Schattenblick → INFOPOOL → POLITIK → REPORT


BERICHT/297: Rückblick RAF - antihistorisch lebendig ... (3) (SB)


Vor allem aber in der kapitalistischen Innenpolitik diente und dient der Formalismus der generellen Rechtsgleichheit dazu, lange vor der Erfindung der sozialen Marktwirtschaft und immer noch neben ihr, den Staat als Geschäftsführung der herrschenden Minorität zu verschleiern. So sehr der formale Rechtstaat noch in großem Valeurunterschied vor dem ausgebrochenen, dem diktatorisch-faschistischen Unrechtsstaat vorleuchtet, immerhin mit kodifiziertem Zustand, so deutlich ist er als formaler nur in mehr oder minder krisenfreier Zeit spätbürgerlich durchhaltbar. Bei jedem Schatten im kapitalistischen Flor, wenn innere Spannung auftritt, gar an den Rändern dieses Flors, wo er sich durch Kriegsproduktion zu stärken hat und durch ständige Kriegsdrohung auszeichnet, gibt sich der formale Rechtsstaat in seiner anderen Natur, in seiner zum Faschismus allemal möglichen. (...) Denn wie kein anderer ist der Begriff Rechtsstaat dazu tauglich, dem interessierten Formalismus auch noch den Anschein einer besonderen Objektivität zu verleihen, den der Unparteiischkeit und ihrer Gerechtigkeit. Die Verdinglichung, der jedes kapitalistische Gebilde unterliegt, brauchte im formal-generellen Staatsbegriff nur bis zur Hypostase gesteigert zu werden, um gerade einen Idealstaat per situm vorzutäuschen, nämlich 'über den Parteien'.
Ernst Bloch: Naturrecht und menschliche Würde [1]


Jörg Schleyer will Silke Maier-Witt die Beteiligung an der Ermordung seines Vaters Hanns Martin Schleyer nicht vergeben. Für die Lossprechung von Sünden sei er der falsche Ansprechpartner, erklärte er gegenüber der Bild-Zeitung nach einem langen Gespräch mit dem ehemaligen RAF-Mitglied. Ihr bleibt mithin die Absolution versagt. Was nach Maßgabe einer christlich konstituierten Moral ihrem Seelenfrieden wie der Befriedung der Gesellschaft gedient hätte, scheint in der politischen Dimension der Auseinandersetzung zwischen Bundesrepublik und RAF weiterhin der Unvereinbarkeit von kapitalistischer Klassengesellschaft und sozialer Revolution zu unterliegen. Was hätte Schleyer zu verlieren, wenn er Maier-Witts Wunsch nach Vergebung entspräche? Offenkundig gibt es auch seitens der vermeintlichen Sieger der Geschichte Gründe, keinen Schuldenschnitt zu vollziehen, sondern deren Einforderung beizubehalten.

Dies entspricht der herrschenden gesellschaftlichen Praxis, das Kommando über die Arbeit durch die Verfügungsgewalt über die Kreditierung des Lebens zu zementieren. Nicht erst in der Notwendigkeit, Kraft und Zeit des eigenen Lebens als Ware Arbeit zu Markte zu tragen, kommt diese Verschuldung zum Ausdruck. Sie wird schon manifest in einer Staatsschuld, die jedem vergesellschafteten Menschen bei Geburt eingeschrieben ist, so daß es um so leichter fällt, die klassengesellschaftlichen Verhältnisse der privatwirtschaftlichen Eigentumsordnung auf die Bringschuld der Marktsubjekte zu reduzieren. In der imperialistischen Praxis gegenüber ärmeren, weniger produktiven Bevölkerungen global entfaltet werden davon vermeintlich oder tatsächlich profitierende Bürger dementsprechend wirksam in eine Legitimationsstrategie eingebunden, die von materialistischen Gewaltverhältnissen nichts wissen will. Doch wer lebt, hat an diesen widersprüchlichen Verhältnissen teil, so sehr sie auch von der bürgerlichen Moral wohlanständigen Erwerbes unterschlagen werden.

Der an die noch lebenden ehemaligen RAF-Mitglieder gestellten Forderung nachzukommen, endlich die Namen der Täter zu nennen, um sozusagen reinen Tisch zu machen, entspräche der nachträglichen Aufkündigung des kollektiven Kampfes zugunsten seiner Individualisierung und Kriminalisierung. Es käme dem Eingeständnis gleich, nicht nur die revolutionäre Praxis der RAF sei falsch gewesen, sondern auch deren Begründung, gegen die global ausgespannte Unterwerfung des Menschen unter das Kapitalverhältnis vorzugehen. Dabei hat sich daran nicht nur nichts geändert, sie hat für viele Betroffene in den Ländern des Südens eine vollends inakzeptable und unerträgliche Qualität angenommen.

So sehr dieser Kampf hierzulande gescheitert ist, so kann das Urteil über seine Geschichte nicht allein denjenigen Chronisten überlassen bleiben, die das gesellschaftliche Schuldverhältnis zementieren, indem sie diesem Kampf jegliche politische Relevanz absprechen und damit die Frage nach der Befreiung von Ausbeutung und Unterdrückung negieren. Erst die vollständige Kapitulation machte den Weg frei für eine Absolution, die nicht nur über die Vergangenheit, sondern auch die Zukunft revolutionären Denkens und Handelns den finalen Schuldspruch verhängte. Die damit verbundenen Einschränkungen nicht nur der gesamtgesellschaftlichen, sondern auch ganz persönlichen Entwicklung zu freiem Denken und selbstbestimmten Handeln gehen weit über die an dieser Stelle diskutierte Phase in der Geschichte der bundesrepublikanischen Linken hinaus.

So werden Sprachregelungen hegemonial, laut denen der Mensch das Potential sozialer und gesellschaftlicher Emanzipation nur zum Preis gefährlicher Fehlentwicklungen erschließen könne. Über die notdürftige Reproduktion des verwertungsfähig gemachten Lebens hinaus sollen keine Lebens- und Gesellschaftsentwürfe mehr in Anspruch genommen werden, die die etablierte Verfügungsgewalt und Eigentumsordnung in Frage stellen könnten. Der Rückfall in nationalistische, rassistische und patriarchale Stereotypien entspricht dem Vormarsch einer Rechten, die der Naturalisierung klassengesellschaftlicher Widersprüche, der Biologisierung der sozialen Reproduktion und der Verabsolutierung sozialdarwinistischer Überlebenskonkurrenz Vorschub leistet.

So wird auch der ebenfalls in diesem Herbst begangene hundertste Jahrestag der Oktoberrevolution geschichtspolitisch als Bestätigung herrschender Verhältnisse bearbeitet. In Bausch und Bogen wird verworfen, was zumindest als historischer Moment des Aufbrechens jahrhundertealter Ketten Entwicklungen der Emanzipation in Gang setzte, deren Scheitern produktiv zu analysieren weit mehr Nutzen für die gesellschaftliche Zukunft hätte, anstatt es als weiteren Beweis für die Alternativlosigkeit des Kapitalismus zu verwerten. Die sozialen Widersprüche der russischen Gesellschaft nehmen an Schärfe zu und produzieren einen Rollback, der etwa, um nur ein Beispiel für die Wiederkehr des vermeintlich Überwundenen zu nennen, in der wieder anwachsenden Unterordnung der Frau unter den Mann, ihrer sexistischen und patriarchalen Zurichtung, manifest wird.

Revolutionäre Geschichte aneignen und verteidigen

Am 22. Oktober 2017 trafen sich im Hamburger Centro sociale einige Dutzend Menschen, um zu fragen, welche Bedeutung die Ereignisse vor 40 Jahren, namentlich die in den Gefängnissen Stuttgart-Stammheim und München-Stadelheim tot aufgefundenen Gefangenen aus der RAF, für die heutige radikale Linke haben kann. Zwei ehemalige RAF-Mitglieder, die an der Veranstaltung teilnehmen wollten, konnten aus gesundheitlichen Gründen nicht kommen, was auch damit erklärt wurde, daß sich die Isolationshaftbedingungen bei den ehemaligen Gefangenen bis heute zerstörerisch auf Physis und Psyche auswirkten.

Ein Zeitzeuge, der an den verschiedenen Aufbrüchen der 68er-Generation teilhatte, eröffnete den Abend mit einem Rückblick auf die damalige gesellschaftliche Situation. Sie war von der Systemkonkurrenz des Kalten Krieges und der nicht nur personellen Kontinuität des Faschismus in Behörden, Ämtern, Universitäten und Institutionen aller Art geprägt. Erschwerend für die damalige Jugend hinzu kam eine rigide Verhaltens- und Sexualmoral, die auch den persönlichen Lebensverhältnissen strikte Grenzen aufzeigte. Der in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre erfolgende Aufbruch hat diese gesellschaftlichen Verhältnisse total umgekrempelt, so der Aktivist, der damals studierte und die ganze Breite neuer Lebens- und Aktionsformen erkundete.

Diese von Kommunen und Kinderläden über die Studenten- und Frauenbewegung bis zu den verschiedenen linksradikalen Gruppierungen und deren Versuchen, Lehrlinge, Randständige und ArbeiterInnen für den revolutionären Kampf zu agitieren, reichende Bewegung wurde bei aller theoretischen Durchdringung, mit der der Antagonismus der herrschenden Verhältnisse analysiert und auf vor allem marxistische Begriffe gebracht wurde, von der kapitalistischen Gesellschaft, die sie zu überwinden trachtete, aufgesogen und integriert. Diese damit ermöglichte Modernisierung, die das liberale Bürgertum bis heute als Errungenschaft der 68er feiert, brachte schon bald die neue Qualität einer eher unterschwelligen, Herrschaft mit Konsens und Zustimmung wirksamer als mit Disziplinierung und Unterwerfung durchsetzenden Praxis der Vergesellschaftung hervor.

Dementsprechend verfolgte die Anti-Akw-Bewegung der 1970er Jahre einen eigenen Weg zur Gesellschaftsveränderung. Zum Ende des Jahrzehnts und in Abgrenzung zum Avantgardeverständnis der K-Gruppen bildeten sich die Autonomen heraus. In der Auseinandersetzung mit bürgerlichen Kreisen etwa bei Anti-Akw-Protesten zeigten sie sich offener für andere Meinungen und Herangehensweisen. Indem sie versuchten, mit anderen Kreisen zusammenzuarbeiten, ohne diese zu vereinnahmen oder taktisch-pädagogisch mit ihnen umzugehen, versuchten sie die Lehre aus einem scheinbar nicht vermittelbaren Anspruch an Gesellschaftsveränderung zu ziehen. Zudem bildete sich in autonomen Kreisen auch eine gesellschaftsrelevante Kritik an Technologien heraus, die die affirmative Wissenschaftsgläubigkeit und den Produktivismus sozialistischer Parteien ihrerseits kritisch aufarbeitete.

Auch diese Bewegung konnte nicht verhindern, daß die Privatisierungsdoktrin der neoliberalen Globalisierung alles und jedes zur Ware macht und sich mit der Digitalisierung einer technologischen Gewalt bedient, die tief in alle Bereiche des Lebens, der Arbeit und Kommunikation eingreift. Der Aktivist rief dazu auf, eine andere Lebensweise wiederzugewinnen und eigene Begriffe von Recht und Legitimität, von Gewalt und Widerstand zu entwickeln.

Ein anderer Aktivist sprach darüber, wie wichtig es auch anhand des Herbstes 1977 sei, sich revolutionäre Geschichte anzueignen und zu verteidigen. Neun politische Gefangene hätten den Knast nicht überlebt, ihrer gelte es zu gedenken, denn sie hätten sich in einer revolutionären Situation befunden und nicht aufgegeben. Zehn Hungerstreiks wurden kollektiv durchgeführt. Sie richteten sich unter anderem gegen die Isolationsfolter, die auf der Erforschung der sogenannten sensorischen Deprivation an der Uniklinik Hamburg-Eppendorf basierte. Zeitweilig befanden sich bis zu hundert Gefangene im Hungerstreik, von denen einige starben, weil sie nicht ausreichend medizinisch versorgt wurden.

Die Offensive der RAF zur Befreiung der Gefangenen führte zur Entführung des Arbeitgeberpräsidenten Hanns Martin Schleyer, der gegen elf Gefangene ausgetauscht werden sollte. Die Gefangenen wurden mit dem Argument des "rechtfertigenden Notstandes" einer Kontaktsperre ausgesetzt, die ihre Kommunikation untereinander wie ihre Informierung durch Medien oder Anwälte unterbinden sollte. Obwohl ein Haftrichter am Bundesgerichtshof ihre Verteidiger von der Kontaktsperre ausnahm, ignorierten einige Justizbehörden diese Anweisung und setzten die totale Isolation weiter fort. Sie wurde schließlich vom BGH für rechtens befunden und in einem Kontaktsperregesetz verankert, das die ohnehin vollzogene Praxis legalisierte.

