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BERICHT/003: Überzeugungen, Minderheiten und kein Streitgespräch ... (SB)


Zu einem herzlosen und blutleeren Tibettreffen im Museum für Völkerkunde in Hamburg


Die Olympischen Spiele sind vorbei, und der Fokus der globalen Aufmerksamkeit wendet sich neuen Spektakeln zu. Schon der kurze, vom georgischen Präsidenten Michail Saakaschwili praktischerweise auf den Tag der Eröffnungsfeier in Peking gelegte Krieg in Georgien und das sich daran anschließende Zerwürfnis zwischen Rußland und den NATO-Staaten haben dafür gesorgt, daß die Karawane der Nachrichtenhändler weiterzog und neue Weidegründe aufsuchte. Für die Tibet-Aktivisten, denen die Olympischen Spiele eine ideale Gelegenheit waren, ihr Anliegen auf eine internationale Bühne zu hieven, bedeutete dies einen Rückfall in die relative Bedeutungslosigkeit, der diesem wie zahllosen anderen Minderheitenkonflikten dieser Welt im politischen Alltagsgeschäft zukommt, wenn sie nicht gerade für ganz andere Zwecke und Ziele großmächtiger Art instrumentalisiert werden.

Aktivisten im Foyer - © 2008 by Schattenblick

Aktivisten im Foyer
© 2008 by Schattenblick


Sicherlich auch um diesem Defizit Abhilfe zu schaffen, luden die Regionalgruppe Hamburg der Tibet Initiative Deutschland und das Tibetische Zentrum in der Hansestadt am Abend des 16. September zu einem Streitgespräch in das Völkerkundemuseum an der Hamburger Rothenbaumchaussee. So zumindest war das Ereignis im Newsletter des Tibetischen Zentrums ausgewiesen. Angesichts der im Vorfeld der Spiele hochgekochten Emotionen besteht kein Mangel an kontroverser Substanz, und bei allem Streben nach Harmonie, das Chinesen wie Tibetern sicherlich gleichermaßen eigen ist, kommt man vor der Lösung eines Konflikts nicht darum herum, die Klingen der Argumente zu kreuzen, um die Widerspiegelungen der Irreführung zu überwinden und den Dingen auf den Grund zu gehen.

Zweifel daran, daß es den Organisatoren des Abends tatsächlich um eine offene Debatte ging, in der die Chancen der Disputanten, ihre Sicht der Dinge angemessen zu vertreten, gleichmäßig verteilt gewesen wären, erweckte schon die Ankündigung auf der Webseite des Tibetischen Zentrums, laut der es bei der Diskussion um folgende Frage gehen sollte: "Wie kann die chinesische Führung dazu gebracht werden, das Tibetproblem in Verhandlungen mit dem Dalai Lama zu lösen und die Menschenrechte zu achten?" Die damit im Vorfeld vollzogene Eingrenzung der Problematik auf eine Bringschuld Pekings spricht nicht gerade für eine unvoreingenommene Ausrichtung des Podiums.

An der Gesprächsrunde nahmen Kelsang Gyaltsen, der seit 2002 als Sondergesandter des Dalai Lamas mit der Führung der Volksrepublik China einen Dialog führt und in dieser Funktion mehrmals zu Gesprächen in Peking war, der chinesische Journalist Shi Ming, der seit langem in der Bundesrepublik lebt und unter anderem für die Deutsche Welle arbeitet, und der Sinologe und Tibetkenner Andreas Gruschke von der Universität Leipzig teil. Moderiert wurde die Runde von dem freien Journalisten und Filmproduzenten Andreas Hilmer, der unter anderem für die ARD, die Zeitschrift GEO und die Wochenzeitung Zeit tätig war.

