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BERICHT/045: Antirep2010 - Tobias Pflüger konterkariert Europas Weltmachtstreben (SB)


Die ökonomische und militärische Seite der Weltmacht Europa

Vortrag am 10. Oktober 2010 in Hamburg

Tobias Pflüger beim Vortrag - © 2010 by Schattenblick

Tobias Pflüger
© 2010 by Schattenblick

Zu Beginn des 21. Jahrhunderts schmiedete die Europäische Union den strategischen Entwurf, binnen zehn Jahren zur weltweit führenden Wirtschaftsmacht aufzusteigen. Um dieses ambitionierte Vorhaben zu realisieren, bedarf es einer aggressiven Durchsetzung nach außen, verschärfter Konkurrenz unter den Mitgliedsstaaten und forcierter innenpolitischer Zurichtung. Die von den Staats- und Regierungschefs konzipierte Lissabon-Strategie sieht in ökonomischer Hinsicht einen marktradikalen Umbau innerhalb der EU und den Export der neoliberalen Agenda vor. Zugleich treiben Lohndumping und Sozialabbau die Absenkung des Lebensstandards voran, da sich der expansive Drang nach Weltgeltung nur auf Grundlage verschärfter Ausbeutung entfalten kann. Weil diese Politik zwangsläufig auf Widerstände stößt, erfordert sie den Aufbau eines europäischen Militärapparats, der geeignet ist, die Umsetzung des Vorhabens sowohl in der Außenwirkung zu erzwingen, als auch aufbrechenden sozialen Protest niederzuschlagen.

Unter dem Leitbild des "nationalen Wettbewerbsstaats" werden die Mitgliedsstaaten der Union dem Diktat der Standortpolitik unterworfen und so in Konkurrenz zueinander gesetzt. Außerhalb der Union forciert dies eine aggressive Erschließung neuer Märkte, wobei man vertragliche Vereinbarungen vorzieht, jedoch wie etwa auf dem Balkan den Rückgriff auf direkte militärische Gewalt in Gestalt von "Stabilisierungseinsätzen" nicht ausschließt. Zwangsläufige Folge sind zunehmende soziale Verwerfungen und Konflikte, die in Strategiepapieren der EU offen antizipiert und mit dem Ausbau militärischer Zwangsmittel präventiv gekontert werden.

Der am 1. Dezember 2009 in Kraft getretene Vertrag von Lissabon verändert in seinem Geltungsbereich die Lebens- und Rechtsverhältnisse auf dramatische Weise, ohne daß dies der Mehrzahl der davon betroffenen Bürger bewußt sein dürfte. Die im Vertragstext enthaltenen Aussagen zur Militarisierung der Sicherheits- und Verteidigungspolitik definieren die EU als kriegsbereites Bündnis und eröffnen zugleich erstmals die Möglichkeit von Militäreinsätzen innerhalb der Union, um Sozialproteste zu unterdrücken. Die verstärkte Zusammenarbeit der Polizei- und Sicherheitsdienste verschärft die Kontrolle der Bürger, deren Privatsphäre dem Überwachungsstaat zum Opfer fällt. Im Bereich der Wirtschaft wird der neoliberale Umbau festgeschrieben, während das Vertragswerk auf eine Sozialstaatsklausel verzichtet hat. Verelendung und Ausgrenzung wachsender Teile der Bevölkerung sind mithin vorgesehen und für unumkehrbar erklärt worden.

Tobias Pflüger beim Vortrag - © 2010 by Schattenblick

Analyse des militaristischen Charakters des Vertrags von Lissabon
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Der Politik- und Kulturwissenschaftler Tobias Pflüger, der auf dem Antirepressionskongreß über die ökonomische und militärische Seite der Weltmacht Europa sprach, unterstrich bereits mit dieser thematischen Festlegung, daß aus seiner Sicht marktradikale Agenda und Militarisierung zwei Seiten derselben Medaille sind - und zwar innerhalb wie außerhalb der Europäischen Union. Als Friedensforscher und Politiker setzt Pflüger sowohl in der Partei Die Linke, deren erweitertem Vorstand er angehört, als auch in zahlreichen außerparlamentarischen Organisationen, darunter Attac, War Resisters' International sowie der Arbeitsgemeinschaft Friedens- und Konfliktforschung Akzente. Seit vielen Jahren in der Friedens- und Antiatomkraftbewegung aktiv, war er 1996 Mitbegründer der Informationsstelle Militarisierung (IMI) und von 2004 bis 2009 Mitglied des Europäischen Parlaments in der Linksfraktion. Mit seinen politischen Arbeitsschwerpunkten Außen- und Militärpolitik der Europäischen Union, Friedens- und Antikriegspolitik sowie Antifaschismus konnte er aus dem Vollem schöpfen, als er den Kongreßteilnehmern die Tücken europäischen Weltmachtstrebens kritisch darlegte.

