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BERICHT/022: Deutschland und Israel - Protestkundgebung in Berlin, Teil 1 (SB)


Demonstration gegen die deutsch-israelische Kabinettssitzung in Berlin am 30. November 2009

Das Verhältnis zwischen Deutschland und Israel ist nicht so kompliziert, wie es häufig erscheint. Was an ihm schwierig, unüberschaubar und prekär wirkt, ist das Ergebnis doppelten Vergessens. Ignoriert werden die Lehren, die sich aus Auschwitz als Verpflichtung zur Verteidigung universaler Menschenrechte ergeben, indem die eigene Schuld an der Vernichtung der europäischen Juden auf herrschaftsförmige Weise verarbeitet wird. Der aggressive Antikommunismus der frühen BRD ermöglichte es, schon kurz nach der Katastrophe des Zweiten Weltkriegs zahlreiche NS-Funktionäre in zum Teil höchste Regierungsämter zu hieven. Die zumindest teilweise erfolgte Aufarbeitung dieser Phase der BRD-Geschichte schlägt jedoch in ein weiteres Vergessen um, nämlich das der deutschen Verantwortung für die Katastrophe des Zweiten Weltkriegs und die daraus erwachsende Verpflichtung, daß niemals wieder von deutschem Boden Krieg ausgehen soll.

Verantwortlich für die fortgesetzte Umwertung aller Werte sind ausgerechnet ehemalige Linke wie der frühere Außenminister Joseph Fischer, der es fertigbrachte, ein Opfer der NS-Kriegsmaschinerie wie Jugoslawien mit der aberwitzigen Begründung bombardieren zu lassen, daß damit ein zweites Auschwitz verhindert werden solle. Die Nutzung der persona Hitlers zur Rechtfertigung imperialistischer Kriege zeugt von einer hochgradigen Amnesie gerade derjenigen, die in Anspruch nehmen, die Definitionsmacht über die aus der jüngeren deutschen Vergangenheit zu ziehenden Lehren zu besitzen.

So hat sich eine Kontinuität des Vergessens herausgebildet, die in die interessenpolitisch begründete Unterstützung israelischer Regierungen mündet, welche als Besatzungsmacht Menschen- wie Völkerrecht notorisch verletzen. Schon die Rückendeckung, die Israel durch die Bundesregierung 2006 bei der Bombardierung des Libanon gewährt wurde, war Ergebnis des gezielten Wegschauens der politischen Verantwortungsträger. Wo in anderen Konflikten, in denen die Produktion interventionistischer Vorwandslagen zweckopportun ist, zwecks Ausblendung grundlegender geostrategischer Faktoren krampfhaft auf das einzelne Kriegsverbrechen und Menschenrechtsvergehen gestarrt wird, wurde beim Überfall Israels auf Gaza mit der gleichen zweckbezogenen Entschiedenheit weggeschaut.

Die vorbehaltlose Unterstützung Israels durch die Bundesregierung hat mit der Festlegung der Bundeskanzlerin Angela Merkel auf Israels Sicherheit als Bestandteil der deutschen Staatsräson eine neue Qualität doktrinärer Apologetik erreicht. Nicht, daß sich darüber streiten ließe, was genau mit Israels Sicherheit gemeint ist. Die Erkenntnis, daß die Existenz dieses Staates durch die aggressive Durchsetzung der zionistischen Agenda am meisten bedroht wird, bleibt israelischen Oppositionellen und jüdischen Kritikern Israels in aller Welt vorbehalten. Für die deutsche Regierung hat eine solche Sichtweise den Stellenwert eines antisemitischen Affronts, frönt sie doch den eigenen Großmachtinteressen auch dadurch, daß sie Israel als modernes Sparta hofiert und die sozialistische Tradition seiner Gründergeneration ignoriert.

