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BERICHT/283: Initiativvorschläge - Aktion und Hilfe zuspitzen ... (SB)



Daß Fremdenfeindlichkeit und Willkommenskultur ein stimmungs-, medien- und nicht zuletzt politikinduzierter Wechselbalg sind, da über das Ausmaß des Teilens gestritten, doch der grundsätzliche Standortvorteil nicht in Frage gestellt wird, sollte kein Geheimnis sein. Für eine unabhängige und radikale Linke stellt sich die Frage solidarischen Umgangs mit vor erdrückenden Lebensverhältnissen geflohenen Menschen zwangsläufig weitreichender und tiefschürfender. Ein selbstbestimmter Widerstand von Geflüchteten konfrontiert die Unterstützerinnen und Aktivisten mit der Frage, wie es um die Substanz ihrer Theorie und Praxis, kurz um eine über Sozialarbeit und Instrumentalisierung hinausweisende Qualität ihrer eigenen Kämpfe und deren Verknüpfung mit jenen der Flüchtlinge bestellt ist.

Teils im Konzert mit anderen westlichen Industriestaaten, teils in Konkurrenz zu ihnen baut die Bundesrepublik ihre produktive Vormachtstellung in Europa durch die handelspolitisch gestützte Ausbeutung schwächerer Nationalstaaten und Weltregionen aus. Durch Waffenexporte ihrer Rüstungsschmieden befeuert sie Unterdrückung und Konflikte, mit der Bundeswehr greift sie in Kriege auf anderen Kontinenten ein. Mit ihren Konzepten vorgelagerter Flüchtlingsabwehr dominiert sie die strategische Abschottung Europas. Ihre Gesetze unterwerfen asylsuchende Menschen einem selektierenden und reglementierenden Regime. Der Kampf gegen die Ursachen von Flucht und Vertreibung beginnt folglich in Deutschland.

Wenngleich dies für linke Aktivistinnen der Flüchtlingssolidarität außer Frage steht, bedürfen die daraus zu ziehenden Konsequenzen doch einer ausgiebigen Diskussion und rückhaltlosen Auseinandersetzung mit der nicht von der Hand zu weisenden Ungleichheit der Lebensvoraussetzungen und Bedrohungsszenarien. Während auf seiten der Unterstützer ein befristetes Engagement und ein Rückzug zugunsten anderer Aktivitäten zumeist möglich ist, gilt das für die geflüchteten Menschen nicht, zumal im Falle einer exponierten Positionierung in den Auseinandersetzungen. Einschränkung der Bewegungsfreiheit durch Lager und Residenzpflicht, Arbeits- und Ausbildungsverbote, befristete Aufenthaltsrechte und drohende Abschiebung, dazu eine karge Bemittelung und Grundausstattung führen in ihrer Gesamtheit zu einer Existenz mit dem Rücken an der Wand. Eine Zusammenarbeit auf Augenhöhe und ein Schulterschluß in selbstbestimmten Kämpfen bleiben folglich Errungenschaften, die ihrerseits erst noch erstritten werden müssen.


Transparent 'Stoppt deutsche Rüstungsexporte' - Foto: © 2017 by Schattenblick

Auf der Kurden-Demo am 30. April 2017 im Wedding
Foto: © 2017 by Schattenblick

"Zwischen Holidarity, Hobby-Aktivismus und selbstbestimmtem Refugee-Widerstand"

Im Rahmen des Kongresses "Selber machen - Konzepte von Basisorganisierung, Gegenmacht und Autonomie", der vom 28. bis 30. April im Bethanien in Berlin-Kreuzberg stattfand, stand beim Workshop "Zwischen Holidarity, Hobby-Aktivismus und selbstbestimmtem Refugee-Widerstand" das Verhältnis zwischen Refugee-Aktivistinnen und Unterstützerinnen auf dem Prüfstand. Jennifer Kamau vom International Women's Space [1] forderte eine Abkehr von der Holidarity hin zu echter Solidarität. Turgay Ulu, langjähriger Flüchtlingsaktivist und einer der Organisatoren der Internetplattform oplatz.net [2], konnte im Aktivismus der europäischen Linken lediglich eine Art Hobbyaktivität erkennen. Die Aktivistinnen und Aktivisten von Project Shelter [3] in Frankfurt/Main brachten ihre Erfahrungen und die daraus gezogenen Schlußfolgerungen in die Diskussion ein.

