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BERICHT/326: Nicaragua - ins Gegenteil verkehrt ... (SB)


Ein Machiavelli hätte seine Freude. Ortega hat Schritt für Schritt seine Rückkehr an die Macht, die er einst an den Urnen verlor, konsequent vorbereitet. Kompromisse sind in der Politik notwendig. Doch wie weit darf man gehen, wenn man die eigene moralische Integrität nicht aufs Spiel setzen will? Wer diese Politik kritisierte, wurde als Agent des Imperialismus verunglimpft. Wer nur von den sandinistischen Medien durch den Dreck gezogen wurde, hatte noch Glück, denn anderen wurde wegen erfundener Anschuldigungen die Ortega-hörige Justiz an den Hals gehetzt.
Ralf Leonhard: "Revolution als Farce" am 18. Juli 2009 [1]


Nicaragua! Im Jahr 1979 hat der sandinistische Aufstand das Land vom diktatorischen Somoza-Regime befreit. Dieser Befreiungskampf begeisterte die Linke weltweit und glich einem Fanal, das Unterstützerkreise wie Pilze aus dem Boden schießen ließ. Allein aus der Bundesrepublik sollen damals mehr als 15.000 junge Leute als Lehrer, Ärzte, Handwerker, Erntehelfer oder bewaffnete Kämpfer nach Nicaragua gegangen sein. Um der Bedeutung dieses Phänomens in seinem historischen Kontext gerecht zu werden, gilt es zuallererst, dem allfälligen Abgesang auf die "68er" aus dem Munde angeblicher Zeitzeugen den Boden zu entziehen. Deren Rückschau nach 50 Jahren läßt sich auf das Anliegen reduzieren, die damalige Aufbruchstimmung in der politisch wachen Bevölkerung zu marginalisieren, zu diskreditieren und als Geschichte des Scheiterns zu entsorgen.

Wer damals dabei war und sich nicht dem sinnvernebelnden Vergessen oder sentimentaler Nostalgie überantwortet hat, um die eigenen Lebensträume tief zu vergraben, wird es bestätigen: Die Linke war höchst vital und präsent, die Revolution schien gleich hinter dem Horizont, wenn nicht gar schon der nächsten Ecke hervorzulugen. Wenngleich die ideologischen Kontroversen ins Kraut schossen, welcher Weg der richtige sei, herrschte doch weithin Übereinkunft darüber, daß die gesellschaftlichen Verhältnisse umgewälzt und der Kampf gegen den Imperialismus weltweit unterstützt werden müsse. Und diese Überzeugung war kein Nischenprodukt einer bedeutungslosen radikalen Minderheit, sie reichte vielmehr bis tief ins libertäre Bürgertum hinein.

"Kleines Nicaragua, jetzt, da du frei bist, liebe ich dich noch viel mehr!", sangen Unterstützungskomitees rund um den Globus, als am 19. Juli 1979 die Sandinisten in Managua einmarschierten. Die neue "Regierung des Nationalen Wiederaufbaus" verstaatlichte den Besitz des Somozas-Clans, schaffte die Todesstrafe ab, gründete landwirtschaftliche Kooperativen und richtete die kostenlose ärztliche Versorgung ein. Hungernde erhielten Getreide vom Staat, Zehntausende lernten in staatlichen Programmen Lesen und Schreiben. Unterstützt wurde sie von einer Welle internationaler Sympathie und Solidarität. Zahlreiche private Initiativen, Parteien, Verbände und kirchliche Gruppen aus Westeuropa und Nordamerika steuerten beträchtliche Hilfe bei, der kleine zentralamerikanische Staat wurde zur Projektionsfläche linker revolutionärer Träume.

Schnitt. Seit dem 18. April 2018 gehen Ortegas Paramilitärs und Banden gegen den von der Jugend angeführten Protest vor, über 500 Menschen wurden bislang getötet, Tausende verletzt, Hunderte verschleppt. Wie konnte es dazu kommen, daß sich die sandinistische Befreiungsbewegung in ein derart repressives Regime verwandelt hat? Während Teile der deutschen Unterstützerkreise Ortega nach wie vor verteidigen und im US-Imperialismus den wahren Feind sehen, der sich der Opposition bediene, um einen Regimewechsel herbeizuführen, zeichnen Kritiker ein ganz anderes Bild. Aus ihrer Sicht hat sich der Ortega-Clan seit den frühen 90er Jahren maßlos bereichert und die Seiten gewechselt, um wieder an die Macht zu kommen, was dann Ende 2006 auch gelang.