Das Verhältnis zwischen Deutschland und Israel ist von dem beiderseitigen Interesse geprägt, sich im Kampf um die knapper werdenden Lebensressourcen gewaltsam durchzusetzen. Die Bundesrepublik hat den Konflikt mit dem Iran erfolgreich zum Sprungbrett eigener Großmachtambitionen gemacht, indem sie den Schulterschluß mit Israel und den USA gesucht und dadurch einen in diesem Fall fast gleichrangigen Status mit den Vetomächten des UN-Sicherheitsrats erlangt hat. Sie hat Israel mit hochentwickelten U-Booten versorgt, die atomar bestückte Lenkwaffen abfeuern können. Auf diese Weise hat die Bundesrepublik dem militärischen Giganten Israel zur nuklearen Zweitschlagkapazität und damit einem erheblichen strategischen Erpressungspotential verholfen. Sie hat den Libanonkrieg 2006 dazu genutzt, sich militärisch in unmittelbarer Nähe Israels zu positionieren, und zwar nicht, um die Libanesen vor einer weiteren Aggression ihres südlichen Nachbarn zu schützen. Sie arbeitet im sogenannten Globalen Krieg gegen den Terrorismus der von den USA betriebenen Neuordnung des Nahen und Mittleren Ostens zu, die für die Bevölkerungen der betroffenen Staaten schwerwiegende Folgen hat und als mittelbare Unterstützung des israelischen Siedlerkolonialismus zu verstehen ist. Diese zeigt sich auch darin, daß die Bundesrepublik in der Vollversammlung der Vereinten Nationen gegen die weitere Behandlung des Goldstone-Reports gestimmt hat, obwohl es sich um einen betont ausgeglichenen, die Aufklärung der Menschenrechtsvergehen beider Seiten fordernden Bericht handelt.

Das Verhältnis zwischen Deutschland und Israel ist mithin von machtpolitischen Interessen bestimmt, die es verbieten, die aus dem Holocaust in Form universaler Rechte gezogenen Lehren auf alle Menschen ohne Anschauung ihrer Hautfarbe, Nationalität und Religion anzuwenden. Wenn das Problem der Bundesregierung, wie häufig unterstellt, tatsächlich darin bestünde, daß sie aus historischen Gründen keine wirksamen Maßnahmen zur Konfliktlösung in Palästina treffen kann, dann könnte sie sich auf die zahlreichen Bürger Israels wie Juden in aller Welt berufen, die die Besetzung der Palästinensergebiete als illegal verurteilen und fordern, daß der Konflikt nach Maßgabe des UN-Teilungsbeschlusses und der folgenden UN-Resolutionen beendet wird. Da dem nicht so ist, kann sich die Bundesregierung schwerlich dem Vorwurf entziehen, in diesem Konflikt auf eine Weise Partei zu ergreifen, mit der sie sich mitschuldig an den Verbrechen macht, die an den Palästinensern begangen werden.

Daher besteht, wenn zum zweiten Mal ein gemeinsames Kabinettstreffen der deutschen und der israelischen Regierung in Berlin, dem organisatorischen Zentrum der Judenvernichtung und Kriegführung des NS-Regimes, geplant ist, aller Grund, die Mißachtung der Palästinenser und das systematische Vergessen, ohne das ihre Unterdrückung zumindest nicht auf so eklatante Weise erfolgen könnte, anzuprangern. Dies sollte am 30. November in Form gleich zweier Demonstrationen erfolgen. Obwohl die Kabinettsitzung, angeblich wegen einer Grippe des israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu, kurzfristig abgesagt wurde, fanden die Protestkundgebungen statt.

Die von der Friedensbewegung organisierte Veranstaltung wurde von mehreren Organisationen wie AK Nahost Berlin, ISM-Germany, Jüdische Stimme für gerechten Frieden in Nahost e.V. - EJJP Deutschland und dem Nahostkomitee in der Berliner Friedenskoordination (Friko) unterstützt. Man traf sich in unmittelbarer Nähe des Eingangsbereichs des Bundeskanzleramts und führte dort, flankiert von einigen Polizisten, eine Kundgebung durch.

Auch wenn die Absage des gemeinsamen Kabinettstreffens sicherlich dazu beigetragen hat, daß nur relativ wenige Menschen die Gelegenheit nutzten, Solidarität mit den Palästinensern zu bekunden, so reflektiert die kleine Zahl von Demonstranten das zwischen Israelis und Palästinensern herrschende Gewaltverhältnis auf recht authentische Weise. Um so entschiedener waren die anwesenden Aktivistinnen und Aktivisten in ihren Forderungen. Auf Transparenten und in Ansprachen machten sie deutlich, daß die Beendigung der Blockade Gazas so überfällig ist wie das Ende der israelische Besatzungspolitik. Auch die deutschen Rüstungsexporte nach Israel waren Gegenstand der Kritik, dabei insbesondere die Lieferung weiterer Dolphin-U-Boote und hochmoderner Kriegschiffe, die die Kriegsgefahr in Nahost weiter anheizen.

Im Gespräch mit einzelnen Aktivistinnen und Aktivisten wurde deutlich, daß die Rolle der Bundesrepublik in diesem Konflikt durchaus als Mittel des Erreichens ganz anderer politischer, wirtschaftlicher und militärischer Ziele verstanden wird. So meinte ein palästinensisches Mitglied des AK Nahost Berlin, daß die Regierungen schon deshalb an einer Eskalation der Situation in Nahost interessiert sind, weil so verhindert werden kann, daß in der EU Forderungen nach mehr Demokratie und besseren wirtschaftlichen Verhältnissen erhoben werden. Seiner Ansicht nach hat die Politik der westlichen Welt im Nahen und Mittleren Osten direkte Auswirkungen auf die fortschreitende Verschärfung staatlicher Repression in der EU, was von den linksliberalen bürgerlichen Kräften in Deutschland nicht wahrgenommen werde.

Der palästinensische Aktivist verlangt, daß es über die gelegentliche Kritik etwa am israelische Überfall auf Gaza hinaus zu einem grundsätzlichen und permanenten Engagement in der Konfliktlösung kommt, so daß die Bundesbürger bei der Aufarbeitung ihrer eigenen Geschichte nicht die Rechte der Palästinenser mißachteten. Seiner Ansicht nach wird die Bedeutung des Nahostkonflikts für die Bevölkerungen der arabischen wie islamischen Welt hierzulande weithin unterschätzt. Die "Narrenfreiheit", die Israel bei der gewaltsamen Durchsetzung seiner Ziele gewährt würde, belege die doppelten Standards westlicher Politik, die ihrer Glaubwürdigkeit insgesamt schadeten.

Bezeichnend für den beklagenswerten Zustand der Linken in der Bundesrepublik ist die Aussage der Aktivistin Sophia Deeg, daß sich die Solidarität mit den Palästinensern unter den linken und sozialen Bewegungen in anderen europäischen Ländern einer breiten Basis erfreut. Auch seien palästinensische Organisationen selbst in sozialen Bewegungen engagiert, so daß man dort wie selbstverständlich von einer allgemeinen Solidarität der Linken ausgehen könne. Nur in Deutschland weigerten sich selbst antirassistische Organisationen, die berechtigten Forderungen der Palästinenser anzuerkennen. Wann immer Deeg mit Linken oder Gewerkschaftern aus dem Ausland in der Bundesrepublik zusammentreffe, erlebe sie, daß diese vom Ausmaß linker Ignoranz gegenüber den Palästinensern regelrecht schockiert seien. Ihrer Ansicht nach resultiert die Schwäche der deutschen Palästinasolidarität nicht aus dem Engagement für die Opfer des Holocaust, sondern aus besonders tiefsitzendem Opportunismus. Dies sei derselbe Opportunismus, aufgrund dessen die Naziherrschaft in Deutschland selbst in ihrer Brutalität von der Bevölkerung unterstützt worden sei. Deeg beklagte den Mangel an Empathie und das fehlende persönliche Gefühl dafür, daß Menschenrechtsverletzungen, wo immer sie stattfinden, als ganz persönliche Angelegenheit betrachtet werden.

Eine in Deutschland lebende italienische Aktivistin bestätigt die Erfahrungen Deegs auf ganzer Linie. Sie erlebe bei jugendlichen Autonomen, mit denen sie viel Kontakt habe, eine merkwürdige Gespaltenheit. In ihrem Kampf gegen imperialistische Praktiken, gegen die sie etwa in lateinamerikanischen Ländern zu Felde ziehen, hätten die Palästinenser keinen Platz. Obwohl sich die Jugendlichen an anderer Stelle für die Ausgebeuteten und Unterdrückten einsetzten, blendeten sie das Schicksal der Palästinenser vollständig aus, als ob man sie einer Gehirnwäsche unterzogen hätte.

Gefragt nach ihrem Eindruck von der Politik der Palästinensischen Autonomiebehörde in Ramallah vertritt Sophia Deeg, die sich im Jahr 2002 während der israelischen Besetzung der Stadt und der Belagerung des Regierungssitzes des damaligen palästinensischen Präsident Jassir Arafat als menschlicher Schutzschild für die Bevölkerung einsetzte, ein recht entschiedenes Urteil. Die PA vertrete "vollständig israelische Interessen, die zugleich ihre eigenen Interessen sind, nämlich die Interessen dieser Clique, die dort Privilegien genießt, weil diese Privilegien ihr von Israel gewährt werden und auch von der deutschen Regierung, die für die Bewaffnung der herrschenden Kräfte in Palästina sorgt. Diese Bewaffnung wird eingesetzt gegen den palästinensischen Widerstand, gegen palästinensische Linke und gegen die Bevölkerung, gegen jeden, der sich dort politisch artikuliert."

Auf die Frage nach der Rolle der Hamas gibt Deeg das Urteil palästinensischer Linker wieder, die deren Funktionären zumindest attestieren, nicht so korrumpierbar zu sein wie die Vertreter der Fatah. Sie hätten durchaus versucht, eine den Bürgern gerecht werdende Politik zu betreiben, was allerdings von dem internationalen Boykott torpediert worden wäre. Allerdings hätte die Hamas, das gehe aus Äußerungen von Palästinensern in Gaza hervor, unter dem ungeheuren Druck, der dazu geführt hat, daß Palästinenser auf Palästinenser losgegangen sind, auch üble Verbrechen an eigenen Landsleuten begangen und begeht sie wahrscheinlich immer noch. Deeg erinnert daran, daß die Hamas Israel mehrere Waffenstillstandsvereinbarungen angeboten und diese auch eingehalten hat. [Zur Vorgeschichte des Gaza-Überfalls siehe auch unter INFOPOOL -> POLITIK -> AUSLAND - NAHOST/500: Warum der Waffenstillstand scheitern mußte (AWIS)]

Wie mehreren Spruchbändern zu entnehmen, ist die andauernde Blockade Gazas nach wie vor ein zentraler Anlaß, Solidarität mit den Palästinensern in dieser desolaten Situation zu üben. Gerade an diesem Beispiel tritt der moralische Bankrott der mit Israel verbündeten Staaten hervor. Spätestens nach dem Überfall auf Gaza, der zu einem Massaker an einer Bevölkerung ausartete, die nicht einmal über Schutzräume verfügt und die vor allem das angegriffene Gebiet nicht verlassen konnte, wäre die Aufhebung dieser zur Isolation und Demontage der Hamas-Regierung mit internationaler Gutheißung durchgeführten Maßnahme erforderlich gewesen. Dennoch bleibt die mit Unterstützung Ägyptens erfolgende Einschließung der Bewohner Gazas in ein de facto-Freiluftgefängnis, in dem Hunger und Not herrschen, aufrechterhalten. Dieser Skandal hat sich zu einer Fußnote der internationalen Politik entwickelt, über die kaum mehr verhandelt wird, weil es in den Augen der dafür verantwortlichen Politiker offensichtlich Menschen mit unterschiedlicher Lebensberechtigung gibt.