Entspannung im Gespräch - © 2008 by Schattenblick
Entspannung im Gespräch
© 2008 by Schattenblick


Schon diese Konstellation zeigte, daß die Kräfte höchst ungleich verteilt waren und im Sinne der Themenstellung vor allem tibetische Interessen repräsentierten. Kelsang Gyaltsen ist ein langjähriger Gewährsmann des Dalai Lamas, Shi Ming vor allem Kritiker der politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse in seinem Heimatland, und auch Moderator Andreas Hilmer kann nicht als neutrale Instanz gelten, hat der politische Referent des Tibet-Zentrums Hamburg doch in den letzten Jahren neben seiner publizistischen Tätigkeit auch dem Dalai Lama als PR-Berater zur Seite gestanden. Dieser wenn nicht ohnehin protibetischen, dann doch zumindest gegen die chinesische Führung eingestellten Meinungsphalanx stand mit Andreas Gruschke ein Wissenschaftler gegenüber, der bekannt dafür ist, die Rolle, die die großen Sammlungsbewegung der Tibetaktivisten in aller Welt in diesem Konflikt spielt, skeptisch zu betrachten und als häufig kontraproduktiv zu beurteilen. Einen Vertreter der chinesischen Regierung einzuladen, der die von Gyaltsen repräsentierte Position der exiltibetischen Regierung konterkariert und damit die Schräglage des Meinungspektrums ausbalanciert hätte, muß den Veranstaltern als zu riskantes Unterfangen erschienen sein.

Der Moderator konstatierte denn auch einleitend, daß das allgemeine Interesse am Thema Tibet stark nachgelassen hat. Dies wurde dadurch unterstrichen, daß das für mindestens 200 Personen ausgelegte Auditorium wilhelminischen Stils lediglich zu drei Vierteln besetzt war. Das ist angesichts der rund 45.000 Menschen, die vor einem Jahr den ausgedehnten Besuch des Dalai Lama in der Hansestadt zum Anlaß nahmen, einem der im Tennisstadion am Hamburger Rothenbaum angebotenen Vorträge des religiösen Führers der Gelug-Schule des Tibetischen Buddhismus zu lauschen, eine überaus bescheidene Resonanz. Offensichtlich sind das Interesse am eigenen Seelenheil und das Eintreten für andere Menschen selbst unter am Buddhismus interessierten Menschen zweierlei.

Nach einer kurzen Einleitung Hilmers unter Verweis auf angebliche neuerliche chinesische Repressalien am Dach der Welt, malte Gyaltsen die Geschichte Tibets seit dem Einmarsch der Volksbefreiungsarmee kurz nach dem Ende des chinesischen Bürgerkriegs 1949 in düsteren Farben. Er behauptete, daß infolge der Aufstandsbekämpfung der Chinesen in den letzten Jahrzehnten 1,2 Millionen Tibeter ums Leben gekommen wären - eine Angabe, die unter Historikern umstritten ist. Laut Gyaltsen sei es praktisch seit 1950 in Tibet viermal - in den fünfziger Jahren, während der Kulturrevolution Ende der sechziger Jahre, zwischen 1987 und 1989 sowie im vergangenen März - zu einer nationalen Erhebung gekommen. Die einfachen Chinesen, die bei den jüngsten Unruhen Verwandte oder ihre Geschäfte verloren haben, hätten zu dem von Gyaltsen entworfenen Geschichtsbild eines unbändigen tibetischen Freiheitswillens sicherlich eine andere Meinung gehabt.

Kelsung Gyaltsen - Abgesandter - © 2008 by Schattenblick
Kelsung Gyaltsen - Abgesandter
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Der Vertreter des Dalai Lamas erinnerte an die Verwüstung zahlreicher buddhistischer Klöster während der Kulturrevolution in China, um fast im gleichen Atemzug zu behaupten, in Tibet fände heute ein "kultureller Genozid" statt. Dieser drastischen Formulierung traten Gruschke und Shi entgegen. Ersterer führte die deutliche Hebung des allgemeinen Lebensstandards sowie den Ausbau der Infrastruktur und der Wirtschaft in Tibet an, während letzterer geltend machte, daß die übrige Volksrepublik ebenso unter der Kulturrevolution gelitten hätte. Darüber hinaus meinte Gruschke, Gyaltsen mißachte mit seiner Formulierung vom "kulturellen Genozid" die Leistungen, die die Tibeter selbst etwa beim Wiederaufbau von Klöstern in den letzten Jahren erbracht hätten.