Der Referent erinnerte daran, in welch undemokratischem Verfahren der Lissabon-Vertrag zustande gekommen war, da Irland unter dem Druck der anderen Regierungen und der Krise ein zweites Mal abstimmen und die ursprüngliche Ablehnung revidieren mußte. Das Vertragswerk verändert die Situation von Grund auf und schreibt die EU als gefährlichen Akteur fest, der außenstehende Staaten und Regionen bedroht und bei Bedarf auch der eigenen Bevölkerung den Krieg erklärt. Eingeschworen auf das herrschende Verwertungssystem in dessen finanzkapitalistischer Zuspitzung - beispielsweise wird eine Transaktionssteuer ausgeschlossen - greift der Lissabon-Prozeß tief in die Wirtschaftsweise, Arbeitswelt und sozialen Verhältnisse ein.

Zugleich stellt der Lissabon-Vertrag eine wegweisende militärpolitische Entscheidung dar, die in ihrer Beistands- und Solidaritätsklausel noch über das in der NATO festgelegte Maß hinausgeht. Während das nordatlantische Bündnis die Beistandspflicht nach Artikel 5 auf den Fall des Angriffs auf ein Mitglied beschränkt, ist in der EU Beistand bereits dann gefordert, wenn sich ein Mitgliedsland in einem Konflikt befindet. Dies weist die Europäische Union als Angriffsbündnis aus, das sich von vornherein nicht die Einschränkung auf den Verteidigungsfall auferlegt. Bezeichnend ist zudem, daß die vier bislang neutralen europäischen Staaten Irland, Österreich, Schweden und Finnland nun in ein Militärbündnis eingebunden sind, ohne daß dies von ihren Parlamenten in einem gesonderten und für die Bürger ersichtlichen Verfahren so beschlossen worden wäre.

Tobias Pflüger beim Vortrag - © 2010 by Schattenblick

Neues strategisches Konzept der NATO bindet EU ein
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Im neuen Konzept der NATO, das dem Bundestag nicht vorgelegt wurde, wird die EU erstmals als Militärbündnis benannt. Von einer gleichberechtigten Entscheidungskompetenz aller Mitgliedsländer kann indessen keine Rede sein, da die sogenannte strukturierte Zusammenarbeit zu einer Art Kerneuropa führt, das den größten europäischen Nationen letzten Endes die Verfügung eines militärischen Einsatzes vorbehält. Die Zusammenarbeit zwischen EU und NATO wird systematisch ausgebaut, wobei der Lissabon-Vertrag die Primärreaktion im Krisenfall verankert, die Grenzschutzagentur Frontex zementiert und die Rüstungsindustrie aufwertet. Frontex führt nicht nur an den Außengrenzen, sondern auch innerhalb der EU Kontrollen durch. Dabei übt die Agentur über koordinierende Aufgaben hinaus administrative Funktionen aus. Mit der wissentlichen Abschiebung in Länder ohne Asylrecht verstößt Frontex gegen die Genfer Konventionen.

Charakteristisch für Europa nach dem Lissabon-Vertrag ist die zivil-militärische Zusammenarbeit, wie sie beispielsweise EULEX im Kosovo mit einer Verquickung von zivilen und hochmilitärischen Aspekten praktiziert. Bekanntlich fordert der Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, Dirk Niebel, selbst in Kriegsgebieten wie Afghanistan Hilfsorganisationen zur Kooperation mit den Streitkräften der westlichen Allianz auf.

Innen-, Rechts- und Flüchtlingspolitik werden von den Mitgliedsländern auf EU-Ebene verlagert und dort entschieden, wobei sie häufig vom Parlament zu Kommission und Rat wandern. Da das Europaparlament und der Europäische Gerichtshof bei Fragen der Außen- und Sicherheitspolitik ausgeschlossen werden, bildet sich ein zentraler Interventionsapparat jenseits der parlamentarische Kontrolle heraus. Daß der Lissabon-Vertrag nachgebessert werden soll, bezeichnet Pflüger als bloßes Gerücht. Änderungen im Detail seien nicht mehr möglich, so daß nur ein vollständig neuer EU-Vertrag diese entscheidende Weichenstellung revidieren könnte.

Die neu definierte EU stützt sich auf das ideologische Konstrukt, die Stärke Europas als "guter Akteur" müsse gegen US-amerikanische Dominanz in Stellung gebracht werden. Dem "amerikanischen Traum" in Gestalt von Patriotismus und militärischer Gewalt wird die angebliche europäische Kompetenz der Diplomatie auf Grundlage kultureller Vielfalt und Wahrung der Menschenrechte gegenübergestellt, womit das Vormachtstreben der EU als bessere Alternative getarnt und den Bürgern schmackhaft gemacht wird. Die Human Security Doctrine unterstellt Divergenzen zwischen den USA und Europa, indem sie das Recht des Stärkeren mit dem Recht des Friedens kontrastiert. Der postulierte europäische Mittelweg begründet den Krieg moralisch, indem er ihn vorzugsweise im Namen der Menschenrechte zu führen trachtet. So nimmt man das kantianische Projekt ewigen Friedens als geistesgeschichtliche Grundlage in Anspruch, um einen vorgeblich alternativen Entwurf zu formulieren, der de facto nur eine Zwischenetappe bei der Entwicklung eines robusten und militärisch schlagkräftigen EU-Ansatzes verbrämt.