Auch die Medien wurden in die Maßnahme einbezogen. Die staatlich verordnete Nachrichtensperre, mit der Presse und Rundfunk angewiesen wurden, keine Stellungnahmen der Entführer zu veröffentlichen, wurde in der Bundesrepublik weitgehend befolgt. Lediglich im europäischen Ausland erkannte man die quasi als informelle Notstandsmaßnahme legitimierte Weisungsbefugnis der Bundesregierung nicht an. Unterstützer der RAF-Gefangenen besetzten daraufhin 78 Büros der Nachrichtenagentur dpa und durchbrachen damit die Nachrichtensperre.

Die Entführung des Lufthansa-Flugzeuges "Landshut" durch ein palästinensisches Kommando, die Weigerung der Bundesregierung, der Forderung der Flugzeugentführer nach Freilassung der elf RAF-Gefangenen stattzugeben und die Erstürmung der "Landshut" auf dem Flughafen der somalischen Hauptstadt Mogadischu durch ein Kommando des Bundesgrenzschutzes und die Ereignisse in der JVA Stuttgart-Stammheim markierten den Höhepunkt einer Offensive des Staates, dessen Regierung den Primat, niemals erpreßbar zu sein, ohne die weitgehende Mißachtung grundrechtlicher Garantien nicht hätte durchhalten können.

Staatliche Ermächtigung und kein Ende in Sicht ...

Die staatliche Antwort auf die Aufbrüche der 68-Generation folgte von den 1968 verabschiedeten Notstandsgesetzen über die Berufsverbotspraxis des Radikalenerlasses 1972 und diverse Gesetzesverschärfungen im Bereich Innere Sicherheit bis zu den exekutiven Sondervollmachten im Herbst 1977 einer konsistenten Agenda exekutiver Ermächtigung. Der ehemalige RAF-Gefangene Ron Augustin hebt dazu in einer Betrachtung der zum 40. Jahrestag verfaßten Beiträge sogenannter RAF-Experten hervor:

Was bei all dem immer wieder unter den Tisch fällt: Im September/Oktober 1977 gab es eine Verschiebung innerhalb des Staatsapparats, die der klassischen Analyse von Nicos Poulantzas ("Faschismus und Diktatur", Trikont, München 1970) entsprach. Die politische Polizei nahm eine dominante Position im Entscheidungsablauf des Staates ein. Das Bundeskriminalamt führte Regie, nicht nur in den Krisenstäben, sondern auf allen Ebenen der für die Situation relevanten Organe, mit Konsequenzen, die weit über die Prämissen der Notstandsgesetze hinausgingen. Als einer von wenigen erfasste Pieter Bakker Schut diesen Prozess in seinem Buch "Stammheim" (Neuer Malik-Verlag 1986), der bis jetzt ausführlichsten Analyse der politischen Eskalation, die zum "Deutschen Herbst" führte. [2]

40 Jahre später sieht es trotz einer weit weniger militant in Erscheinung tretenden Linken nicht viel anders aus. Bundesinnenminister Thomas de Maizière nutzte die Gedenkfeier zum 40. Todestag Hanns Martin Schleyers dazu, die Digitalisierung der Polizei bis hin zum Predictive Policing, also der auf Datenbasis vollzogenen Präventivbekämpfung noch gar nicht ausgeführter Straftaten, zu loben [3]. Das dazu geplante Installieren einer staatlich sanktionierten Sicherheitssoftware auf allen Endgeräten initiierte eine vollzogene Form von Sozialkontrolle, dergegenüber alle bisherigen Observationstechniken verblassen.

Auch der Einsatz der Bundeswehr im Innern geht zügig voran, allein beim G-20-Gipfel in Hamburg wurden von 35 Amtshilfeersuchen an die Bundeswehr mehr als 20 genehmigt. Wie der friedenspolitische Sprecher der Fraktion Die Linke in der Hamburgischen Bürgerschaft, Martin Dolzer, berichtete [4], übte sich der leitende Polizeidirektor Hartmut Dudde auf dem "Trinationalen Workshop Zivil-Militärische Zusammenarbeit" an der Führungsakademie der Bundeswehr in Hamburg in Eigenlob, sei die Polizei auf dem OSZE- und dem G-20-Gipfel in Hamburg doch "professionell, mit Fingerspitzengefühl, besonnen und mit Augenmaß, aber auch konsequent" vorgegangen. Auch Hamburgs Bürgermeister Olaf Scholz ist dieser Ansicht. Es habe keine Polizeigewalt gegeben, meinte er zur Arbeit der 31.000 beim G-20-Gipfel eingesetzten PolizeibeamtInnen, was ihm den ausdrücklichen Dank der AfD-Fraktion einbrachte [5].