Der Sinologe versuchte zudem, dem demagogischen Charakter des Begriffs mit der Anmerkung den Wind aus den Segeln zu nehmen, daß es nicht ein Tibetproblem, sondern viele Probleme in Tibet gibt. Dieser vermeintlich geringfügige terminologische Unterschied repräsentiert zwei kaum miteinander vereinbare Sichtweisen: Das "Tibetproblem" schlägt ein komplexes Geschehen mit zahlreichen beteiligten Akteuren über den gleichermaßen pauschalisierenden und verabsolutierenden Leisten eines Bezichtigungskonstrukts, für das es nur Opfer, "die Tibeter", und Täter, "die kommunistische Führung Chinas", gibt. Die "vielen Probleme in Tibet" werden dem Geschehen in seiner Komplexität gerecht, indem erst einmal von jeder Polemik Abstand genommen wird, um allen von dem Problem Betroffenen die Chance zu geben, sich auf angemessene Weise einzubringen.

Wie wichtig es ist, die divergierenden Interessen zur Kenntnis zu nehmen, bevor man die Durchsetzung vorgefaßter Urteile betreibt, zeigt schon die Tatsache, daß der von Exiltibetern erhobene Anspruch, die als Autonomes Gebiet Tibet bezeichnete Verwaltungseinheit der Volksrepublik China umfasse lediglich die Hälfte des tibetischen Kulturraums, im Zusammenhang mit dem Vorwurf des kulturellen Genozids eine höchst explosive Gemengelage ergibt, wird dieser Großraum doch von zahlreichen Han-Chinesen sowie Mitgliedern anderer nationaler Minderheiten bevölkert.

Andreas Gruschke - Landesexperte - © 2008 by Schattenblick
Andreas Gruschke - Landesexperte
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Dementsprechend vertritt Gruschke die Ansicht, daß das, was die Exiltibeter als "Chinesisierung" geißelten, in erster Linie eine Anpassung an die Modernität darstellt, die im Zeitalter der Globalisierung an keinem Land spurlos vorbeigehe. Des weiteren macht er geltend, daß es in der Regel Tibeter selbst seien, die tibetisches Agrarland oder Immobilien in der Hauptstadt Lhasa an chinesische Bauern respektive Lädenbetreiber verkauften, vermieteten oder verpachteten. Der Wissenschaftler stellte seinen Sinn für eine lebendige Debattenkultur unter Beweis, indem er die Anbiederungsversuche, mit denen Bundeskanzlerin Angela Merkel und der hessische Ministerpräsident Roland Koch den Dalai Lama für sich vereinnahmten, mit der Bemerkung quittierte, der tibetische Führer lasse sich durch die deutsche Politik ausbeuten. Leider verebbte auch dieser Versuch, eine Kontroverse in Gang zu bringen, an der freundlich alle Klippen des Streits umschiffenden Gesprächsführung.

Shi Ming wählte einen interessanten Einstieg in das Gespräch, indem er die Ökonomisierung der gesamten Gesellschaft der Volksrepublik einschließlich Tibets hervorhob. Seiner Ansicht nach müsse man den Konflikt sehr viel mehr in den Kontext der Globalisierung stellen, um ihn angemessen beurteilen zu können. Zudem verwies er auf die geopolitische und wirtschaftliche Bedeutung, die Tibet für China habe. Demnach sei das Gebiet für die Volksrepublik nicht nur wegen seiner strategischen Lage im Verhältnis zur eurasischen Landmasse, sondern auch wegen der dort zu erschließenden natürlichen Ressourcen - Wasser, Mineralien, Edelmetalle - von elementarer Wichtigkeit.