Eröffnet stehend die Veranstaltung - Foto: © 2018 by Schattenblick

Dieter Wegner
Foto: © 2018 by Schattenblick


Der Aufstand in Nicaragua

Der Jour Fixe 167 der Hamburger Gewerkschaftslinken [2] am 5. September im Curio-Haus war dem Thema "Der Aufstand in Nicaragua: Kann sein, was nicht sein darf?" gewidmet. Auf Einladung Dieter Wegners und unter Moderation von Claus Reichelt (alternativer Wohlfahrtsverband SOAL Hamburg) berichteten die Referenten Dr. Jürgen Steidinger (Hamburg) und Prof. Manfred Liebel (Berlin) auf Grundlage ihrer langjährigen Erfahrungen in Nicaragua über die aktuelle Entwicklung im Land und diskutierten mit dem zahlreich erschienenen Publikum über deren Hintergründe und daraus abzuleitende Konsequenzen.

Claus Reichelt hat das Kinderhaus Heinrichstraße in Hamburg mitgegründet und war lange Jahre Geschäftsführer eines großen Wohlfahrtverbands. Das Kinderhaus war in der Nicaraguabewegung aktiv und mit einem eigenen Projekt praktizierter Solidarität im Land präsent. Der Kinderarzt Jürgen Steidinger war lange im AK Wandsbek Leiter der Neugeborenenintensivstation. Dort inspirierte ihn die Begegnung mit einem Kinderarzt aus Nicaragua dazu, Spanisch zu lernen und nach Nicaragua zu reisen, das er von 1986 bis 1992 jedes Jahr besuchte. Als er vom Universitätskrankenhaus in Hamburgs Partnerstadt León angefragt wurde, entschloß er sich im Alter von 50 Jahren, sich beurlauben zu lassen und 1992 nach Nicaragua zu gehen, wo er bis 2016 blieb. Er arbeitet nach wie vor eng mit zwei Projekten zusammen, die sich um Straßenkinder und Kinder vom Müllberg kümmern. Manfred Liebel war lange Jahre Professor für Soziologie an der TU Berlin und hat vor allem im Bereich Kinder und Jugend geforscht. Das war auch der Schwerpunkt seiner Arbeit in Nicaragua, wo er Familie hat und sein Sohn geboren wurde. Als er den Beginn der aktuellen Proteste selbst miterlebte, veranlaßte ihn das dazu, noch einmal aktiver zu werden, als er das in den letzten Jahren ohnehin schon gewesen war.

Wie Dieter Wegner einleitend umriß, ist Nicaragua auch in der deutschen Linken ein brisantes Thema, bei dem die Einschätzungen weit auseinandergehen. Die Generation, welche die Entwicklung in Nicaragua Ende der 70er, Anfang der 80er Jahre erlebt hat, verbindet damit zwangsläufig eine ganz andere Bedeutung als die 20- bis 30jährigen von heute. "Ich bin mit Herzblut dabeigewesen" - dieses Wort sei immer wieder in Gesprächen mit Leuten gefallen, die sich damals in der Solidarität engagiert haben. Um so wichtiger seien authentische Berichte darüber, was sich derzeit in Nicaragua abspielt. Die Position des Jour Fixe sei in dieser Frage, daß ein Volksaufstand stattfindet, der vom Ortega-Regime mit repressiven Mitteln bekämpft wird. Auf der Homepage seien indessen auch Beiträge vertreten, die Ortega verteidigen, so daß man sich ein eigenständiges Bild machen kann. Die bei der Veranstaltung gesammelten Spenden gingen an den Verein "Kinderträume - Sueños de Niños" von Jürgen Steidinger und Heidrun Bauer zur Unterstützung von Projekten in Nicaragua [3].


Bei der Moderation am Tisch sitzend - Foto: © 2018 by Schattenblick

Moderator Claus Reichelt zwischen Manfred Liebel und Jürgen Steidinger
Foto: © 2018 by Schattenblick


Vom Revolutionshelden zum neoliberalen Autokraten

Wie Jürgen Steidinger ausführte, hat Nicaragua, das zweitärmste Land Lateinamerikas, inzwischen 200 Millionäre, darunter Daniel Ortega und einige andere aus seinem Kreis. Ihn beschäftige besonders, daß viele seiner Generation nicht sehen wollten, was sich dort abspielt. Sie meinen, Ortega müsse immer noch Sandinist und könne kein neoliberaler Autokrat sein. Er war einst ein Revolutionsheld, der vor etwa 30 Jahren zusammen mit seiner Lebensgefährtin Rosario Murillo im Curio-Haus gefeiert wurde. Inzwischen haben sich die Zeiten und die Menschen geändert, so der Referent. Ortega mußte 1990 abtreten, die Sandinisten wurden abgewählt, ein konservativ-liberales Bündnis mit Violeta Chamorro übernahm die Regierung. Ortega kündigte damals an: Jetzt werden wir von unten regieren. Rückblickend gesehen könne man verfolgen, wie sich das immer weiter bis an den Punkt fortentwickelt hat, den wir heute erleben.