Derartige Behauptungen können bei den von Polizeigewalt betroffenen AktivistInnen und den G20-Gefangenen kaum verfangen. Neben der Verarbeitung massiver Repression und dem Versuch, der von Scholz und Dudde bestimmten offiziellen Lesart der Ereignisse Anfang Juli in Hamburg eigene Erlebnisberichte [6] entgegenzuhalten, geht es ihnen darum, zur Freilassung der noch im Knast sitzenden AktivistInnen öffentlich Druck zu machen und politisch gegen ihre Verurteilung in den anstehenden Gerichtsverfahren vorzugehen. Auch auf der Veranstaltung zu den vor 40 Jahren tot aufgefundenen RAF-Gefangenen wurde die Repression nach dem G-20-Gipfel insbesondere von jüngeren AktivistInnen zum Thema gemacht. So wurde darüber diskutiert, daß nur wenige der dabei Festgenommenen eine politische Verteidigung anstrebten. Dabei kam man jedoch schnell anhand des hochpolitischen Charakters der G20-Prozesse zu dem Schluß, daß die Gefangenen stellvertretend für alle im Knast sitzen und daher auch alle, ob sie nun Einlassungen gemacht hätten oder nicht, vollständige Unterstützung und Solidarität erhalten sollten. Sich damit politisch auseinanderzusetzen, daß die Macht des Staates dort endet, wo seine Gewalt nicht mehr abschreckt, sei eine Möglichkeit, die Angst vor dem starken Staat in den Griff zu bekommen.

"Allein machen sie dich ein", sangen schon Ton Steine Scherben und beschrieben damit eine Herrschaftsstrategie, die in der neoliberalen Konkurrenzgesellschaft zur Perfektion einer auf Atomisierung und Isolation setzenden Sozialkontrolle getrieben wurde, zu deren Anwendung es lediglich der Aktivierung individueller Überlebensreflexe bedarf. Solidarität mit politischen Gefangenen zu üben wird unter diesen Bedingungen nicht leichter, und da die Beteiligung an Demonstrationen seit der Neufassung der Paragraphen 113 StGB (Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte) und 114 StGB (Widerstand gegen Personen, die Vollstreckungsbeamten gleichstehen) künftig unter deutlich vergrößertem Risiko steht, dabei in den Knast zu kommen, wird auch die Mobilisierung zu deren Unterstützung mehr Bedeutung erhalten. Ein Vertreter der Initiative "Grundrechte verteidigen!" vertrat auf der Pressekonferenz des Grundrechtekongresses am 7. Oktober in Düsseldorf die Ansicht der Gruppe, daß es sich dabei um einen der "weitestgehenden Eingriffe in die Grundrechte seit Bestehen der Bundesrepublik überhaupt" handle. Das Demonstrationsrecht sei "in einer qualitativ neuen Form" eingeschränkt worden, allerdings gelte nach wie vor, "wer kämpft, der kann verlieren, wer nicht kämpft, der hat schon verloren".

Wie in der Veranstaltung deutlich wurde, steht eine den ideologischen Verzerrungen der kapitalistischen Klassengesellschaft entgegentretende Geschichtsschreibung zur RAF vor dem Problem, daß ihre Mitglieder, von denen schon viele gestorben sind und andere unter den Folgen langjähriger Haft leiden, sie noch nicht in Angriff genommen haben. Um so bestimmender für die allgemeine Wahrnehmung ist der Einfluß der massenmedial hofierten Chronisten, die, wenn sie nicht die Sicht des Staatsschutzes kolportieren, doch zumindest dauerhaft am staatlichen Gewaltmonopol partizipieren wollen.

Die Beweggründe eines kollektiven, antiimperialistischen und sozialen Widerstandes zu verstehen, der 27 Jahre andauerte und dessen Akteure zum Teil bis heute daran festhalten, mit den staatlichen Ermittlungsbehörden nicht zusammenzuarbeiten, setzt eine Fähigkeit zu politischer Kritik voraus, die einerseits nicht von selbst entsteht und den Menschen andererseits systematisch ausgetrieben wird. Dies erfolgt nicht zuletzt mit Hilfe eines Gesinnungsverdachtes, mit dem schon die theoretische Erkundung historischer Ereignisse, sofern sie von revolutionären Motiven bestimmt wurden, belegt wird. Dabei besteht, denkt man nur an die nach Paragraph 129b verfolgten Gefangenen türkischer und kurdischer Herkunft in der Bundesrepublik, von denen kaum Notiz genommen wird, obwohl sie einer nach politischen Kriterien agierenden Justiz ausgesetzt sind, allemal Anlaß, die verbliebenen Bewegungsmöglichkeiten politischer Opposition und sozialen Widerstandes in einem der politisch wie ökonomisch führenden Staaten der Welt zu bewahren und zu erweitern.


Fußnoten:

[1] Ernst Bloch: Naturrecht und menschliche Würde. Frankfurt am Main 1961, S. 158 f.

[2] https://www.jungewelt.de/artikel/320134.das-bka-führte-regie.html

[3] https://www.jungewelt.de/artikel/320309.weitere-sicherheitsoffensive.html

[4] https://www.jungewelt.de/artikel/320332.gegen-die-reaktion.html

[5] https://www.jungewelt.de/artikel/321565.theaterdonner-im-sonderausschuss.html

[6] Auf der Pressekonferenz zum bundesweiten Grundrechtekongreß, der am 7. Oktober 2017 in Düsseldorf stattfand und über den der SB unter dem kategorischen Titel "Es geht ums Ganze" ausführlich berichtete, stellte Julia Kaufmann, Sprecherin der Initiative "Demonstrationsrecht verteidigen!" und Mitglied im ver.di-Bezirksjugendvorstand NRW-Süd, dar, wie die G20-Proteste für ihre KollegInnen und sie verlaufen sind. Ihr Bericht wird im Wortlaut als ungekürztes Transkript veröffentlicht:

Wir waren ungefähr 20 Minuten unterwegs auf dem Weg zum Blockadepunkt mit ungefähr 200 Leuten aus dem Camp heraus, in dem wir am Tag zuvor eine angenehme solidarische Atmosphäre erlebt haben, auf dem es Bildungsangebote gab und nicht eben, wie zuvor von der Polizei behauptet, vor allem ein Rückzugsort für Straftäter bestand. Das ist absoluter Blödsinn.

Völlig unvermittelt aus unserer Sicht gab es dann einen Angriff der Polizei auf unsere Demonstration von zwei Seiten, sowohl von hinten als auch von vorne. Von hinten wurden wir mit mehreren Wasserwerfern unvermittelt angegriffen, von vorne prügelten Polizisten auf uns ein mit Schlagstöcken, benutzten Pfefferspray wahllos gegen alle Teilnehmer. Ich habe selbst auch gesehen, wie Leute, die bereits auf dem Boden lagen, Stiefeltritte ins Gesicht und gegen den Kopf bekommen haben, wie unbeteiligt an der Seite Stehende mit Fäusten seitens der Polizei bearbeitet worden sind, und man hat auch deutlich gesehen, und das hat uns sehr schockiert, daß die Polizisten, die an diesem Einsatz beteiligt waren, Spaß an ihrer Arbeit hatten.

Als wir auf dem Boden lagen, hat ein Polizist zu mir gesagt: Heute behandeln wir euch wie sonst ihr die Nazis - mit Verachtung in seinem Blick, und man hat uns angekündigt bereits auf der Straße, daß wir mehrjährige Haftstrafen zu erwarten hätten.

Wir sind dann abtransportiert worden, naß wie wir waren von dem Angriff mit dem Wasserwerfer. Teilweise wurden wir auch noch mehrere Stunden an diesem Ort, an dieser Straße am Rondenbarg, festgehalten, mußten auf dem Boden liegen, durften uns nicht bewegen, durften nichts aus unseren Rucksäcken nehmen. Was aber sehr wohl passiert ist an dieser Stelle ist daß Leuten, die dort auf der Straße lagen, Sachen untergeschoben worden sind von der Polizei. Auf der Straße lagen viele Dinge, Rucksäcke, Mützen, Bekleidungsstücke, die im ganzen Getümmel heruntergefallen waren und durch die Gegend geflogen sind. Und ich habe mehrfach erlebt, daß Polizeikräfte versucht haben, Demonstranten dazu zu zwingen, gewisse Gegenstände einzustecken oder zuzugeben, daß bestimmte Rucksäcke ihnen gehören würden, die auf der Straße lagen.