Project Shelter - Starthilfe in ein neues Leben

Project Shelter wurde vor zweieinhalb Jahren als eine gemeinsame Initiative von Aktivistinnen und obdachlosen geflüchteten Menschen in Frankfurt/Main mit dem Ziel gegründet, ein selbstverwaltetes Zentrum zu schaffen. Dieses soll als erste Anlaufstelle und Orientierungshilfe für Migrantinnen und Geflüchtete dienen, indem Unterbringungs-, Informations- und Kulturangebote zusammengeführt werden. Auf diese Weise will das Projekt die Grundlage schaffen, um selbstbestimmt in ein neues Leben zu starten. Benötigt wird fortlaufend vor allem Unterstützung, um Zimmer in Wohngemeinschaften und andere Unterbringungsmöglichkeiten zu finanzieren, Mobilität in der Stadt zu gewährleisten und andere Bedarfe wie Lebensmittel, Handyguthaben oder Behördengänge ermöglichen zu können. Viele Flüchtlinge, die sich in Frankfurt obdachlos durchschlagen, haben zuvor in Italien, Spanien oder Griechenland gelebt. Sie dürfen sich normalerweise nur drei Monate in Deutschland aufhalten, bis sie wieder in die sogenannten Erstaufnahmeländer zurückkehren müssen. Wer einen festen Aufenthaltsort nachweisen kann, bekommt eventuell ein längeres Bleiberecht. Daher suchen die Initiatorinnen des Projekts Leute, die bereit sind, eine feste Meldeadresse für Flüchtlinge anzugeben. Wo diese vorliegt, könne die Ausländerbehörde eine Arbeitserlaubnis erteilen.

Wie die Aktivistinnen berichteten, hätten sie recht bald realisiert, daß die bloße Organisierung von Schlafplätzen und Jobs in einen Teufelskreis führt und statt dessen eine politische Lösung erforderlich sei. Deswegen wollen sei ein soziales Zentrum einrichten, wo sich die Leute organisieren können. Project Shelter sei eine heterogene Gruppe mit unterschiedlichen Herkünften und verschiedenen politischen Positionen. Gemeinsam versuche man, einen Prozeß in Gang zu setzen, der auf den Kampf für eine andere Gesellschaft abzielt. Wenngleich man vermittle, daß es sich um keine Hilfsorganisation handelt, suchten viele Geflüchtete nur einen Schlafplatz und blieben allen weiteren Zusammenkünften fern. Man mache jedoch keine Unterschiede nach Herkunft oder Status und schreibe niemandem vor, was er zu tun oder zu lassen hat.

Die Gruppe sei einmal im Zusammenhang mit einer ihrer Aktionen zu einem Treffen mit Vertretern politischer Parteien in Frankfurt eingeladen worden, um über ihre Anliegen und Probleme zu berichten. Dabei sei jedoch der Vorwurf erhoben worden, die Initiative helfe Flüchtlingen, die sich illegal in Deutschland aufhielten. In der Anfangsphase des Projekts habe man eine Petition an den Frankfurter Stadtrat verfaßt, die jedoch unbeantwortet geblieben sei. Es wurden Häuser besetzt, aber wieder geräumt, worauf es zu Gesprächen kam, die jedoch ergebnislos blieben. Daraufhin sei erneut ein Haus besetzt und darin ein Bistro eingerichtet worden, bei dem es sich aber noch nicht das soziale Zentrum handelt, das geschaffen werden soll. Die Forderung nach einem anderen Haus, in dem dieses Zentrum eingerichtet werden könnte, sei mit der Begründung abgewiesen worden, es gebe nichts Passendes. Daraufhin seien die Gespräche abgebrochen worden. Dessen ungeachtet sei es eine Errungenschaft des Projekts, geflohenen Menschen einen Schlafplatz zu verschaffen, ihnen Kontakte zu ermöglichen, Rückhalt zu geben und sie bei der Bewältigung anstehender Probleme zu unterstützen. Dabei arbeite Project Shelter immer wieder mit anderen Gruppen zusammen, und man unterstützte einander gegenseitig.