So werden Aktivisten, die sich für die Anwendung spürbarer Sanktionen im Rahmen der BDS-Kampagne gegen Israel einsetzen, um die israelische Regierung zu Zugeständnissen an die Palästinenser zu nötigen, hierzulande des Antisemitismus bezichtigt. Die mehrjährige Aufrechterhaltung eines Mangelregimes, unter dem eine überwiegend aus Kindern und Jugendlichen bestehende Bevölkerung leidet, wird hingegen auf keinen gleichwertigen Begriff gebracht. Dabei hält die politische Begründung für eine Sanktionspolitik, deren menschenfeindlicher Charakter bereits am Beispiel des Irak zu studieren war, den in Anspruch genommenen Werten westlicher Demokratien nicht im mindesten stand. Um so deutlicher wird, daß der diesem Konflikt inhärente Widerspruch, wenn nicht ohnehin kriegerische, dann zumindest ökonomische Gewalt unterschiedslos gegen Palästinenser jeden Alters und Geschlechts auszuüben, während wirksame Kritik daran unter Gesinnungsverdacht gestellt wird, dazu dient, den barbarischen Kern imperialistischer Politik vergessen zu machen.

Gegen Ende der Protestkundgebung wurde zur Vorbereitung und Unterstützung des Gaza Freedom Marchs aufgerufen. Bei dieser Aktion wollen hunderte von Aktivisten verschiedener Organisationen zum Jahrestag des Überfalls auf Gaza in das Gebiet gelangen, um von dort aus mit einem Marsch hunderttausender Menschen zum Grenzübergang Erez die Blockade zu beenden. Mit dieser gewaltfreien Aktion des zivilen Ungehorsams soll zumindest die internationale Aufmerksamkeit auf die fortgesetzte Blockade Gazas und die desolaten Folgen dieser Aushungerungspolitik gelenkt werden (siehe www.gazafreedommarch.org).

Zum Abschluß spielt der israelische Friedensaktivist Reuven Moskovitz ein israelisches Friedenslied auf seiner Mundharmonika. Man wird es im Bundeskanzleramt nicht gehört haben, und das nicht, weil die Schar am Rande des riesigen Baus zu klein gewesen wäre, als daß man sie hätte wahrnehmen können.

Während der Protestveranstaltung beantwortetet der 81jährige Friedensaktivist Reuven Moskovitz dem Schattenblick einige Fragen. Der in Rumänien geborene Moskovitz überlebte den Holocaust und verhalf nach dem Krieg anderen Juden zur Flucht nach Palästina. 1947 emigrierte er selbst aus Rumänien, war in der Kibbuzbewegung aktiv und engagierte sich frühzeitig für Frieden mit den Palästinensern. Nach dem 1967er-Krieg wurde er Sekretär der damals gegründeten Bewegung für Frieden und Sicherheit, 1970 gründete er zusammen mit dem Mönch Bruno Hussar das arabisch-jüdische Friedensdorf Newe Schalom - Wahat al Salam. Seit 1974 ist Moskovitz im Rahmen seiner Friedensarbeit regelmäßig in Deutschland, wo ihm 2003 der Aachener Friedenspreis verliehen wurde.

Reuven Moskovitz

Reuven Moskovitz

Schattenblick: Herr Moskovitz, Sie haben sicherlich erfahren, daß die Stadt München vor kurzem versucht hat, einen Vortrag des israelischen Historikers Ilan Pappe zu verhindern.

Reuven Moskovitz: Ja, ich kenne ihn sehr gut, und was er schreibt, habe ich mit eigenen Augen gesehen. Ich finde es unverschämt, daß es hier in Deutschland Christen und Demokraten gibt, die behaupten, daß Ilan Pappe lügt, denn das stimmt nicht. Tatsächlich lügt die israelische Politik seit der Staatsgründung. Leider betreibt Israel, und darüber bin ich zutiefst traurig, keine Friedenspolitik. Doch das Schlimmste daran ist, daß Deutschland dabei mitmacht. Dieses Land hat so viel Schlimmes durch Nationalismus und Krieg erlebt, und dennoch findet es dieser Staat richtig, unsere Kriegstreiber und nicht unsere Friedensmenschen zu unterstützen

Mir hört man nicht zu, ich wende mich immer wieder an Zeitungen, aber die wollen meine Texte nicht veröffentlichen. Vor kurzem habe ich einen Artikel mit dem Titel "Juden und Deutschen zwischen aufgeklärter und verklärender Symbiose" geschrieben. Die aufgeklärte Symbiose ist unter dem Nationalsozialismus vernichtet worden, und heute herrscht die verklärte Symbiose vor. Die Bundeskanzlerin hat einen verklärten Blick auf Israel und redet von Staaträson, obwohl ein demokratischer Staat nicht mit einem Staat über Staatsräson reden kann, dessen einzige Staatsräson darin besteht, wie man den nächsten Trick plant. Ich bin zutiefst traurig, daß ich das sagen muß, aber das ist die Wahrheit, und Gottseidank kann man in Deutschland und auch in Israel noch diese Wahrheit sagen.