Die Frente Sandinista war die einzige klar strukturierte politische Partei, die die Massen bewegte. Ortega konnte Demonstrationen organisieren, zur Blockade aufrufen, das Land zum Stillstand bringen. Zugleich konnte er aber auch geschickt verhandeln und schloß einen Pakt mit dem korrupten liberalen Präsidenten Arnoldo Alemán, in dessen Folge die erforderliche Stimmenzahl bei der Präsidentenwahl von 45 auf 35 Prozent gesenkt wurde, so daß Ortega 2006 mit 38 Prozent im ersten Wahlgang gewann. 2003 hatte er sich bereits offiziell bei der Katholischen Kirche für deren Behandlung seitens der Sandinisten in den 80er Jahren entschuldigt und er ging sogar soweit, sich 2005 von einem seiner ehemals größten Feinde, dem Erzbischof Obando, in der Kathedrale von Managua kirchlich trauen zu lassen. Seitdem ist Obando der Berater der Familie Ortega. Kurz vor den Wahlen im November 2006 wurde eines der schärfsten Gesetze gegen Schwangerschaftsabbruch weltweit mit den Stimmen der FSLN verabschiedet.

Nach 16 Jahren neoliberaler Regierungen hatte Ortega bei seiner erneuten Wahl zum Präsidenten sehr schnell alle Institutionen im Griff. Er wurde gewählt, obwohl weithin bekannt war, daß vor der Machtübergabe 1990 die sogenannte Piñata stattfand, bei der sich die sandinistischen Funktionäre enorm bereichert hatten. Er werde gewählt, obwohl er bekannte Idole wie Ernesto Cardenal oder Herty Lewites mit Schmutzkampagnen überzogen hatte. Er wurde gewählt, obwohl bekannt war, daß er seine Stieftochter Zoilamérica ab dem 13. Lebensjahr sexuell mißbraucht hatte. Das wurde für verjährt erklärt, und die Richterin, die dieses Urteil gefällt hatte, stieg binnen kurzer Zeit in den Obersten Gerichtshof auf. Eine seiner ersten Amtshandlungen war eine Änderung des Wahlgesetzes, wodurch seine spätere Wiederwahl möglich wurde. Schritt für Schritt wurden Institutionen geschaffen, die zur Repression geeignet waren. Die CPCs (Stadtteilkomitees) wurden ausgebaut, wobei Kritiker darin ein Blockwartsystem sehen, da Parteigänger der FSLN die Bewohner beobachten und Listen über Verdächtige führen. Polizei und Paramilitärs nehmen willkürliche Verhaftungen vor allem unter Jugendlichen vor, die dann teilweise umgebracht werden. Zugleich verteilen die CPCs beispielsweise Nahrungsmittel aus Venezuela. Die von den Vorgängerregierungen durchgeführte Dezentralisierung der Verwaltung wurde zurückgenommen, so daß inzwischen die Bürgermeister weitgehend entmachtet sind, da über ihnen der politische Sekretär steht, der die letzte Entscheidung hat. Die Bürgermeister müssen sogar einmal die Woche in Managua zum Rapport erscheinen und ihre Order empfangen. In den 80er Jahren war die Polizei von den Institutionen getrennt worden, um sie möglichst unabhängig von politischem Einfluß zu machen. Auch das wurde rückgängig gemacht, die oberste Polizeichefin der letzten Jahre war eine bloße Marionette, und Ortega hat nun den Schwiegervater einer seiner Töchter mit diesem Amt betraut.

All das spielte sich seit 2006 Schritt für Schritt ab. Die Bevölkerung verfolgte diese Entwicklung und wurde unruhig, so der Referent. Fragte man Menschen, ob sie Sandinisten seien, hörte man häufig, sie seien Sandinisten, aber keine Ortegisten. Vor allem unter Jugendlichen wuchs die Unzufriedenheit. Als dann im Süden des Landes am Rio San Juan ein riesiger Waldbrand ausbrach, der vermutlich gelegt war und nur sehr zögerlich gelöscht wurde, so daß erhebliche Teile des Naturreservats den Flammen zum Opfer fielen, wuchs die Unzufriedenheit weiter an. Dennoch kann niemand schlüssig erklären, warum ausgerechnet am 17. April nach der Reform des Rentengesetzes und der Demonstration der Rentner, die sich dabei blutige Nasen holten, die Studenten plötzlich auf die Straße gingen und den Protest anfachten, der seither weit über 500 Menschen das Leben gekostet hat. Mehr als 2000 wurden verletzt und mehrere hundert verschleppt.

