommen wurde, liegt auf der Hand. Er ist der Mentor des Freiheitskampfs und hat dessen Ausrichtung und Theoriebildung maßgeblich angestoßen und geprägt. Wenn der Kovorsitzende des Hamburger Volksrats, Abuzer Bielenler, daran erinnerte, daß man zusammengekommen sei, um die Ideen des seit Jahren in Isolationshaft gefangengehaltenen Öcalan aufzugreifen und weiterzuentwickeln, sprach er damit offensichtlich dem Gros der Anwesenden ebenso aus dem Herzen wie mit seiner Hoffnung, Öcalan werde an der nächsten Konferenz persönlich teilnehmen können und internationale Anerkennung seiner Entwürfe erfahren.

Eine Vertreterin des Asrin Rechtsbüros, das zur juristischen Vertretung Öcalans gegründet worden war, bezeichnete seine gegen alle Werte verstoßende Isolation als illegal. Ein langer Hungerstreik vieler Menschen in der Diaspora habe 2016 einen Besuch seines Bruders auf der Gefängnisinsel ermöglicht, doch habe man seither keinen Kontakt mehr mit Öcalan gehabt. Er verkörpere eine hoffnungsvolle Lösung für das kurdische Volk und schlage ein Modell der demokratischen Moderne samt praktischen Schritten dazu vor. Das sei einer der Gründe für die über ihn verhängte Isolationshaft. In seinen fünfbändigen Verteidigungsschriften, für die ihm keinerlei Quellen zur Verfügung gestanden hätten, entwerfe er auf mehr als 10.000 Seiten ein Modell der kurdischen Frage. Wie er es ausdrücke, seien gesellschaftliche Kämpfe, die keine historischen Wurzeln haben, nicht erfolgreich. Daher müsse der kurdische Freiheitskampf so viele historische Erfahrungen wie möglich mit dem Ziel aufnehmen, die Entwicklung einer freien Menschheit voranzutreiben.

Die Ingenieurin, Journalistin und Frauenrechtsaktivistin Havin Guneser hat mehrere Bücher Abdullah Öcalans übersetzt und ist eine der Sprecherinnen der internationalen Initiative für seine Freilassung. Wie sie hervorhob, diene die außergewöhnliche staatliche Gewalt dem Zweck, uns daran zu hindern, das Beste aus dem gegenwärtigen historisch bedeutsamen Augenblick zu machen. Dies sei zugleich eine intellektuell produktive Zeit sowohl in Hinblick auf neue Methoden als auch die Konstruktion von Wahrheit, die man nur im Kampf erringen könne: "Wir stehen in der konkreten Verantwortung, dafür zu sorgen, daß sich unsere Ideale und Utopien der Freiheit und Gleichheit materialisieren, indem wie sie in unsere sozialen Kämpfe implementieren." Man müsse die wissenschaftliche Bedeutung des eingeschlagenen Weges erkennen und die Willensstärke aufbringen, Freiheit zu erlangen. Öcalan spreche von einer Zeit, in der die Wahrheitsliebe die einzige Garantie für ein freies Leben darstelle. Sei man nicht von Liebe für ein freies Leben erfüllt, die sowohl die Methode zur Erlangung der Wahrheit als auch deren Herrschaft sei, könne man weder das erforderliche Wissen erlangen, noch die ersehnte soziale Welt errichten.


Videoprojektion John Holloway über Dolmetscherkabinen - Foto: © 2017 by Schattenblick

Vielsprachige Simultanübersetzung für eine inklusive Konferenz
Foto: © 2017 by Schattenblick


Langfristiger Prozeß solidarischen Lernens

Die dritte Konferenz, die ein Bündnis kurdischer Organisationen unter dem Titel "Die kapitalistische Moderne herausfordern. Demokratische Moderne entfalten - Widerstand, Rebellion, Aufbau des Neuen" vom 14. bis 16. April organisiert hat, setzt einen 2010 begonnenen und seither wesentlich weiterentwickelten Diskussionsprozeß fort. Wie Havin Guneser berichtete, sei man damals von einigen allgemeinen und noch nicht konkretisierten Ideen ausgegangen, die Diskussion in der kurdischen Befreiungsbewegung zu führen und zu verbreiten. Zugleich habe man dem Bedarf entsprochen, Bewegungen, Aktivistinnen, Intellektuellen, Feministinnen und vielen anderen Menschen mit einer alternativen Theorie und Praxis eine Plattform zu verschaffen, um zusammenzukommen, den Dialog zu vertiefen und zu stärken, Ideen auszutauschen und Netzwerke aufzubauen. Dieser Prozeß werde in einer Periode der Transition in der Menschheitsgeschichte zunehmend wichtiger.

Als die erste Konferenz 2012 stattfand, habe man hervorgehoben, daß die kapitalistische Moderne eine strukturelle Veränderung durchläuft, deren Resultat nicht zwangsläufig progressiv ausfallen wird: "Unsere Kämpfe werden über das Ergebnis bestimmen und wir wollten dazu mit unseren Diskussionen auf den Konferenzen beitragen." Es handle sich um einen langfristigen Lern- und Bildungsprozeß, der sich 2015 fortgesetzt habe und nun weitergeführt werde. Die aktuelle Konferenz sei acht Monate in ausgiebigen Diskussionen mit Menschen aus vielen Ländern vorbereitet worden. So habe man insbesondere erörtert, auf welche Weise die Theorie und Philosophie, die auf der Konferenz diskutiert werden, dazu beitragen könnten, solidarisch zusammenzuarbeiten.

Diese Überlegungen hätten dazu geführt, die aktuelle Konferenz unter das Motto stellen, sich zu organisieren und Solidarität miteinander zu üben. Zum einen sei die Struktur der Sessions beibehalten worden, die Menschen unterschiedlicher Herkunft zu einer thematischen Abfolge zusammenbringen. Mittels Call for papers seien zudem Referentinnen und Referenten eingeladen worden, die man zuvor nicht gekannt habe. Um die Diskussionen der früheren Konferenzen nicht zu wiederholen, sondern zu vertiefen und weiterzuentwickeln, seien erstmals Arbeitsgruppen zu verschiedenen zentralen Themen vorgesehen, die sich zweimal jährlich treffen sollen. Und da bei den früheren Konferenzen zu wenig Raum für die Diskussion geblieben sei, habe man diesmal eine Phase mit Workshops eingeplant. Viele Menschen hätten im Network for an Alternative Quest auf verschiedenste Weise zum Gelingen dieser selbstorganisierten Konferenz beigetragen, die ohne dieses Engagement nicht möglich gewesen wäre. Heute sähen sich ganz Kurdistan und die Türkei massiver Repression ausgesetzt. Doch weder Öcalan noch das kurdische Volk seien Opfer, sie seien Freiheitskämpfer: "Sie suchen die Wahrheit und wagen es, die schlafende Realität zu erwecken."


Audimax hinter blühenden Bäumen - Foto: © 2017 by Schattenblick

Veranstaltungsort Audimax der Universität Hamburg
Foto: © 2017 by Schattenblick


Beiträge zur Konferenz "Die kapitalistische Moderne herausfordern III" im Schattenblick unter:
www.schattenblick.de → INFOPOOL → POLITIK → REPORT:

INTERVIEW/351: Gegenwartskapitalismus - fundamentale Gegenentwürfe ...    Yavuz Fersoglu im Gespräch (SB)


25. April 2017


Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang