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BERICHT/296: Rückblick RAF - antihistorisch lebendig ... (2) (SB)


Vergangenes historisch artikulieren heißt nicht, es erkennen wie es denn eigentlich gewesen ist. Es heißt, sich einer Erinnerung bemächtigen, wie sie im Augenblick einer Gefahr aufblitzt. Dem historischen Materialismus geht es darum, ein Bild der Vergangenheit festzuhalten, wie es sich im Augenblick der Gefahr dem historischen Subjekt unversehens einstellt. Die Gefahr droht sowohl dem Bestand der Tradition wie ihren Empfängern. Für beide ist sie ein und dieselbe: sich zum Werkzeug der herrschenden Klasse herzugeben. In jeder Epoche muß versucht werden, die Überlieferung von neuem dem Konformismus abzugewinnen, der im Begriff steht, sie zu überwältigen.
Walter Benjamin - Über den Begriff der Geschichte (1940) [1]


"Der rote Schatten" - drei Tage vor dem 18. Oktober, an dem sich der Tod der RAF-Gefangenen in der JVA Stuttgart Stammheim zum 40. Mal jährt, strahlte die ARD [2] einen Tatort der besonderen Art aus. Die vom bloßen Unterhaltungsformat längst zum Diskursfenster der Republik geratene TV-Serie erlaubte sich, die Ereignisse dieser Nacht in den Spiegel ihrer Widersprüchlichkeit zu stellen. Ein Mordfall bringt die Ermittler der Polizei auf die Spur eines Informanten des Staatsschutzes, der offensichtlich in der Konfrontation mit der RAF eine wichtige Rolle gespielt hat und dementsprechend bis heute, so auch gegen die Untersuchung des Mordfalles, abgeschirmt wird. Entbehrlich geworden, nachdem seine Zielperson bei einem Überfall auf einen Geldtransporter ums Leben kommt, wird er ebenfalls umgebracht, doch die beiden Polizisten können nicht beweisen, daß es sich um eine Tat staatlicher Behörden handelt.

Eingebettet wird die Handlung in Rückblenden zur Todesnacht von Stammheim, bei der sich im modernen Docufiction-Stil Spielzenen mit authentischen Aufnahmen abwechseln. So wird auf betont inszenierte Weise ein Zeitbezug hergestellt, der vier Jahrzehnte mühelos überbrückt, weil sich an der Virulenz der damaligen Konfrontation weit weniger geändert hat, als das Konsensmanagement der repräsentativen Demokratie glauben macht. Allein weil die Möglichkeit, daß die RAF-Gefangenen keinen Suizid begingen, sondern umgebracht wurden, offengelassen wird, hat "Der rote Schatten" für Furore in den Feuilletons gesorgt. Indem Regisseur Dominik Graf die stets als Verschwörungstheorie von RAF-Sympathisanten gebrandmarkte These eines als Suizid getarnten Mordes zu bester sonntäglicher Sendezeit in den Rang einer zumindest nicht vollständig auszuschließenden Version der damaligen Ereignisse hob, initiierte er eine Debatte, die allerdings

über den kurzen Brand eines Strohfeuers nicht hinauskam. Zuviel scheint selbst heute noch auf dem Spiel zu stehen, wenn an den Wahrheiten dieser Epoche, die die politischen Weichenstellungen in der Linken auf Jahre hinaus beeinflußte, gerüttelt wird.

Dabei legt es Graf keineswegs darauf an, der Mordversion mehr Gültigkeit als der Suizidthese zu verschaffen. Der höchst erfolgreiche Film- und Fernsehregisseur stellt lediglich beide möglichen Verläufe gegeneinander, um angesichts der vorhandenen Widersprüche produktivem Zweifel Raum zu geben. Obwohl weit entfernt davon, die RAF-Akteure zu glorifizieren oder einfach nur gut aussehen zu lassen, rief er empörte Reaktionen auf den Plan, die nicht lange auf sich warten ließen. Für Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat Graf "die Märtyrerlegende vom Justizmord an den Häftlingen" [3] noch einmal neu aufleben lassen. Stefan Aust, dem mit seinem sogenannten Standardwerk "Der Baader-Meinhof-Komplex" von vielen Seiten Deutungshoheit über die Geschichte der RAF zugesprochen wird, lastet ihm an, mit diesem Tatort "gefährlichen Unsinn" produziert und die Schwelle zur "RAF-Propaganda" [4] überschritten zu haben. Gerhart Baum schließlich, Bundesinnenminister von 1978 bis 1982, wirft Graf kommerziell motivierte Effekthascherei vor, "verschlimmert noch durch die unerträgliche Vermischung von Realität und Fiktion. So etwa ist Teil des Filmes die von Anfang an unsinnige Verschwörungstheorie, der Staat habe die Gefangenen umgebracht" [5].

Dem Urteil des 85jährigen FDP-Politikers, die deutsche Geschichte sei kein "Tatort", ist allerdings hinsichtlich der eigentlichen Bedeutung des Begriffs zu widersprechen. Der ganzen Wucht der sie treibenden Sozialkämpfe wurde an historischen Tatorten mit ihrer strategischen Enthauptung entgegengetreten, so bei der Ermordung führender Revolutionäre wie Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht, bei der Rettung Deutschlands vor dem Kommunismus durch Reichswehr, Freikorps und NS-Schlägertrupps, denen in der Weimarer Republik in weit größerem Maße KPD-Mitglieder zum Opfer fielen als umgekehrt, wie durch die repressive Gewalt des ideologischen Antikommunismus in der BRD lange vor der Gründung der RAF. Das widerständige Moment aus der offiziellen Historie, die als eine der Sieger zu bezeichnen eine den herrschenden Gewaltverhältnissen adäquate Position markiert und aus nämlichem Grund als ideologische Volte der ewig Zukurzgekommenen diffamiert wird, herauszukürzen und den politischen Gegner zu kriminalisieren kann geradezu als Konstante geschichtspolitischer Verarbeitung bezeichnet werden.

Zugleich bricht das doktrinäre Pochen auf die Unumstößlichkeit herrschender Sichtweisen an den Ungereimtheiten jüngerer Zeit. Die staatliche Verstrickung in die NSU-Morde, die Vertuschungen im Fall des Berliner Attentäters Anis Amri, das lange dementierte rechtsradikale Tatmotiv des Münchner Attentäters David S. oder die Unterwanderung der NPD und NS-Kameradschaften durch Verfassungsschutzagenten tauchen den Rechtsextremismus in das fahle Licht einer opportunistischen Instrumentalisierung, die zumindest vom Ende der fortschreitenden sicherheitsstaatlichen Aufrüstung und Aushöhlung verbliebener Bürgerrechte her plausibel erscheint. Das V-Leute-Unwesen hat denn auch die zu seiner Legitimation gezogene Trennwand, die zwischen bloßer Informationsbeschaffung und politischer Einflußnahme bis zu aktiver Einmischung in Straftaten existiere, wirksam perforiert. Dazu beigetragen haben auch Polizeispitzel in den Reihen linksradikaler Gruppen, denen weder die Anstachelung zu Gewalttaten noch Liebesbeziehungen zu AktivistInnen fremd waren.

Dieses trübe Gewässer hat Dominik Graf zum Gegenstand seiner Tatort-Inszenierung gemacht. Propaganda liegt ihm im Sinne einer Mission mit dem Ziel, andere Menschen von einer neuen Wahrheit zu überzeugen, schon deshalb fern, weil er keine definitive Aussage zum Verlauf der Ereignisse in jener Nacht trifft. Im Interview mit dpa erklärte er, was ihn dazu veranlaßte, einmal nicht dem Kanon verbriefter Geschichtsschreibung zu folgen und dabei zu riskieren, den an ihr geübten Zweifeln zu neuer Geltung zu verhelfen:

Das Thema RAF wird niemals un-aktuell, weil es eben letztlich ungeklärt ist. Es geht um die konkrete Schuld der staatlichen Organe einerseits, und es geht darum, eine neue Mentalitätsgeschichte dieser Revolte zu erforschen, die dann mal bitte nicht von den Regierenden und ihren Vasallen geschrieben wird. [5]

Wie dies erfolgt, schilderte der ehemalige RAF-Gefangene Ron Augustin in einem 2016 an der Uni Amsterdam gehaltenen Vortrag. Seiner Ansicht nach speisen sich die in zahlreichen Büchern und Filmen kolportierten Geschichten über die RAF aus wenigen Quellen, namentlich den Autoren Stefan Aust, Wolfgang Kraushaar und Gerd Koenen. Diese auch in anderen Bereichen linker Geschichte deutungsmächtigen Publizisten prägen ein Narrativ, das in den meisten anderen Veröffentlichungen, nur durch Nuancen verschoben, immer wieder auftaucht und jene apologetische Wand erzeugt, deren bloßes Ankratzen durch Dominik Graf bereits heftige Reaktionen seitens ihrer Sachwalter hervorgerufen hat.

Diese Wahrheit in Frage zu stellen wäre der erste Schritt in Richtung auf eine differenziertere, den sozialen und gesellschaftlichen Umständen der 1960er und 1970er Jahre gerecht werdende Debatte um die Geschichte der RAF, die auch seitens ihrer ehemaligen Angehörigen noch nicht geschrieben wurde, wie Augustin erklärt. Dies ist in einer Situation, in der nach wie vor Ermittlungsdruck herrscht und es, wie zuletzt vor zehn Jahren, zur Beantragung von Erzwingungshaft durch die Bundesanwaltschaft kommen kann, kaum zu erwarten. Die politische Relevanz der damaligen Entwicklung für die heutige Zeit allerdings kann anhand der von Augustin geltend gemachten objektiven Dynamik, "die in einem dialektischen Verhältnis zu den Umwälzungsprozessen innerhalb des kapitalistischen Systems in der Zeit gesehen werden muss, einer Dynamik, aus der bewaffnete Gruppen in praktisch allen kapitalistischen Zentren entstanden sind, und in der diese Gruppen und die sie bekämpfenden Staatsapparate sich jeweils in spezifischen Entwicklungen zu einander verhalten haben" [7], durchaus bestimmt werden.

Das ist für die Freiheit des eigenen Denkens wie den gesellschaftlichen Fortschritt sicherlich interessanter als in eine Welt der Verschwörungen einzutauchen, an der die staatsapologetischen RAF-Chronisten ebenso stricken wie die Verfechter von Deutungen, laut denen es keine antagonistische Bewegung geben kann, weil sie stets korrumpiert ist, bevor sie überhaupt zur Entfaltung gelangt. Im eisernen Gehäuse systemtheoretischer Zirkelschlüsse haben die Mittel der Produktion und des Krieges das Ziel der Befreiung überholt, während noch darüber nachgedacht wird, wo denn der Ausgang aus dem Zwang totaler Determination zu finden ist. Der Wiederkehr des sattsam Bekannten ist nicht zu entkommen, wenn der Mut, die jeweilige Utopie sofort in Angriff zu nehmen, schon am Kalkül des Scheiterns und Gelingens bricht. "Fragend schreiten wir voran" - das Motto zapatistischer Autonomiebestrebungen mag die intellektuell hochambitionierte Linke des kapitalistischen Zentrums nicht zufriedenstellen, ist aber von einer emanzipatorischen Konsequenz, die es ersteinmal auszuloten gilt.

(wird fortgesetzt)


Fußnoten:

[1] http://www.textlog.de/benjamin-begriff-geschichte.html

[2] https://www.daserste.de/unterhaltung/krimi/tatort/sendung/der-rote-schatten-100.html

[3] http://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Frank-Walter-Steinmeier/Reden/2017/10/171018-Hanns-Martin-Schleyer.html

[4] http://www.tagesspiegel.de/medien/tatort-der-rote-schatten-propaganda-fuer-die-raf/20461192.html

[5] http://www.spiegel.de/kultur/tv/tatort-ueber-die-raf-die-deutsche-geschichte-ist-kein-tatort-a-1173270.html

[6] http://www.wn.de/Welt/Kultur/Fernsehen/3020382-Interview-Tatort-Regisseur-Dominik-Graf-ueber-die-RAF-Zeit

[7] http://political-prisoners.net/item/4386-geschichtsschreibung-und-bewaffneter-kampf-die-raf-als-ikone.html

28. November 2017


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