International Women's Space - Frauenzentrum selbstorganisiert

Jennifer Kamau hob den beständigen Bedarf hervor, einen besonderen Raum für Frauen zu schaffen. Das habe auch im Camp auf dem Oranienplatz gegolten, wo die Frauen keinen Platz gehabt hätten, an dem sie ihre Anliegen zur Sprache bringen konnten. In dem besetzten Haus [4], in dem auch die Schule eingerichtet wurde, habe sich erstmals die Gelegenheit geboten, einen solchen Raum zu schaffen. Geflüchtete Frauen hätten ganz spezifische Probleme und bräuchten einen sicheren Ort, um untereinander darüber zu sprechen und Handlungsfähigkeit zu entwickeln. Die unvermeidliche Diskussion darüber, ob die Oranienplatzbewegung durch dieses Vorhaben gespalten werde, wiederhole die ewig gleiche Rhetorik, die immer dann ins Feld geführt werde, wenn Frauen anfangen, sich zu organisieren. Die Frauen seien aus verschiedenen Ländern gekommen, hätten zuvor in unterschiedlichen Lagern gelebt und wollten in Berlin ein gemeinsames Zentrum einrichten, in dem sie regelmäßig zusammenkommen konnten. Die Information habe schnell die Runde gemacht, daß es diesen sicheren Ort gab, an dem man nicht nur Deutschunterricht nehmen, sondern auch zusammentreffen und eventuell übernachten könne.

Zu Beginn seien viele Unterstützerinnen präsent gewesen, was angesichts der wachsenden Gruppe und der vielfältigen Probleme auch gut gewesen sei. Daraus resultierte ein Dialog, eine selbstorganisierte Gruppe zu bilden, die allerdings nicht unbedingt dem Klischee der Unterstützer entsprach. Es sei schwierig gewesen, ihnen klarzumachen, daß eine politische Lösung erforderlich ist: Wenn ihr aufgrund eures Schuldgefühls zu uns kommt, habt ihr nur eure eigene Therapie im Sinn! Auch seien diverse akademische Unterstützer gekommen, die den Frauen eine Menge Zeit gestohlen hätten, indem sie ihr Konzept darlegten, was nach ihrer Auffassung zu tun sei. Für die Frauen sei es jedoch um einen Prozeß des Verlernens patriarchaler Strukturen gegangen, was allerdings nicht für alle gegolten habe, so daß das Chaos perfekt gewesen sei. Die Frauen hätten jedoch einen Ausweg gefunden, denn schließlich seien sie immer noch da, unterstrich Jennifer.

Sie selbst habe sich schon in Kenia auf ihre eigene Weise politisch engagiert und entsprechend ihrem damaligen Verständnis gegen das Patriarchat und für ihre Befreiung gekämpft. In Deutschland angekommen, habe sie zunächst gedacht, sie hätte das Patriarchat hinter sich gelassen und könne endlich ein uneingeschränktes Leben führen. Als sie jedoch mit dem hier herrschenden Rassismus konfrontiert worden sei, habe sie nur zwei Möglichkeiten gesehen: Entweder nach Kenia zurückzukehren, um dort gegen das Patriarchat zu kämpfen, oder hier gegen den Rassismus zu kämpfen und dies ohne Sprachkenntnisse, unter der Residenzpflicht und mit beschränkten Ressourcen.

Sich zu politisieren sei ein langer Lernprozeß, und sie könne sich in Deutschland nur auf politische Weise behaupten, weil sie durch das System unterdrückt werde. Für die Frauen unter den Refugees gehe es darum, sich gemeinsam darüber Klarheit zu verschaffen, wie dieses System funktioniert und wie sie seine Strukturen nicht als Opfer erleben, sondern offensiv konfrontieren können. Wer sie unterstützen wolle, müsse begreifen, daß sie gegen das System kämpfe - auf ihre kleine, aber gut organisierte Weise. Das bedeute zugleich für die Unterstützer, ihrerseits etwas gegen diese Strukturen zu unternehmen: So sollte Unterstützung ihres Erachtens aussehen. Erst wenn es der deutschen Linken gelinge, sich selber zu positionieren, könne man gemeinsam voranschreiten.

Flüchtlingsmarsch "Breaking the Isolation"

Turgay Ulu zufolge existierten in verschiedenen deutsche Städten kleine Gruppen lokalen Widerstands geflohener Menschen. Als sich Mohammad Rahsepar [5] in einem Lager in Würzburg das Leben nahm, sei dies der Auslöser für den Marsch der Flüchtlinge [6] nach Berlin gewesen. Per Email habe man Kontakt mit den verschiedenen Gruppen hergestellt. In Erfurt wurde dann eine Woche lang ein Camp organisiert, und dort entschied sich die Gruppe für den Namen "Breaking the Isolation". In Diskussionen darüber, was zu tun sei, habe sich die Erkenntnis herauskristallisiert, daß man kein Gehör finden würde, wenn man am Ort bliebe. Hingegen würde ein Marsch in die Hauptstadt größere Aufmerksamkeit erregen, so daß die Forderungen einer breiteren Öffentlichkeit bekanntgemacht werden könnten. Es wurde ein mehrsprachiges Team gebildet, worauf man versuchte, möglichst viele Flüchtlinge in den Lagern zu erreichen. Zu Beginn seien es nur elf Personen gewesen, die sich auf den Weg machten und in allen größeren Städten Pressekonferenzen abhielten. Unterwegs seien immer mehr Flüchtlinge dazugekommen, worauf die Hoffnung, mit mindestens hundert Leuten in Berlin anzukommen, noch deutlich übertroffen worden sei.

Die Flüchtlinge hätten von Anfang an Wert darauf gelegt, sich selbständig zu organisieren. Deutsche Unterstützerinnen leisteten theoretische und praktische Hilfe beispielsweise bei der Versorgung, wobei es durchaus zu Problemen gekommen sei. Beispielsweise hätten einige Gruppen den Aufruf kritisiert und sich zurückgezogen. Zudem seien sich Antideutsche und Antifa-Gruppen gegenseitig in die Haare geraten und hätten verlangt, daß die Flüchtlinge Partei für die eine oder andere Seite ergreifen sollten. Die Flüchtlinge erklärten jedoch, daß sie Widerstand gegen kolonialen Faschismus leisteten und für Flüchtlingsrechte kämpften, in diesen ideologischen Kontroversen aber nicht bewandert seien, da sie nicht der deutschen Kultur angehörten. Deshalb wollten sie sich nicht an diesen Diskussionen beteiligen. Wer sie weiterhin unterstützen wolle, sei willkommen.

Turgay hob hervor, daß die Gewalt in der Türkei deutlich sichtbar und der Widerstand dagegen stärker als der in Deutschland sei. Auch hier gebe es Gewalt, die allerdings mit etwas anderen Mitteln ausgeübt werde. In Deutschland hätten die Menschen mehr zu verlieren und Angst davor, daß das passieren könnte. Deswegen sei ihr Widerstand gegen das System nur schwach ausgeprägt. Der deutsche Imperialismus beute die Welt aus, teile aber die Beute in gewissem Umfang mit der hiesigen Bevölkerung, um sie ruhig zu halten. Die Flüchtlinge hingegen hätten wenig zu verlieren. Spreche man ernsthaft mit ihnen, fänden sie relativ schnell Zugang zu einer revolutionären Politik.

Wenngleich es in Deutschland durchaus Menschen gebe, die Flüchtlinge unterstützen, seien doch die meisten von ihnen der Auffassung, daß es dabei nur um Probleme der anderen gehe. Sie erkennen nicht, woher die Probleme der Menschen rühren, die geflüchtet sind, und daß der Kampf gegen die Ursachen hier zu führen ist. Es reiche nicht, Flüchtlinge am Bahnhof willkommen zu heißen und ihnen fürs erste zu helfen, wenn dieselben Menschen drei Monate später wieder abgeschoben werden. Es gelte, die imperialistische Politik mit all ihren Gesetzen, Geschäften und Kriegen zu bekämpfen. Die Menschen in Deutschland seien mitverantwortlich für diese Kriege, weil sie ihre Stimme nicht dagegen erheben und dieser Politik nicht entgegentreten. Auf die Dauer würden auch sie verlieren, wie man das bereits in den südeuropäischen Ländern sehen könne. Die Bedrohung sei letzten Endes überall dieselbe.


Rückenplakat 'Push back Frontex' - Foto: © 2017 by Schattenblick

Auf der Organize-Demo am 30. April 2017 im Wedding
Foto: © 2017 by Schattenblick

Verhältnis zwischen Refugees und Unterstützern auf dem Prüfstand

Wie die Aktivistinnen von Project Shelter berichteten, besprechen sie vor riskanten Aktionen wie insbesondere Hausbesetzungen, an denen auch Leute ohne gültige Papiere teilnehmen, welche Gefahren damit verbunden seien. Jeder müsse entscheiden können, welches Risiko er einzugehen bereit ist. Zudem sorge man dafür, daß stärker gefährdete Leute von anderen geschützt werden, indem man sich beispielsweise zwischen sie und die Polizei stelle. Deutschen Staatsbürgerinnen hänge man unter Umständen ein Verfahren an, doch darüber hinaus hätten sie im Gegensatz zu den Flüchtlingen nichts zu befürchten. Auf diese Weise könne man die eigenen Privilegien einsetzen und in gewissem Umfang teilen.

Jennifer spitzte die Diskussion auf die Frage zu, was deutsche Unterstützer in politischer Hinsicht für Menschen ohne Aufenthaltsrecht unternehmen, die beispielsweise vor Gericht stehen. Wenn Aktivistinnen ihre Unterstützung an- und abschalten könnten, dann nur deswegen, weil sie selber nicht von Verfolgung und Abschiebung bedroht sind. Diese Privilegien seien seit den Zeiten des Kolonialismus geschaffen worden, und diese Sicherheit habe die Blase erzeugt, aus der die Privilegierten nicht ausbrechen wollten: Es geht um Ausbeutung, Blutvergießen, Töten. Solange ihr euch damit nicht konfrontiert und eure Blase nicht verlaßt, können wir nicht an einem Tisch sitzen und über meine Freiheit reden. Wie sollen wir euch vertrauen? Die Flüchtlingsbewegung werde zur Ware, und Solidarität sei ihre Währung. Solange man nicht anfange, sehr ernste Gespräche zu führen, werde man zusammen nirgendwohin gelangen. Über Veränderung lasse sich viel phantasieren, doch Veränderung bedeute, sich zu konfrontieren und Konsequenzen zu ziehen: Das ist Veränderung, wie ich sie mir vorstelle, so Jennifer.

Turgay bestätigte seinerseits, daß sich dasselbe Kernproblem bei jeder Protestaktion stelle: Die Flüchtlinge haben nicht denselben Status wie deutsche Staatsbürger, die sie unterstützen. Deshalb sollten die Flüchtlinge untereinander beraten, was sie tun wollen, da sie die Konsequenzen zu spüren bekämen. Beispielsweise könnten sie beschließen, bei einem Protestmarsch eher im Hintergrund zu bleiben. Seiner Erfahrung nach steigen die Strafen, wenn viele Leute den Protest unterstützen. Kommen allerdings sehr viele Menschen zusammen wie etwa bei der Parlamentsbesetzung mit etwa 400 Leuten, könnten nicht mehr so leicht Strafen wegen Verletzung der Residenzpflicht gegen einige wenige Personen verhängt werden. Deshalb sei die Anzahl der Beteiligten wichtig, weil eine hohe Zahl einen gewissen Schutz verleihe.