Der Journalist zeichnete das Bild einer trotz aller unbestreitbaren ökonomischen Erfolge zutiefst verunsicherten chinesischen Gesellschaft, deren Mittelschicht praktisch nur eine bereits absehbare Wirtschaftskrise vom Sturz in die Barbarei einer faschistoiden Entwicklung entfernt sei. Wiederholt verwendete er den der NS-Ideologie entlehnten Begriff des "Lebensraums", um die angeblich expansionistischen Interessen der Führung in Peking und die Befindlichkeiten des um den Erhalt seines Wohlstands besorgten, sozial arrivierten chinesischen Bürgertums zu illustrieren. Ausgehend von den existentiellen Ängsten dieser vom wirtschaftlichen Aufschwung des Landes profitierenden Schicht propagierte Shi die Theorie einer auf Basis angeblich irreführender Annahmen geopolitischer und ökonomischer Art für nationalistische Ziele agitierten chinesischen Mittelschicht, die quasi zum Zwecke des Machterhalts der kommunistischen Führung gegen nationale Minderheiten wie die der Tibeter in Stellung gebracht werde.

Sein Versuch, das Bemühen der Pekinger Regierung, die innere Kohäsion der chinesischen Gesellschaft gegen den fortschreitenden sozialen Zerfall, der aus der im Übergang vom Staats- zum Privatkapitalismus befindlichen Wirtschaftsordnung des Landes resultiert, mit einem faschismustheoretischen Ansatz in Mißkredit zu bringen, krankt seinerseits an der Ausblendung realpolitischer Antagonismen, durch die die Führung des bevölkerungsreichsten Landes der Welt herausgefordert wird. So kann dem Exilchinesen kaum entgangen sein, daß die strategischen Planer der Bundesregierung längst keine Berührungsängste mehr zeigen, wenn es um die Frage der militärischen Sicherung von Ressourcen geht, die in den Hoheitsgebieten anderer Staaten lagern und für die deutsche Wirtschaft als "lebensnotwendig" erachtet werden. Die mit dem Schlagwort des "Lebensraums" gemeinte räuberische Legitimationsstrategie findet im US-Präsidenten George W. Bush exemplarischen Widerhall, hat er doch die blutigen Eroberungskriege im Irak und in Afghanistan nebst ihren Auswirkungen auf die Demontage wichtiger Bürgerrechte im eigenen Land wiederholt und ausdrücklich mit der Verteidigung des US-amerikanischen Lebensstils begründet.

Shi Ming - Journalist - © 2008 by Schattenblick
Shi Ming - Journalist
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In Zeiten des Klimawandels, der verebbenden Öl- und Gasreserven, des Artensterbens und des anhaltenden Bevölkerungswachstums auf dieser Erde treibt die Ressourcenfrage nicht nur Chinas politische Verantwortungsträger um. Daß Shi die Bedrohung, die dem Land aus dem Vordringen der NATO in Zentralasien erwächst, praktisch als paranoide Einbildung bewertet, mit der die eigenen expansiven Absichten überspielt würden, paßt zwar ins Bild dieses in seiner zugrundeliegenden Stoßrichtung antikommunistischen Deutungsansatzes, kann jedoch niemanden überzeugen, der sich mit den geostrategischen Fragen dieser so wichtigen Region wie den Interessenkonflikten zwischen China und den USA beschäftigt.

Indem Shi die andauernde Ausgrenzung und Armut der chinesischen Bauern und Wanderarbeiter anprangert, adressiert er den zentralen sozialen Widerspruch der Gesellschaft Chinas, der einst den Aufstieg der Kommunistischen Partei des Landes bewirkt hat. Wie diesem Mißstand vor dem Hintergrund der drängenden Probleme, die aus dem ökonomischen Aufstieg des Landes zu einer der führenden Wirtschaftsmächte der Welt resultieren, entgegengetreten werden soll, darauf hat die kapitalistische Doktrin keine Antwort. Sie ist, ob unter zentralistischer Regie oder als marktwirtschaftliches System umgesetzt, Teil des Problems und nicht seiner Lösung, wie der soziale Niedergang von Millionen Menschen in hochentwickelten kapitalistischen Staaten wie den USA belegt.

Die von Shi sicherlich nicht in der Absicht, Kapitalismuskritik zu üben, aufgeworfene soziale Frage hätte man gerade auch in ihrer Relevanz für Tibet gerne weiterverfolgt. Hier wäre die soziale Verantwortung einer religiösen Führung Thema gewesen, deren klerikalfeudalistische Geschichte in krassem Widerspruch zur sozialethischen Botschaft des Buddhismus steht. So wird bei der hierzulande betriebenen Dämonisierung der chinesischen Führung kaum jemals gefragt, in welchem Zusammenhang die heutige Situation in Tibet zum Aufbruch der chinesischen Revolution steht, die schließlich nicht aus heiterem Himmel erfolgte, sondern sich gegen menschenfeindliche Formen der Ausbeutung und Unterdrückung schlimmster Art wie gegen die Unterwerfung des Landes durch kolonialistische Interessen richtete.

Auch wenn der Dalai Lama inzwischen von der Forderung nach vollständiger Unabhängigkeit Tibets abgerückt ist, gehen die Autonomievorstellungen des Friedensnobelpreisträgers und seiner Anhänger weit über das hinaus, was man sich hierzulande vorstellt, wenn es um tibetische Autonomieforderungen geht. Die Gruppe um den Dalai Lama meint damit auch Regionen in anderen chinesischen Provinzen, so daß die Volksrepublik bei der in Peking befürchteten Verselbständigung weitgehender Autonomierechte zur vollständigen Sezession mehr als die Hälfte seines Staatsgebiets verlöre.

Leider blieb an diesem Abend unklar, wie die von den Exiltibetern verlangte Autonomie aussehen soll und inwiefern sie von den Sonderrechten abwiche, die der im Autonomen Gebiet Tibet einheimischen Bevölkerung bereits gewährt werden. Auf die nach Ende des Podiumsgesprächs vom Schattenblick aufgeworfene Frage nach der konkreten Verhandlungsposition, die die Vertreter der chinesischen Führung bei den Gesprächen der letzten Jahre einnehmen, antwortete Gyaltsen, daß sie keine hätten, sondern seine Verhandlungsdelegation stets mit der Behauptung abspeisten, daß in Tibet alles in bester Ordnung sei.

Man war sich zum Schluß weitgehend einig, daß es wohl kaum zu einer baldigen Einigung zwischen dem Dalai Lama und der chinesischen Führung - selbst wenn eine wie auch immer geartete Kompromißlösung dem Ansehen der Volksrepublik im Westen nützte - kommen wird. Shi macht dafür den chinesischen Nationalismus verantwortlich, Gyaltsen den fehlenden Verhandlungswillen, gepaart mit Kolonialisierungabsichten der chinesischen KP, Gruschke eine Verhärtung der Haltung Pekings angesichts des massiven Hochspielens des Themas Tibet durch die Antichinalobby im US-Kongreß und anderswo.

Dessen Frage danach, wieviel Rückhalt der Dalai Lama, der lediglich eine Führungsfigur einer der vier Hauptlinien des tibetischen Buddhismus ist, unter den Tibetern in Tibet verfügt, konnte ebensowenig weiterverfolgt werden wie andere lose Enden, an die der aufmerksame Zuhörer gerne angeknüpft hätte. Nach knapp zwei Stunden eines Gesprächs, das vor allem aus längeren Monologen der Teilnehmer bestand und niemals auch nur in die Nähe eines Streitgesprächs geriet, drängte der Moderator auf das Ende der Veranstaltung. Die im Vorfeld angekündigte Einbeziehung des Publikums durch Fragen an die Podiumsteilnehmer wurde nach zwei kurzen Wortbeiträgen mit dem Verweis abgebrochen, man könne die einzelnen Referenten anschließend noch einmal persönlich ansprechen.

SB-Redakteur Stefan Kroll mit Andreas Gruschke - © 2008 by Schattenblick
SB-Redakteur Stefan Kroll mit Andreas Gruschke
© 2008 by Schattenblick


Andreas Gruschke hat sich dem Schattenblick für einige ergänzende Fragen zur Verfügung gestellt. Der insgesamt ins Oberflächliche und Pauschale tendierende Diskurs konnte den landeskundigen Geographen und Sinologen kaum zufriedenstellen. Er wollte sich allerdings nicht auf den die Veranstaltung dominierenden "großen, allgemeinen Level begeben", weil ihm dieser als "etwas zu spekulativ erscheint".