SB : Sehen Sie die Zukunft dieses Konflikts eher pessimistisch?

RM: Die Zukunft kann positiv sein, man muß nur aus der aussichtslosen Politik aussteigen. Das ist das Problem. Noch gibt es die Möglichkeit, den Weg zu wählen, den die Gründer der Bundesrepublik eingeschlagen haben, indem sie forderten, daß man aufhören müsse, von Erzfeinden zu sprechen und nach Revanche zu verlangen. Wir müssen verstehen, daß wir das fast Unglaubliche erreicht haben, daß die ganze arabische Welt bereit ist, Israel in den Grenzen von 1967 anzuerkennen, was eigentlich auch nicht legitim ist. Wenn zum Beispiel Henryk M. Broder mich bezichtigt, daß ich den Staat Israel delegitimiere, dann halte ich dem entgegen, daß der Staat Israel sich selbst delegitimiert! Weil die ganze Legitimität des Staates Israel auf dem Teilungsbeschluß vom 29. November 1947 beruht. Aber dann fand der Krieg statt, an dem die arabische Welt auch ihren Anteil hat. Das palästinensische Volk ist verführt worden, das palästinensische Volk hat nicht gegen uns gekämpft. Sie hatten keine Ahnung. Plötzlich sind sie in diesem Krieg wach geworden und die meisten sind vertrieben worden. Das, was Ilan Pappe in seinem Buch ("Die ethnische Säuberung Palästinas", Anm. d. Red.) schreibt, habe ich mit eigenen Augen gesehen.

Wenn ich von Hoffnungslosigkeit spreche, dann meine ich, daß diese Politik hoffnungslos ist. Wenn man bereit ist, aus ihr auszusteigen, dann kann es Hoffnung geben. Wir können versuchen zu verstehen, daß wir nach 60 Jahren nur Pyrrhussiege erzielt haben. Noch ein Krieg und noch ein Krieg und noch ein Krieg und noch ein Krieg. Und durch jeden Krieg wursteln wir uns auf diese oder jene Weise durch. Der große Sechstagekrieg war kein präventiver Krieg, er war das Ergebnis nüchterner, kühler, verbrecherischer Planung. Er wurde von einer Atmosphäre des Untergangs, der Angst vor einen neuem Auschwitz begleitet, das ist alles Quatsch. Es ging schlicht darum, den Suezkanal wieder unter Kontrolle Frankreichs und Englands zu stellen und Gamal Abdul Nasser zu entfernen. Gottseidank ist das nicht gelungen. Aber die existierende Politik ist hoffnungslos. Man kann darüber nicht reden.

SB: Wie beurteilen sie, daß der Überfall auf Gaza Umfragen zufolge von fast 90 Prozent der israelische Bevölkerung gutgeheißen wurde?

RM: Das ist eine Art festgefahrener Selbstbetrug. Man sagt: Die anderen wollen keinen Frieden, wir wollen Frieden! Aber die Frage ist, unter welchen Umständen man Frieden schließt. Man fordert Frieden, aber sagt "Jerusalem nicht, das nicht, das nicht und das nicht". Die vorherrschende Vorstellung vom Frieden ist, daß Israel sich zur Supermacht der gesamten Region entwickelt. Wir sollen das Monopol auf die Entscheidung haben, ob dort Krieg oder Frieden herrscht. Das ist die strategische Position unserer Regierung.

Das Volk sagt, daß es Frieden will, ist aber nicht bereit, den Preis dafür zu bezahlen. Und heute besteht der Preis nicht mehr in den Grenzen von 1947! Heute sind die Grenzen von 1967 der Preis! Hätten wir das akzeptiert, dann hätte die ganze Welt, einschließlich der arabischen, Israel auf knapp 80 Prozent dessen, was einmal Palästina war, anerkannt. Das will man in Deutschland nicht verstehen!

SB: Heute wird ja fast nur noch über einen Siedlungsstopp verhandelt.

RM: Das ist die große Lüge. Die israelische Außenpolitik ist seit der Gründung des Staates eine kolossale Lüge. Noch nach dem Zweiten Weltkrieg war sich die Mehrheit der jüdischen Bevölkerung sicher, daß wir uns zurückziehen müssen. Aber es hat nichts damit zu tun, was das Volk wollte. Die Regierung wollte es nicht und Amerika wollte es nicht. Und heute will auch Deutschland nicht. Vielleicht wird Westerwelle, für den ich keine sehr große Sympathie hege, wegen der guten Beziehungen zwischen der FDP und der Arabischen Welt etwas dafür tun.

SB: Westerwelle wird verdächtigt, unter dem Einfluß Jürgen Möllemann gestanden zu haben. Nun muß er wieder gut machen, was Herr Möllemann verbrochen hat.

RM: Möllemann hat machtpolitische Absichten gehabt, aber er hat nicht gelogen. Was er über Sharon gesagt hat, ist wahr. Auch wenn ein Lügner die Wahrheit sagt, bleibt es Wahrheit. Möllemann hat gehofft, die FDP irgendwie auf 18 Prozent zu bringen, und versucht, die antisemitische Szene zu animieren, seine Partei zu wählen.

Es bleibt dabei, dieser Zustand ist hoffnungslos. Aber es könnte hoffnungsvoll werden, weil man auf beiden Seiten eigentlich versteht, daß noch ein Krieg und noch ein Krieg und noch ein Krieg keine Lösung sein kann. Über was redet man zwischen israelischen und deutschen Politikern? Neue U-Boote! Wozu brauchen wir U-Boote? Ägypten hat keine U-Boote, Syrien hat keine, Jordanien auch nicht und die Palästinenser schon gar nicht. Man gibt uns also U-Boote, um den Krieg gegen Iran nicht nur zu planen, sondern durchzuführen. Das setzt nicht nur den Nahen Osten, sondern die ganze Welt höchster Gefahr aus!

SB: Kritikern der israelischen Politik und Unterstützern der Palästinenser wird mitunter der Vorwurf gemacht, nicht nur antisemitisch, sondern auch nazistisch orientiert zu sein. Haben Sie eigentlich den Eindruck, daß deutsche Nazis dieses Thema regelrecht für sich instrumentalisieren?

RM: Nein. Die Nazis reden nicht darüber, aber im Grunde genommen freuen sie sich. Sie sind Rassisten und haben die Apartheitsvorstellung usw. Die Rechtsextremisten sind einigermaßen solidarisch mit Israel. Die meisten Menschen in Deutschland sind Freunde Israels, die sich aus Sorge um die Zukunft Israels für Frieden einsetzen. Das Unverschämte ist, daß unsere Politik die Überlebenden des Holocaust im Dienste dieser schlimmen und furchtbaren und gefährlichen Politik instrumentalisiert hat. Und Deutschland akzeptiert das. Stets wird mit zwei Dingen gefuchtelt: Mit der Atombombe oder mit dem Wort Antisemitismus. Weil sie wissen, daß es gerade die anständigen Deutschen nicht vertragen können, als Antisemiten bezeichnet zu werden. Auf diese wirkt sich das wie eine geistige Erpressung aus - man fühlt sich einfach erpreßt.

Diejenigen unter Hitler, die Widerstand leisteten, sind die wahren Helden, weil sie ihr Leben einsetzten und mit dem Leben bezahlten. Heute in Deutschland ein kritisches Wort zu sagen bedeutet nicht Gefängnis, bedeutet nicht Vertreibung usw. Dennoch gibt es eine freiwillige, eine willige Gleichschaltung in Deutschland mit dieser schlimmen und gefährlichen Politik, die bei uns geführt wird. Das gefährdet uns, das gefährdet den Nahen Osten, das gefährdet die Welt.

SB: Vielen Dank, Herr Moskovitz.

4. Dezember 2009