Die Studentenschaft entstamme allen Sektoren der Bevölkerung, es handle sich nicht ausschließlich um Kinder reicher Eltern. So bestätigten auch anwesende Studentinnen aus Nicaragua, daß sich inzwischen alle, gleich welcher familiären Herkunft, am Protest beteiligten. Offenbar gebe es in dieser Opposition keinen Anführer, vielmehr sei es Bündnis aus verschiedensten Gruppen von Studenten bis hin zu Unternehmern und Kirchen. Der Student Léster Alemán stand beim ersten Treffen des Nationalen Dialogs auf, zeigte auf Ortega und forderte ihn auf, die Regierung und das Land zu verlassen. Zudem forderte er Demokratisierung, Gerechtigkeit und ein Ende der Repression, doch wurden bislang noch keine sozialen Forderungen erhoben.

Ihm liege sehr viel daran, seine Altersgenossen zu überzeugen, daß das keine Hirngespinste sind, unterstrich Steidinger. Noch könne niemand abschließend erklären, warum die Enkel der Revolutionäre einen Aufstand anführen. Wie andere Revolutionen sei auch die in Nicaragua durch menschliche Veränderungen und Schwächen in die Hose gegangen. Ortega saß selber sieben Jahre im Gefängnis und wurde gefoltert. Dennoch wurde Somozas Foltergefängnis "El Chipote" im Zentrum Managuas wieder aktiviert, um dort die nun Verhafteten festzuhalten und zu foltern. Warum läßt Ortega die Jugend seines eigenen Volks durch bezahlte Killer umbringen? Die Paramilitärs stammen aus den Reihen der Partei, größtenteils sind es Retirados des Heeres, andere gehören der Jugendorganisation der Sandinisten an. Bei einigen dieser Gruppierungen handelt es sich um bezahlte Schläger, die eigens dafür ausgebildet worden sind. Er könne aus eigener Erfahrung bestätigen, daß Jugendliche angeworben wurden und dabei gleich Geld auf die Hand bekamen, so der Referent. Ortega bezeichnet sie als "freiwillige Polizei". Auch seien Waffen aus dem Contrakrieg wie das Scharfschützengewehr Dragunow wieder aufgetaucht.

Das Militär betont offiziell seine Unabhängigkeit, läßt aber keine Differenzen zu Ortega erkennen. Zudem sind zuletzt immer schwerere Waffen zur Repression eingesetzt worden, die nicht aus Polizeibeständen stammen. Wie in wohl allen Ländern Lateinamerikas sind die Streitkräfte auch in Nicaragua ein Industriekomplex, der über breitgestreute Beteiligungen bis hin zum Tourismus und sogar eine eigene Bank und eine Universität verfügt. Wie es heißt, greift das Militär erst dann ein, wenn sein Besitz zu Schaden kommt. Es ist im Zuge der aktuellen Proteste nie zu einem Generalstreik gekommen, höchstens einem nationalen Streik von ein bis zwei Tagen. So steht die Befürchtung im Raum, daß die Armee im Falle eines längeren Generalstreiks ausrücken würde.


Stehend beim Vortrag - Foto: © 2018 by Schattenblick

Jürgen Steidinger
Foto: © 2018 by Schattenblick


War diese Entwicklung vorherzusehen?

Für Manfred Liebel stellt sich insbesondere die Frage, ob die Entwicklung in Nicaragua vorherzusehen war. Handelte es sich um einen zwangsläufigen Prozeß, daß sich ein solches Führungsgespann auf diese Weise durchsetzen konnte? Dann käme man womöglich sogar zu dem Schluß, daß Revolutionen immer scheitern, wogegen er sprechen wolle. Es wäre für viele, die wie er mit großer Begeisterung nach Nicaragua gegangen sind, absehbar gewesen, aber niemand hatte das auf dem Schirm: Wir wollten uns unsere Begeisterung, Hoffnungen und Wünsche nicht nehmen lassen. Wäre etwas anderes möglich gewesen? In der sandinistischen Revolution waren seines Erachtens viele Elemente enthalten, die andere Entwicklungen möglich gemacht hätten. Sie war ein Volksaufstand, der im wesentlichen aus einer bewaffneten Rebellion, verkörpert durch die Frente Sandinista, hervorging. Das brachte bestimmte Denkweisen und Strukturen mit sich. Als er Anfang 1984 erstmals nach Nicaragua kam, sei ihm der starke Bezug auf die Führung Ortegas aufgefallen, den er jedoch eher als Kulturdifferenz wahrgenommen habe. Die Comandantes spielten eine sehr wichtige Rolle, aber es gab auch andere Elemente in dieser Revolution, die weniger autoritär waren. Es war zugleich eine Explosion von Kreativität und Bewegungen an der Basis. Ohne all diese Menschen, die nicht nur auf Befehl handelten, sondern selber dafür einstanden, wäre die weltweite Solidarität nicht möglich gewesen. Dieses Element, daß etwas freigesetzt wurde, was vorher gar vorhanden war, sollte man unterscheiden von der Sichtweise, daß alles schon von vornherein festgelegt gewesen sei, so der Referent.

Als Liebel im Februar 1984 Nicaragua erstmals besuchte, motivierte ihn der Contrakrieg. Er ging im Rahmen einer ökumenischen Initiative für Frieden und Gerechtigkeit dorthin, um Bäuerinnen und Bauern beizustehen, die im Kriegsgebiet lebten. Wenngleich sich die Nützlichkeit der ausländischen Unterstützer auf dem Acker als begrenzt erwies, war die Aktion seines Erachtens doch nicht sinnlos. Die sechswöchige Erfahrung in dieser Kooperative habe seine weitere Bindung an das Land gefestigt, vor allem die Erfahrung mit Kindern. Dort tauchten immer wieder Kinder auf, die von schrecklichen Erlebnissen berichteten. Das habe ihn motiviert, weiterhin etwas mit Kindern zu machen, was er im Laufe der Jahre durch seine vielen Kontakte verstetigen konnte. So habe er in Managua im Rahmen einer sozialen Brigade von überzeugten Revolutionären mit Kindern auf einem großen Markt gearbeitet. Kündigte einer der Comandantes seinen Besuch an, wurden die Kinder abgeräumt, eingesperrt, teils auch mißhandelt. Das sei für ihn ein großer Schock gewesen. Der Vorschlag, lieber als unabhängige Gruppe zu arbeiten, um nicht von den Kindern als Feind gesehen zu wurde, wurde jedoch im Ministerium mit der Frage zurückgewiesen, ob es sich etwa um eine Gruppe von Konterrevolutionären handle. Dieses Denken habe sich sehr früh entwickelt und als verhängnisvoll erwiesen. Die Polarisierung zwischen der Führung und allen übrigen, die jegliche Kritik als feindlich diskreditierte, sei vor allem von Rosario Murillo vorangetrieben worden, indem sie den Staatsaufbau hierarchisierte und alles unter Kontrolle zu bringen versuchte, was im Land geschah. Dadurch wurden viele Leute ausgegrenzt, zum Teil auch bedroht, so Liebel.

Wie Jürgen Steidinger dazu anmerkte, sei es zwar nicht zu beweisen, aber die Meinung vieler, daß Murillo seit der abgewiesenen Anklage wegen der Mißbrauchsvorwürfe Ortega in der Hand habe und viele seiner Veränderungen unter ihrem Einfluß zustande kämen. Sie übe beispielsweise Kontrolle über die Medien aus und trete seit Jahren täglich um 12 Uhr mittags vor die Fernsehkameras, um über aktuelle Ereignisse zu ihrem Volk zu sprechen.

Über die Jahre sammelte sich bei vielen Menschen ein Unmut an, der jedoch lange nur vereinzelt zum Ausdruck kam und vor Ort sofort unterdrückt wurde. Erst als sich größere Teile der Bauernschaft gegen das gigantische Kanalprojekt aussprachen, gewann diese Unruhe deutlicher Kontur. Der 18. April sei jedoch auch für ihn nicht leicht zu erklären. Liebel vermutet, daß sich geraume Zeit etwas angestaut und bei einer neuen Generation Luft verschafft hat. Er habe selber in seiner halb deutschen, halb nicaraguanischen Familie erlebt, daß sein Schwager das Haus früher mit Ortega-Plakaten vollgepflastert hatte. Er hatte während der Revolution in den irregulären Bataillonen teilweise auch in Honduras gekämpft, sein Leben aufs Spiel gesetzt und viele Freunde verloren. Zuletzt erklärte er unter Schmerzen, warum er Ortega nicht mehr verehren könne. Er selbst habe in vielen Gesprächen erlebt, wie schmerzhaft der Prozeß in dieser Generation ist und daß sich dasselbe Denken oftmals umkehrt und man nun die Anhänger Ortegas durchweg als Feinde sieht. Es ist viel Haß im Spiel, so der Referent. Die Jüngeren, die den Aufstand ausgelöst haben, sind die Kinder der Revolutionäre und haben zu Hause über ihre Eltern etwas von früher mitbekommen. Die Parolen und Lieder auf den Demos stammen aus der Revolutionszeit, welche die Demonstrierenden zumeist gar nicht selber erlebt haben. Sie sind geprägt von der Revolution, aber noch nicht in den Machtstrukturen verankert und aufgestiegen. Ihre ursprüngliche Unbefangenheit, den Protest zu äußern, ist inzwischen jedoch angesichts der Brutalität der Repression verschwunden. Das System sei zwar schon seit Jahren als autoritär wahrgenommen geworden, aber die brutale Reaktion auf den zunächst friedlichen Protest habe alle überrascht und auch die daran Beteiligten verändert.