Tobias Pflüger beim Vortrag - © 2010 by Schattenblick

Die Schriften des Gegner studieren und lernen ...
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Pflüger weist in diesem Zusammenhang Vordenker wie Robert Cooper, der den postmodernen Imperialismus definiert, und Herfried Münkler mit seiner Forderung nach einem "guten Imperium" als Protagonisten eines Euronationalismus aus, der die Entwicklung militärische Stärke aus Maßgaben der Ökonomie und operativen Sicherheit ableitet. Im European Defence Paper werden denn auch hohe Energiekosten, unterbrochene Ölversorgung und Störungen der Handelswege als Interventionsgründe aufgeführt, wobei die avisierten Rohstoffkriege als Befreiung besetzter Gebiete deklariert werden, da es insbesondere dem "Öl als Waffe" entgegenzutreten gelte.

Die Bertelsmannstiftung konstatiert in ihren Leitlinien für eine EU-Außenpolitik eine steigende Nachfrage bei Öl und Gas, die einen Reiz für Produzentenländer darstelle, Druck auf die Abnehmer auszuüben. Dagegen müsse die geballte Macht der EU-Länder aufgeboten werden, die ein Recht auf freien Zugang zu Energie zu vertretbaren Kosten hätten. Um verläßliches Handeln der Produzenten und Transitländer herbeizuführen, gelte es bestehende Spannungsverhältnisse langfristig aufzulösen. Begriffe wie Krieg oder Intervention werden in diesem Konzept tunlichst vermieden, wenn von einem "Nachbarschaftsinstrument" oder einem "Demokratieinstrument" die Rede ist und so die Absichten und Vorgehensweisen der führenden europäischen Mächte sprachlich verschleiert werden. Einflußnahme in Ländern wie Kuba, der Ukraine oder Belarus durch Unterstützung genehmer Kräfte kleidet sich in das Gewand der Förderung freiheitlicher Bestrebungen.

Der Lissabon-Vertrag weist als Ziele aus, Armut zu beheben und die Integration aller Länder zu fördern, wozu insbesondere der Abbau der Handelshemmnisse geeignet sei. Ungeachtet aller Erfahrungen mit den verheerenden Folgen ausgehebelter Schutzmechanismen schwächerer Ökonomien schreibt sich die EU ebendiese uneingeschränkte Vorteilsnahme auf die Fahnen, um ihre wirtschaftliche Dominanz durchzusetzen. Sie folgt damit der inneren Logik kapitalistischer Verwertung, ohne deren grundsätzliche Kritik alle Einwände gegen den Lissabon-Prozeß zu kurz greifen. Erforderlich ist Pflüger zufolge unter anderem eine andere Energiepolitik, die Konzerne zerschlägt und regenerative Lösungen auf lokaler Ebene fördert. Vonnöten ist seines Erachtens auch ein neu definiertes Grundverhältnis zu anderen Ländern. So mahnte der bolivianische Präsident Evo Morales bei seiner Rede vor dem EU-Parlament ein Umdenken jener Mächte an, die sich jahrhundertelang an den Rohstoffen kolonial unterworfener Länder bereichert haben.

Die Europäische Union bekommt nach Pflügers Worten eine Fratze, sie positioniert sich als imperialistischer Akteur. Während sie sich nach außen aggressiv in Stellung bringt, nimmt sie nach innen zunehmend repressive Züge an. Diese Entwicklung wird in anderen Ländern kontrovers diskutiert, nicht jedoch in Deutschland, das als kontinentale Kernmacht seine Interessenpolitik europäisch maskiert. Um gegen diesen Prozeß zu Felde zu ziehen, bedarf es Pflüger zufolge einer gemeinsamen linken Europapolitik, die nicht zurück zum Nationalstaat führen darf, sondern sich einem internationalistischen Ansatz verschreibt. Die Neuordnung auf EU-Ebene dringt im Zuge ihrer Umsetzung in den Mitgliedsländern wie sickernder Sand bis hinunter in die Kommunen, deren Handlungsspielraum von EU-Recht beschnitten wird. Daher gelte es gegen Einzelmaßnahmen vorzugehen, ohne dabei die Forderung nach einer Neugründung des EU-Vertrags aus den Augen zu verlieren.

Banner des Antirepressionskongresses  - © 2010 by Schattenblick

Solidarität auch auf Parteiebene vonnöten
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22. Oktober 2010