Immerhin konnte Gruschke trotz des plakativen, gar nicht für eine tiefergreifende und umfassende Analyse vorgesehenen Charakters der Veranstaltung deutlich machen, "daß es auf jeden Fall einen Prozeß geben muß, in dem die Tibeter und die Chinesen wieder das Sagen haben". Der Sinologe geht davon aus, daß sich die Tibeter, vor allem die im Exil lebenden Aktivisten, "das Heft aus der Hand haben nehmen lassen, weil sie sich zu sehr auf eine Unterstützerszene verlassen". Hier unterließ es der Wissenschaftler nicht, auf Finanzierungen der aus zahlreichen Einzelpersonen und Gruppen bestehenden Unterstützerszene durch die vom US-Kongreß eingerichtete Stiftung National Endowment for Democracy (NED) zu verweisen, ein, wie spätestens seit der Verwicklung des NED in die bunten Revolutionen Osteuropas bekannt, regelrechtes Sturmgeschütz jener Demokratisierung, die unter anderem im Irak als Vorwand zur Führung eines Angriffskriegs mißbraucht wurde. Gleichzeitig bekannte Gruschke jedoch, einen solchen Verweis auf die Instrumentalisierung der Tibet-Lobby "in einem solchen Rahmen" nicht zu sehr in den Mittelpunkt stellen zu wollen.

Gruschke macht keinen Hehl aus seinem Ärger über die einseitige Parteinahme, mit der die chinesische Seite an den globalen Pranger gestellt wird. Dieser "Schwenk in ein Extrem, der nichts erklärt und auch nicht wirklich irgendwas bewegt", wird in der Bundesrepublik zwar von einigen Leute kritisiert, der Sinologe vermittelt jedoch ein eher pessimistisches Bild von der hiesigen Meinungslandschaft. Für die Wissenschaft gelte zwar, daß man durchaus "sehr viel differenzierter" zu Werke gehe, viele meldeten sich jedoch nicht zu Wort. Gruschke vermutet, daß dies "auch mit den Umstrukturierungen zu tun habe, so daß es eine generell stärkere Tendenz gibt, sich sozusagen auf den wissenschaftlichen Bereich zurückzuziehen", sich also nicht auf eine Weise zu exponieren, die die ohnehin problematische Existenzsicherung im Wissenschaftsbereich zusätzlich belastet. Insbesondere das "vierbuchstabige, sich Zeitung nennende Blatt" macht Gruschke für den plakativen Stil verantwortlich, mit dem die Anprangerung Chinas medial umgesetzt wurde.

Demgegenüber ständen durchaus Interessen der Bundesrepublik auf dem Spiel, wie Gruschke auf Frage des Schattenblicks unter Verweis auf den deutsch-chinesischen Rechtsdialog bestätigte, der unter der Regierung Schröder auf den Weg gebracht wurde. Immerhin habe dieser bewirkt, daß man das Rechtsstaatsprinzip in der chinesischen Verfassung verankert habe. Wie soll man sonst damit beginnen, das vielfach beklagte Problem der Menschenrechtsverletzungen in China anzugehen, als mit einem gesetzgeberischen Akt? Bundeskanzlerin Merkel hat Gruschkes Ansicht nach "nur auf die innenpolitische Dalai Lama-Anhängerschaft gezielt", hat die letztjährige Begrüßung des Dalai Lamas im Bundeskanzleramt doch bewirkt, daß alle Zusammenarbeit auch im Bereich des wissenschaftlichen Austauschs und des Rechtsdialogs erst einmal abgebrochen wurde, was den um ein sachliches Urteil und einen produktiven Dialog bemühten Wissenschaftler sichtlich erbost. Ein ausführlicher, die gebotene Präzision und Tiefe einer kritischen Analyse leistender Artikel des Sinologen zum Konflikt um Tibet kann zur Vervollständigung der Thematik im Schattenblick (Infopool/Politik/Ausland/Asien/544) studiert werden.

Museum für Völkerkunde, Hamburg - © 2008 by Schattenblick
© 2008 by Schattenblick



23. September 2008