Es stelle sich die zentrale Frage, ob Revolutionen wirklich scheitern müssen. Seines Erachtens sei das nicht der Fall, doch könne er keine fundierten Belege dafür geltend machen. Welche Perspektiven kann eine Volksbewegung haben? Es wurde die Frage aufgeworfen, ob sie von den USA finanziert sei. Aufgrund vieler Gespräche wisse er, daß die große Masse derjenigen, die an dem Protest teilnehmen, aus eigenen Beweggründen handeln, aber mit durchaus unterschiedlichen Interessen. Er sehe sich nach wie vor als Linker und frage sich, was wir dazu beitragen können, daß diese Protestbewegung, ohne sie zu bevormunden, eine linke und nicht eine neoliberale Perspektive entwickelt.

Die Gewerkschaften wurden im Laufe der Zeit von der sandinistischen Partei kontrolliert, zunächst durchaus zu Recht, um den neoliberalen Regierungen Schwierigkeiten zu machen, aber ab 2007 instrumentalisiert und diszipliniert. Ortega hat nicht verhindert, daß weiterhin Menschen in Maquilas ausgebeutet werden und dort keine eigenen Gewerkschaften aufbauen können. Die Gewerkschaften vertreten nicht die Arbeiter, sondern die Partei und sorgen dafür, die Löhne niedrig zu halten. Etwas anders verhält es sich bei der Organisation der Kleinproduzenten UNAG, die sich zum Teil verselbständigt hat, aber auch gespalten wurde. Aus Sicht der Regierung dürfen Massenorganisationen nur weiter existieren, wenn sie konform handeln. Das hat zur Zerstörung vieler basisorientierten Gruppierungen geführt, wozu auch Gewerkschaften gehören. Noch stärker wirkt sich diese Zerstörung bei den lokal orientierten kommunalen Bewegungen aus, die praktisch alle erstickt sind.

Ihn erfülle nach wie vor große Trauer, was aus dieser Revolution geworden ist. Er sei zu dem Schluß gekommen, daß daraus ein verbrecherisches System geworden ist - nicht faschistoid, aber ähnlich einer Militärdiktatur. Es sei jedoch wesentlich zu unterscheiden: Ich solidarisiere mich selbstverständlich mit all diesen Menschen, die jetzt brutal unterdrückt werden, und nicht nur mit jenen, die selber Linke sind. Aber im zweiten Schritt ist es wichtig, vorwiegend mit den Leuten zu kommunizieren, die als Kinder der Revolution in der Art, wie sie sich ausdrücken, wie sie miteinander umgehen, wie sie ihre Proteste organisieren, ein ganz neues Element verkörpern, so Liebel. Es sei beeindruckend, mit welcher Konsequenz sie eine basisdemokratische Struktur aufrechterhalten trotz der Unterdrückung, die sie zwingt, sich zu verstecken, wo jede Art der Kommunikation für sie zur Gefahr wird. Das halte er für ein hoffnungsvolles Zeichen in einer fast hoffnungslosen Situation.


Auf dem Podium mit Moderator Claus Reichelt - Foto: © 2018 by Schattenblick

Manfred Liebel
Foto: © 2018 by Schattenblick


Frage der Solidarität neu gestellt

Claus Reichelt unterstrich, daß es bei dieser Auseinandersetzung nicht allein um Nicaragua gehe. Daß erfolgreiche Revolutionäre die Menschen vergessen, die sie dorthin gebracht haben, sei eine grundsätzliche Frage. Es sei unverzichtbar zu verstehen, wie es dazu kommen konnte, um aus der Geschichte zu lernen. Zum einen sei Sinn der Veranstaltung, Impulse für die Solidaritätsbewegung zu geben. Zum anderen gelte es, sich mit Herrschaftstrukturen zu befassen, wie sie etwa auch beim G20-Gipfel in Hamburg zutage getreten sind.

Zur unvermeidlichen Kontroverse kam es, als anwesende GenossInnen von Cuba Si vehement zu bedenken gaben, daß man doch den Einfluß der USA nicht ausblenden könne, die in ganz Lateinamerika versuchen, linke Regierungen zu stürzen und einen Regimewechsel herbeizuführen. So habe Washington zweifellos ein Interesse daran, daß es zu Aufständen wie jenem in Nicaragua komme. Ohne Ortega deswegen zu verteidigen, sei er doch rechtmäßig gewählt worden, und man könne als Linker bürgerliche Wahlen nicht grundsätzlich verwerfen.

Zur Einschätzung der Wahlen erwiderte Manfred Liebel, daß die Frente Sandinista nach wie vor eine beträchtliche Anhängerschaft mobilisiere. Allerdings beruhte die Wahl 2006 auf einer Konstruktion, die es Ortega erst ermöglicht hat, mit nur 38 Prozent der Stimmen zum Präsidenten gewählt zu werden. Die nachfolgenden Wahlen wurden nachweislich durch Veränderung der Verfassung, Zusammensetzung des Wahlgremiums, Abschaffung freier Listen und Ausschluß bestimmter Parteien manipuliert. Auch müsse man bei den Parteigängern der Regierung zwischen festen Anhängern Ortegas und der großen Gruppe der Staatsangestellten unterscheiden. Letztere hätten Angst, ihre vergleichsweise gut bezahlte Arbeit oder gar ihr Leben zu verlieren, sobald Ortegas Macht endet. Für seine Anhängerschaft sei sowohl der Glaube an die Führerschaft als auch die Angst vor der Hölle maßgeblich. Treten die Ortegas ab, haben auch sie alles verloren. Das schweißt sie zusammen.

In ökonomischer Hinsicht ist Nicaragua ein kleines und armes Land, das auf einer kapitalistischen und extraktivistischen Exportproduktion basiert, woran auch die Ortega-Regierung nie etwas geändert hat. Das daraus resultierende Wachstum ist nicht bei den Menschen angekommen, die arm geblieben sind. Profitiert haben nur bestimmte Gruppen der Bevölkerung wie die Unternehmerschaft, die sich heute jedoch mehrheitlich in der Opposition befindet. Um eine Perspektive zu entwickeln, müsse die Ökonomie verändert werden, was ungeheuer schwer wäre, so Liebel. Jürgen Steidinger fügte hinzu, daß Nicaragua in den letzten Jahren das höchste Wachstum aller zentralamerikanischen Staaten aufgewiesen habe. Das beruhte jedoch nicht auf einer verbesserten Produktion, sondern hing mit den Milliarden aus Venezuela zusammen, die Hugo Chávez in die Wirtschaft fließen ließ, wobei ein erheblicher Teil in den Taschen Ortegas landete. Die Armutszahlen haben sich nur sehr gering geändert. Die großen Programme wie "Null Hunger", die von Venezuela finanziert wurden, hätten im Grunde nur wenig gebracht, so die Einschätzung Steidingers. Der Deal mit Venezuela wurde nie von der Nationalversammlung abgesegnet, alles lief in einem Parallelhaushalt durch die Hände Ortegas.

Ein Beitrag aus dem Publikum vertiefte die ökonomische Frage unter Verweis darauf, daß die Besitzverhältnisse nach der Revolution 1979/80, vom Besitz Somozas abgesehen, kaum angetastet wurden. Die auf den US-Markt ausgerichtete Wirtschaftsstruktur blieb bestehen. Als die Sowjetunion, die DDR und Kuba das Land unterstützten, führten die USA den Krieg der Contras. Mit dem Zusammenbruch des Ostblocks entfiel diese Unterstützung, worauf sich dank Venezuela noch einmal eine Perspektive anbot. Inzwischen wird unter den Linken Lateinamerikas die Diskussion über das Ende der extraktiven Revolution geführt. Die mehr oder minder linken Regierung hatten von den hohen Preisen für Öl und andere Rohstoffe gelebt, doch seit diese Preise in den Keller gefallen sind, brechen auch die Regime zusammen. Ecuador schließt wieder Verträge mit den USA, in Venezuela herrscht eine Hungerkatastrophe. Die Degeneration der Revolution in Nicaragua habe tiefere als nur menschliche Gründe, die sich an Ortega festmachen ließen.

Diese Problematik bewege auch ihn, so Manfred Liebel. Lateinamerika war lange Zeit eine Art Kolonie der USA, und es sei sehr schwer, sich aus dieser ökonomischen und politischen Abhängigkeit zu befreien. Führe man jedoch das Scheitern linker Projekte in erster Linie auf den US-amerikanischen Einfluß zurück, versäume man zu prüfen, was im Land selbst an Problemen wie insbesondere dem Umgang mit der Macht angelegt war. Beispielsweise habe man in Bolivien versucht, die zentrale Staatsmacht zugunsten eines plurinationalen Staats aufzulösen, der die verschiedenen indigenen Gruppen als eigene Nationen anerkennt. Was in der Verfassung als Dezentralisierung festgeschrieben ist, wird jedoch durch die Konservierung der Macht unterlaufen. Evo Morales könne sich nicht vorstellen, sein Amt als Präsident anderen zu übergeben. Diese Entwicklung könne man nicht nur auf äußere Einflüsse zurückführen. Auch in Nicaragua wäre eine andere Entwicklung möglich gewesen, hätte man der Arroganz der Macht frühzeitig etwas entgegengesetzt.

Liebel setzt nicht zuletzt Hoffnungen in die Frauenbewegung, die durch die Revolution mit angestoßen wurde. Die Frauen haben sich sehr früh in einer schnell wachsenden Gruppe organisiert, die sich in der FSNL nicht mehr repräsentiert fühlte, weil sie sich dem Diktat der Comandantes nicht unterwerfen wollte. Ortega hat die Frauen auf dem Altar geopfert, um wieder an die Macht zukommen, und seit 2006 versucht, die Frauenorganisationen zu zerschlagen, indem er sie wie auch andere NGOs als angebliche Staatsfeinde und Finanziers der Konterrevolution verfolgt. Heute gibt es diverse autonome Frauengruppen, die auch Teil der Protestbewegung und eine ihrer treibenden Kräfte sind. Es werde eine sehr lebendige Diskussion über ihre Rolle in der Bewegung geführt und ihre Bedeutung wachse von Woche zu Woche.

Wie anwesende Frauen aus Nicaragua berichteten, sei Ortega ihres Erachtens kein Linker und Sandinist mehr. Er habe aus dem Land ein Geschäft für sich und seine Familie gemacht. Dorthin zurückzukehren sei ein Traum, in dem man nicht mehr leben könne. Alle ihre Verwandten und Freunde seien auf Demonstrationen gewesen, wobei vielen egal sei, welche Partei später gewählt werde. Vordringlich sei, daß Nicaragua wieder ein Land werde, in dem man sicher leben könne.

Während El Salvador, Honduras und Guatemala seit Jahren die Mordlisten anführen, war Nicaragua bis vor kurzem stets ein Land mit einer vergleichsweise gewaltfreien und ruhigen Athmosphäre. Die Regierung brachte, vermutlich in enger Zusammenarbeit mit der DEA, das Drogenproblem weitgehend unter Kontrolle. Diese Situation dürfte dazu beigetragen haben, daß die wachsende Kritik an Ortega lange unter dem Deckel blieb. Viele Menschen hatten Angst, daß nach einem Sturz des Regimes Verhältnisse wie in den Nachbarländern einkehren könnten. Nun hat Ortega um seines Machterhalts willen die Büchse der Pandora geöffnet und der Protestbewegung den Krieg erklärt.

Die Bewegung fordert Ortega zum Rücktritt und Verlassen des Landes auf. Sie fordert ein Ende der Repression und die Freilassung der politischen Gefangenen. Sie verlangt ein Ende der Korruption, demokratische Institutionen und die Rückkehr zur ursprünglichen Verfassung. Die zumeist ältere deutsche Solidaritätsbewegung sollte sich bemühen, sie zu verstehen, von ihr zu lernen und sie zu unterstützen, was keinesfalls gleichbedeutend mit der Preisgabe linker Positionen wäre. Nach den abschließenden Worten Manfred Liebels ist das Scheitern von Revolutionen nicht als Naturgesetz zu verstehen. Die Gründe des Scheiterns können auch durchbrochen werden. Es gibt in Nicaragua viele Elemente, wo das geschehen ist, doch sind sie bislang unterlegen. Solidarität mit den Schwachen und Unterdrückten stärke ihre Unabhängigkeit, etwas Eigenständiges zu entwickeln.


Fußnoten:

[1] http://www.neues-deutschland.de/artikel/152336.revolution-als-farce.html

[2] http://www.gewerkschaftslinke.hamburg

[3] http://www.kitra-kindertraeume.org

Im Rahmen der Städtepartnerschaft zwischen Hamburg und León unterstützt die Senatskanzlei eine Ausstellung mit 30 Tafeln (Fotos und Texte) aus Nicaragua, die noch bis Ende September in der Haspa am Großen Burstah zu den normalen Geschäftszeiten zu sehen ist.

10. September 2018


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