In Deutschland hätten die Menschen einen hohen Bildungsstand und beherrschten oftmals mehrere Sprachen. Einige seien sogar bereit, Flüchtlinge zu unterstützen und Aktionen durchzuführen. Sie hätten jedoch keine Ahnung, wie sich Menschen in anderen Ländern organisieren, wie sie Widerstand leisten, wie sie mobilisieren. Die deutschen Kampagnen bewegten sich im Rahmen gesetzlicher Möglichkeiten und stünden daher unter staatlicher Kontrolle: Wir gehen davon aus, daß der Kapitalismus das Problem ist und überwunden werden muß. Die deutsche Opposition sucht hingegen Lösungen innerhalb des Systems. Sie müsse daher ihr Paradigma ändern und Lösungen außerhalb dieses Systems anstreben. Auch in dieser Hinsicht könne die Bewegung in Deutschland seines Erachtens viel von der anderer Länder lernen.

Er selbst sei in Griechenland drei Monate lang in einem Lager interniert worden. Die Flüchtlinge hätten sich jedoch nicht spalten lassen und einen Hungerstreik organisiert. Daraufhin habe man sie auf andere Städte verteilt, wo sie trotz dieser Trennung den Hungerstreik fortgesetzt und mit anderen Gruppen in Athen und Thessaloniki zusammengearbeitet hätten: Sie konnten uns nicht aufhalten und mußten uns schließlich gehen lassen. Als er nach Osnabrück gekommen und dort gemeinsam mit anderen in den Hungerstreik getreten sei, habe sich der Vorgang wiederholt: Sie schickten uns in andere Städte, wo wir fortfuhren, Flüchtlinge zu mobilisieren. Hast du dich entschlossen, auf diese Weise Widerstand zu leisten, spielt es keine Rolle mehr, wohin sie dich bringen. Du machst dort weiter und politisierst andere Menschen. Wichtig ist, ein klare Position zu beziehen!


Fußnoten:

[1] https://iwspace.wordpress.com

[2] http://www.oplatz.net

[3] https://de-de.facebook.com/Project.Shelter.FFM

[4] Im Dezember 2012 besetzten Flüchtlinge vom Oranienplatz in Kreuzberg die nahegelegene frühere Gerhart-Hauptmann-Schule. Im Juli 2014 bot der Bezirk einen Umzug in Flüchtlingsheime an und sicherte die Räumung mit einem großen Polizeiaufgebot. Etwa 40 Flüchtlinge verweigerten jedoch den Auszug und harrten neun Tage auf dem Dach des Gebäudes aus, um das selbstorganisierte Flüchtlingszentrum zu verteidigen. Daraufhin lenkte der Bezirk ein und schloß ein Abkommen mit ihnen.

[5] Der 29jährige Iraner Mohammad Rahsepar nahm sich in der Nacht zum 29. Januar 2012 in der Würzburger Gemeinschaftsunterkunft für Asylbewerber das Leben. Der Suizid war Auslöser für deutschlandweite Flüchtlingsproteste, die in Würzburg mit einer Demonstration begannen.

[6] Der Protestmarsch begann am 8. September 2012 in Würzburg und führte über 600 Kilometer nach Berlin, wo die Flüchtlinge am 5. Oktober ankamen. Sie protestieren damit gegen Einschränkungen wie die Residenzpflicht, Arbeitsverbote, das Asylbewerberleistungsgesetz und die Unterbringung in Wohnheimen.


Beiträge zum Kongreß "Selber machen - Konzepte von Basisorganisierung, Gegenmacht und Autonomie" im Schattenblick unter:
www.schattenblick.de → INFOPOOL → POLITIK → REPORT:

BERICHT/268: Initiativvorschläge - koordinierte Effizienz ... (SB)
BERICHT/271: Initiativvorschläge - Selbsthilfe revolutionär ... (SB)
BERICHT/272: Initiativvorschläge - ein Standpunkt in Bewegung ... (1) (SB)
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21. Juli 2017


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