Als wir in der GeSa, in der Gefangenensammelstelle angekommen sind, nach mehreren Stunden zum Teil, wurden wir alle zunächst durchsucht, und zwar völlig nackt. Wir mußten uns in eine Kabine stellen und uns dort entkleiden, wurden dort teilweise auch in Körperöffnungen durchsucht von Polizisten. Währenddessen wurden auch unsere gesamten Gegenstände durchsucht und protokolliert, man wurde, wie noch so oft an diesem Wochenende, aufgefordert, Zettel zu unterschreiben, für die man kaum Zeit hatte sie zu lesen. Es wurde auch nicht die Möglichkeit genannt, daß man das nicht unterschreiben muß, weswegen manche das auch gemacht haben.

Wir wurden dann in Sammelzellen untergebracht mit bis zu fünf Personen. Die Zellen darf man sich so vorstellen: Neun Quadratmeter groß in einem Container, weiße Wände, keine Möbel, lediglich eine schmale Holzbank, auf der man nicht einmal liegen kann, und 24 Stunden am Tag beleuchtet mit Neonlicht.

Wir haben uns in diesen Zellen lange Zeit aufgehalten, dort dröhnte die ganze Zeit die Klimaanlage, und nach weiteren Stunden sind wir dann zu Haftrichtern geführt worden. Zwischendurch wurden wir noch ID-behandelt, d.h. man hat Fotos gemacht und uns Fingerabdrücke abgenommen usw. Besonders erschreckend war, daß man während dieses ganzen Knastwochenendes, das wir dort verbracht hatten, nie die Möglichkeit erhalten hatte, irgend etwas zu tun. Man konnte keinen Widerspruch einlegen, man hat auch auf Anfrage nichts schriftlich erhalten dürfen, und man durfte nur spärlicherweise einen Anwalt anrufen. Alles hat die Polizei entschieden, man wurde über seine Rechte in keiner Situation irgendwie aufgeklärt. Fragen wurden nicht beantwortet. Erst nach über 20 Stunden habe ich erfahren, was man mir eigentlich vorwirft, obwohl ich mehrfach nachgefragt habe, warum ich denn im Gefängnis bin, eine durchaus berechtigte Frage meiner Meinung nach.

Auf eine Sache möchte ich schon noch eingehen, bevor ich wirklich fertig bin. Es wurde im Verlauf des Kongresses mehrfach angesprochen, daß besonders Frauen von übler Behandlung in der Gefangenensammelstelle berichten. Und das hat meiner Meinung nach auch einen ganz bestimmten Grund. Es ist so, daß man als Frau in unserer Gesellschaft doppelt bestraft wird, wenn man auf die Straße geht und sich dabei auch noch erwischen läßt, wie man für eine solidarische Gesellschaft einsteht. Und zwar ist es so, daß man als Demonstrant, wie vielfach während des Kongresses erwähnt, kriminalisiert wird per se, andererseits aber auch als Frau, denn Frauen tun so etwas nicht. Frauen gehen nicht in schwarzer Kleidung auf die Straße, Frauen setzen sich nicht zur Wehr, Frauen tragen keine Transparente und Frauen sind auch nicht kämpferisch. Und wenn man das als Frau doch tut, dann wird man eben auch nicht mehr als Frau behandelt, weswegen es dann aus Sicht eines Polizisten möglicherweise völlig okay ist, einer Frau den Tampon zu entziehen, einfach vorbeizugehen, wenn man sich entkleidet, einen blöden Spruch zu bringen wie etwa: Da kommen ja die Damen - ach, Damen sind es ja nicht! eine kurzhaarige Freundin im Gefängnis immer mit Herr K. anzusprechen, statt Frau K. zu sagen, und dabei blöd zu grinsen, Frauen die BHs zu entziehen für drei Tage, was sehr unangenehm ist, und dauernd als männlicher Polizist in die Zelle zu kommen und die Frauen anzuschreien.

3. Dezember 2017


Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang