Schattenblick →INFOPOOL →POLITIK → REPORT

INTERVIEW/004: Andreas Wehr, Autor und EU-Experte (SB)


Interview mit Andreas Wehr auf der XIV. Rosa-Luxemburg-Konferenz am 10. Januar 2009 in Berlin


Der Jurist Andreas Wehr ist als wissenschaftlicher Mitarbeiter der Fraktion der Vereinten Europäischen Linken/Nordische Grüne Linke (GUE/NGL) im Europäischen Parlament tätig. Seine Einblicke in die Arbeit des europäischen Verfassungskonvents und das Scheitern des EU-Verfassungsvertrags verarbeitete er in den Büchern "Europa ohne Demokratie?" (2004) und "Das Publikum verlässt den Saal" (2006) [siehe BUCH-SACHBUCH: REZENSION/198 und 329].

Andreas Wehr  -© 2009 by Schattenblick

Andreas Wehr
© 2009 by Schattenblick
Schattenblick: Wie ist Ihre Meinung zu der unter anderem in der DKP geführten Diskussion um einen möglichen Austritt aus der EU?

Andreas Wehr: Die Forderung, die von der Fraktion der Vereinten Linken in Europa erhoben wird, besteht darin, die völlige Veränderung der Verträge zu erreichen. Die Parole 'Die EU neu gründen' bedeutet, daß wir die Verträge verändern müssen. Das ist die Forderung, die wir, so glaube ich, auch stellen sollten. Die Forderung 'Raus aus der EU' würde ja bedeuten, daß, wenn Deutschland austritt, die EU aufgelöst wird. Es wird ja, wie auch immer die EU sich weiterentwickelt, stets eine Nachfolgeorganisation geben müssen für diese hohe ökonomische Integration, die wir erreicht haben. Insofern ist eine Forderung 'Raus aus der EU' aus meiner Sicht nichtssagend. Sie führt nicht weiter, weil sie auch ein bißchen von dem Thema wegführt, wie man die EU verändern kann.

SB: Sie sprechen das Ausmaß an ökonomischer Integration an - gerade wurde eine Untersuchung veröffentlicht, aus der hervorgeht, daß zur Zeit das Gegenteil geschieht, daß die EU-Mitgliedsstaaten sich ökonomisch voneinander entfernen. Zudem wird im Rahmen der Finanzkrise, der Wirtschaftskrise immer deutlicher, daß die gemeinsame Währungspolitik für einige Länder eine schwere Last ist. Welche Auswirkungen könnte das auf die weitere Integration, wie sie im Reformvertrag von Lissabon vorgesehen ist, haben?

AW: Da muß man zwei Dinge sehen. Das erste, was sehr interessant ist, ist, daß die Europäische Union in der sogenannten Finanzmarktkrise bestenfalls als Plattform eine Rolle gespielt hat, als Rahmen, aber nicht als handelnder Akteur. Die Konferenz, die zu den Banken-Rettungsplänen geführt hat und zu der Sarkozy in Paris eingeladen hatte, war ja eine Konferenz der Präsidenten und Ministerpräsidenten der Euro-Zone. Das ist ein Gremium, das nach der Verträgen der Europäischen Union gar nicht existiert und das zum letzten Mal vor acht oder neun Jahren bei der Gründung des Euro zusammengekommen ist. Die haben bestenfalls koordiniert. Man hatte Gordon Brown als Premier Großbritanniens, das gar nicht zur Euro-Gruppe gehört, eingeladen und sich angehört, was die Länder machen wollen, aber die Länder haben dann ganz alleine gehandelt.

Die Banken-Rettungspläne mit über 480 Milliarden Euro wurden in den Hauptstädten gemacht. Die Europäische Kommission und der Europäische Rat haben da gar keine Rolle gespielt. Auch wenn man an das Konjunkturprogramm denkt, das im Dezember vorgelegt wurde, das fand alles in Abhängigkeit von der Position und dem Willen der einzelnen Mitgliedsstaaten statt. Da hat man gestrichen und eingegriffen, und am Ende ist nicht all zu viel übrig geblieben.

Das andere Problem, das schon seit Jahren offensichtlich ist und das sich jetzt in der Krise verschärfen wird, besteht darin, daß die Euro-Zone, man könnte sagen, unter Streß leidet, weil die Wirtschaftsleistungsfähigkeit der einzelnen Staaten doch sehr unterschiedlich ist. Wenn man dann eine einheitliche Währung hat, befindet man sich schnell in der Situation, daß für einige Länder insbesondere in der Peripherie wie Griechenland, Spanien und Portugal eine andere Währungspolitik erforderlich wäre als eine Politik, die möglicherweise für die exportstarken Niederlande, Belgien und Deutschland vorteilhaft ist. Und wenn sich dann ein Entwicklungsmodell wie das deutsche alleine durchsetzt und wenig Rücksicht nimmt auf die Peripherie, dann gibt es Streß, dann gibt es Schwierigkeiten.

SB: Halten Sie es eigentlich für beabsichtigt oder für einen eher zufälligen Systemfehler, wenn zum Beispiel in Ostpolen in unmittelbarer Nachbarschaft Deutschlands die ärmsten Bezirke der ganzen EU liegen? Das sind ja ungeheure Diskrepanzen in einem Raum, der eigentlich zusammenwachsen sollte, daraus ergibt sich natürlich auch eine gewisse Dynamik der Ausbeutungsmöglichkeiten.

AW: Das ist ein altes Problem der gemeinsamen Währungszone. Wenn man entwickelte und wenig entwickelte Gebiete unter eine einheitliche Währung bringt und das nicht ausgleicht durch eine sehr aktive Förderungspolitik, durch eine aktive Industriepolitik, dann kommt man in die Situation, daß der unterentwickelte Teil ewig unterentwickelt bleibt, weil er das Instrument der Währung, also die Abwertung seiner Währung, nicht nutzen kann.

Das historische Vorbild ist Italien. Süditalien ist mit der Einführung der Lire, 1865 so weit ich weiß, in die Situation der Abhängigkeit geraten und seitdem auch nicht mehr herausgekommen. Die Unterentwicklung Süditaliens hängt mit dem einheitlichen Wirtschaftsraum zusammen, in den ein unterentwickeltes, noch feudales Agrarland im Süden mit einem hochentwickelten, industrialisierten Norden zusammengesperrt wurde. Eigentlich hätte sich das Gebiet im Süden, das alte Königreich Neapel, mit einer unterbewerteten Währung über die Jahre aus der Situation befreien können. Das konnten sie eben nicht, und das könnte auch die Perspektive der EU werden.

Was die polnischen Gebiete angeht, da hatten wir noch vor zwei Jahren - da kannte ich noch die Zahlen, aber die neuen Zahlen sind mir jetzt nicht bekannt - in der Europäischen Union eine größere Spreizung zwischen entwickelten und unterentwickelten Gebieten als in den USA. Das ist natürlich ein Riesenproblem. Die regionalen und Strukturfonds, die es ja gibt und die auch in gewisser Weise dagegen anarbeiten sollen, verfügen eben doch über viel zu geringe Mittel. Die national eingesetzten Fördermittel sind sehr viel größer, auch in Deutschland, als die europäischen Mittel. Auf der europäischen Ebene wird viel zu wenig umverteilt, auch wenn es in der Öffentlichkeit immer anders dargestellt wird. Tatsächlich ist das Umverteilungsvolumen sehr gering. Und diese sozialen und ökonomischen Spannungen zwischen den hochentwickelten und den schwach entwickelten Gebieten können sich jetzt in der Krise weiter verschärfen.

SB: Wird das, etwa im Rahmen der Kohäsionsfonds, die Sie erwähnten, strukturell festgeschrieben oder ist das über die Probleme der Währungsunion hinaus systemisch bedingt?

AW: Die sind eben zu gering. So gibt es zum Beispiel in Polen und in Rumänien keine Industrialisierungspolitik. Was dort hingeht, wird mit Förderungspolitik bedient. Das heißt, die Delokalisierung, wie die Franzosen sagen, die Verlagerung von Betrieben, erfolgt willkürlich oder auch nicht, das überläßt man dem freien Markt. Jetzt kommen ja auch wieder Unternehmen zurück, und in der Krise schließen zuerst die Unternehmen in Bulgarien, Rumänien und in Polen, das ist keine systematische Entwicklung. Ich befürchte, daß sich eine Situation der Metropole und Peripherie in der Europäischen Union verfestigen wird. Das haben wir ja auch schon mit Portugal und Spanien, allerdings befanden sich diese Länder noch in einer ökonomischen Aufschwungphase, so daß beide von der Mitgliedschaft in der Europäischen Union profitiert haben. Irland auch, aber eben durch die Ausbreitung des Finanzsektors.

Ob das jetzt für Osteuropa noch gilt, das muß man sehen. Sie hatten hohe Wachstumsraten in den letzten Jahren, aber sie haben die Angleichung noch lange nicht vollzogen und der Abstand ist sehr groß. Wenn er jetzt größer wird in der Krise, dann zeigt sich, daß dieses Entwicklungsmodell womöglich doch zu einem Metropolen-/Peripheriemodell auf Dauer führt.

SB: Die Widersprüche in den osteuropäischen Gesellschaften sind ja sogar gewachsen im Verhältnis zur realsozialistischen Ära. Inzwischen herrschen Unterschiede zwischen Arm und Reich, die es früher einfach nicht gab.

AW: Die Forscher, die sich mit der Städteentwicklung beschäftigen, sagen immer, daß die Weltzentren, die teilweise sogar in der Dritten Welt liegen - Shanghai oder Bombay, aber auch in Europa oder in Südamerika - sich in ihrem Entwicklungsstand angleichen, aber die Peripherie, also das Land, bleibt zurück. Das haben wir auch in Osteuropa. In Warschau, Prag oder Bratislava gibt es ein relativ hohes Entwickungsniveau, das sagt aber nichts über die wirkliche Entwicklung des Landes aus. Wenn man von Bratislava 150 Kilometer ins Hinterland nach Osten fährt, dann findet man eine ganz schlimme Situation vor. Aber die Metropolen gleichen sich an. Die Lebensbedingungen der Menschen dort, die Mieten und Preise etwa in Prag sind nicht mehr weit entfernt von Berlin. Aber das sagt natürlich nichts über das Land aus. Das heißt also, die Gegensätze innerhalb der Länder werden größer.

SB: Eine Frage zum Thema der EU-Institutionen. Gibt es eigentlich irgendwelche Bestrebungen, etwas daran zu ändern, daß nationale Regierungen den Umweg über EU-Rahmenbeschlüsse oder -Richtlinien nehmen, um repressive Gesetze zu verschärfen, wie es etwa mit der Vorratsdatenspeicherung erfolgte? Die Bundesregierung beruft sich bei der Verfassungsklage gegen die Vorratsdatenspeicherung darauf, daß das Bundesverfassungsgericht gar nicht mehr zuständig wäre, weil der Schutz der Bürgerrechte bereits auf EU-Ebene integer abgedeckt wäre. Gibt es vielleicht auch unter etablierten Parteien Bestrebungen, die nationale Ebene noch einmal zu stärken, oder hat man es mit einem einseitigen Prozeß der Zentralisation und der Supranationalisierung zu tun?

AW: Bei dem, was dort geschieht, wird in der Öffentlichkeit leider nicht so genau hingeguckt. So wurde das Rechtsinstrument der gegenseitigen Anerkennung etabliert, was ich für sehr fatal halte und die Juristen, die sich damit auskennen, ebenfalls für fatal halten. Bei bestimmten Fragen wie etwa dem Europäischen Haftbefehl wird gar nicht mehr im Nationalstaat geprüft, sondern die Prüfung, die in einem der Mitgliedstaaten erfolgt ist, muß von den anderen Mitgliedstaaten übernommen werden. Laut dem Europäischen Haftbefehl könnte ein Verkehrsunfall in Griechenland wenigstens theoretisch - ob das praktisch auch der Fall ist, muß man erst einmal sehen - zur Folge haben, daß Griechenland den Straftäter oder den Verdächtigten anfordert, ohne daß die deutschen Behörden noch prüfen, ob eine Auslieferung usw. überhaupt notwendig wäre.

In diesem wie in anderen Ländern genießt man ja einen viel schwächeren Rechtsschutz. Was wir unter Prozeßkostenhilfe, früher Armenrecht, kannten, das gibt es in vielen Ländern gar nicht. Auch die Verpflichtung, als Angeklagter einen Pflichtdolmetscher oder einen Pflichtverteidiger zu bekommen, gilt häufig nicht. Es gibt große Mängel an Rechtsstaatlichkeit. Wenn man das einfach so handhabt, daß man nicht mehr prüfen kann, dann ist das ein echtes Problem. Dies greifen interessanterweise vor allem Konservative auf. Ich stoße immer wieder in der konservativen Presse wie der FAZ auf Kommentare, in denen Bedenken geäußert werden, was die schnelle Integration und die gegenseitige Anerkennung von juristischen Standards angeht.

SB: Könnte es sein, daß dabei bourgeoise Interessen zugunsten einer, ich würde vielleicht sagen, anonymeren oder abstrakteren Form der Verfügungsgewalt abgebaut werden? Oder würden Sie diese Entwicklung eher an Konzerninteressen festmachen?

AW: Wenn man einen Binnenmarkt hat, dann muß man den nächsten Schritt gehen. Man muß also zu einer Vereinheitlichung des Rechtsraumes kommen, zu einem Raum der Freiheit und des Rechts, wie es so schön euphemistisch heißt. Diese Position ist sozusagen die allgemeine Agenda der herrschenden Eliten in der Europäischen Union. Wenn man vom Binnenmarkt zu einer politische Union voranschreitet, dann kommt als nächstes der Raum der Freiheit und des Rechts. Das wird noch relativ unkritisch gesehen. Mich wundert vor allem, daß die Grünen und auch die FDP da wenig Bedenken haben. Viele dieser Fragen werden auf europäischer Ebene vom Europäischen Gerichtshof entschieden, und das Bundesverfassungsgericht hat da nichts zu sagen. Das halten im Gegenteil sehr viele Konservative, Roman Herzog und andere, für sehr bedenklich, aber aus dem eigentlichen bürgerrechtlichen Bereich gibt es da noch relativ wenig Äußerungen und wenig Anmerkungen.

SB: Haben Sie den Eindruck, daß das EU-Thema den Menschen nach wie vor zu fremd ist, daß man sich einfach nicht damit beschäftigt, welche Rechtsmittel und Verwaltungsmittel dort etabliert werden, die dann auch direkt greifen?

AW: Also für die meisten ist das einfach zu weit weg, das ist zu kompliziert. Sie verstehen die Zusammenhänge nicht, weil es ihnen auch nicht erklärt wird. Wie das zwischen Bundestag und Bundesrat läuft, da weiß man ja auch nicht so recht, warum entscheiden die einmal darüber und warum ein andermal nicht, mit welcher Mehrheit entscheiden sie usw., wo gibt es Einspracherecht-Gesetze, wo nicht, und das ist noch eine Ebene höher. Man kommt schon mit den Institutionen nicht klar. Man kann so eine Institution wie die Kommission gar nicht greifen, weil sie ja auf der einen Seite Hüterin der Verträge, also so etwas wie ein Gericht, ist, zum anderen bringt sie Gesetzesinitiativen, also Richtlinien und Verordnungen, hervor, und die Kommission überwacht aber auch diese Dinge. Das ist eine Institution, die in der Gewaltenteilung so gar nicht existiert. Und der Rat genauso. Der Europäische Rat ist zugleich Aufsichtsbehörde für viele europäische Institutionen, für viele Agenturen, die er eingerichtet hat, er hat also exekutive und legislative Aufgaben, die er gleichzeitig wahrnehmen muß.

Das ist für viele schon sehr befremdlich. Die Rolle des Europäischen Parlaments versteht sowieso kaum jemand. Daß es ein Parlament gibt, das den Kommissionspräsidenten gar nicht alleine wählen kann - sie werden ihn wohl wählen, aber nur auf Vorschlag des Rates -, es also nicht das Recht hat, so etwas wie eine Art Kanzler oder Präsidenten zu wählen, und daß es auch nicht das Recht hat, Gesetzesinitiativen einzubringen, das ist für viele gar nicht nachvollziehbar. Zu dieser Unübersichtlichkeit kommt hinzu, daß viele der Ansicht sind, sowieso keine Möglichkeit der Einflußnahme zu besitzen. Das ist ja so falsch nicht. Die Entscheidungen, die dort zustande kommen, haben ja mit dem, was im Europäischen Parlament diskutiert wird, relativ wenig zu tun. Da resignieren viele Leute und verzichten darauf, zu den Europawahlen zu gehen.

SB: Halten Sie denn die EU in diesem disparaten oder komplexen Zustand überhaupt für fähig, die ihr unterstellten imperialen Ambitionen auszufüllen, oder handelt es sich dabei eher um eine unzutreffende Zuweisung?

AW: In der Außenpolitik sind sie nicht so weit gekommen, wie sie wollten. Sie wollten mit dem Verfassungsvertrag einen Außenminister etablieren, der auch Initiativen ergreifen kann in grundlegenden Fragen. Nun ist es so, daß Länder wie Großbritannien, aber auch andere, es zählen auch einige osteuropäische dazu, gesagt haben, das sind Kernbereiche der nationalen Souveränität, die geben wir nicht aus der Hand. Das bedeutet, wenn Grundsatzentscheidungen getroffen werden, dann können sie nur einstimmig getroffen werden. Man wollte ja auch in der Außenpolitik einen Mechanismus der Mehrheitsentscheidung herbeiführen, das hat man nicht gemacht. Das heißt, daß es in der Außen- und auch in der Sicherheitspolitik, in der Militärpolitik letztendlich bei der nationalen Souveränität und bei der Letztentscheidung der Staaten geblieben ist.

Das ist auch gar nicht anders denkbar. Wir dürfen nicht vergessen, daß die Europäische Union immer eine Kombination der Nationalstaaten ist. So gibt es jetzt im Nahostkonflikt ganz unterschiedliche Interessen. Das war schon im Konflikt um Myanmar so, das gilt für China, Venezuela und Kuba, überall gibt es sehr unterschiedliche Interessen, die sich die Staaten nicht nehmen lassen und deren Vertretung sie weiter betreiben wollen. Die Europäische Union ist letztlich so etwas wie eine Vermittlungsinstitution, sie betreibt eine Art Krisenmanagement, das aber nicht wirklich funktioniert, weil keine Autorität dahintersteckt.

SB: Sie sind aber auch kein Befürworter einer Stärkung dieser Autorität, wie es in konservativen Kreisen gefordert wird? Die Bertelsmann Stiftung setzt sich ja sehr dafür ein, exekutive Gewalten auf höherer Ebene zu formieren.

AW: Nein, ich bin kein Anhänger dieser Politik. Das hängt auch damit zusammen, daß die Bertelsmann Stiftung dies propagiert und dies in Deutschland massiv vorangetrieben wird. Man glaubt, mit den Möglichkeiten des neuen Vertrags, mit den Mehrheitsentscheidungen seine politische Agenda als großer Staat leichter auf die europäische Ebene übertragen zu können. Das ist ja keine völlig neue Politik, bei der man auf der europäischen Ebene die verschiedenen nationalen Interessen miteinander kombiniert, sondern die großen Staaten - das gilt für Frankreich und in gewisser Weise für Großbritannien, aber vor allem für Deutschland - gehen davon aus, mit der Europapolitik, die sie betreiben, ihre nationale Politik verstärken und weiterentwickeln zu können. Das gilt ja für die kleineren und mittleren Länder nicht, die schauen da schon genau hin. In Irland war es beispielsweise ein großes Thema bei der Ablehnung des Vertrags, mit ihrer neutralen Außenpolitik nicht unter die Räder zu geraten.

SB: Meinen Sie nicht, daß die Iren sich jetzt mehr oder minder, zum Beispiel durch ökonomische Zusagen, ködern lassen werden? Sie sind ja wirtschaftlich ziemlich stark betroffen.

AW: Das kann man nicht sagen. Vor dem letzten Votum im Juni vergangenen Jahres haben alle gesagt, daß sie am Ende doch zustimmen werden, und die Umfragen waren immer so, daß eine Mehrheit eigentlich sicher war. Das hat sich erst in den letzten ein oder zwei Wochen gedreht, insofern kann man nichts sagen. Ich denke, daß die Chance, daß sie noch einmal nein sagen, genau so groß ist wie die Möglichkeit, daß sie ja sagen. Das hängt auch von den inneririschen Verhältnissen ab. Die amtierende Regierung ist sehr schwach und besitzt wenig Glaubwürdigkeit, so daß der Wunsch vorherrschen könnte, ihr noch einmal einen Denkzettel zu verpassen.

Was jetzt natürlich von deutscher, aber auch von französischer Seite versucht wird, ist, die Iren als unbelehrbar, als Außenseiter usw. darzustellen, so daß die Leute Angst bekommen, bei einer weiteren Ablehnung völlig isoliert zu sein und vielleicht die EU verlassen zu müssen. Solche Gerüchte gibt es ja auch, deswegen macht man so viel Druck, daß der Lissaboner Vertrag in Tschechien und im Polen ratifiziert wird. Man will den Iren zeigen, daß sie die allerletzten sind und es jetzt ganz auf sie ankommt. Viereinhalb Millionen Menschen dürfen das nicht blockieren. Davon werden sich sicherlich einige beeindrucken lassen, aber nicht alle, das muß man erst einmal sehen.

SB: Stellt die Linke für Sie eine glaubwürdige Opposition zu den etablierten Parteien in Hinsicht auf die EU-Frage dar, oder ist das innerhalb der Linken gespalten?

AW: Für die Ablehnung des Lissaboner Vertrags und des Verfassungsvertrags gibt es meiner Einschätzung nach unter den Mandatsträgern, aber auch unter den Funktionären oder Mitgliedern eine ganz klare Mehrheit. Es gibt einige innerhalb der Partei, die der Ansicht sind, daß die Linke nicht den Eindruck vermitteln dürfe, daß sie antieuropäisch sei. Das ist auch gar nicht beabsichtigt, denn 'antieuropäisch' ist eigentlich nur ein Schlagwort. Aber die Haltung ist schon außergewöhnlich. Als im Bundestag sitzende Partei und Partei, die in Landtagen stärker vertreten ist als die Grünen oder die FPD, wenn man die Abgeordneten zusammenzählt, hat sie ein Alleinstellungsmerkmal, indem sie sagt, daß man die europäische Integration so nicht machen kann. 'Wir sind gegen diesen Vertrag und wir waren auch schon vorher gegen die Verträge und wir fordern einen anderen Vertrag', das hat es in der Bundesrepublik Deutschland seit Jahrzehnten so nicht gegeben. Das ist schon ein Fortschritt, denke ich, und der wird auch die Partei in die Europawahlen bringen.

SB: Die ja nach wie vor relativ wenig Beachtung finden. Obwohl es ein Novum wie die EU in der Geschichte noch nicht gegeben hat und man auch gar nicht weiß, wie man es betiteln soll, wird es mehr oder minder ignoriert.

AW: Dabei werden dort viele wichtige Entscheidungen getroffen. Bei der Dienstleistungsrichtlinie ist das einmal unten angekommen, da wurde die Frage aufgeworfen, was da eigentlich geschieht. Jetzt wird eine Gesundheitsrichtlinie auf dem Weg gebracht, die die Gesundheitssysteme der europäischen Länder umkrempeln wird. Dabei werden die Krankenkassen verpflichtet, vollständigen Kostenersatz zu leisten, wenn man woanders sich behandeln läßt. Damit wird das ganze System einem Konkurrenzmechanismus ausgesetzt. Das bedeutet für hier, für Berlin und Umgebung, daß die Leute nach Polen, nach Tschechien gehen, um sich behandeln zu lassen. Was heißt das für die Ärzteschaft, was heißt das für die Krankenhäuser? Das interessiert vielleicht den Marburger Bund, aber die Parteien interessiert das nicht.

SB: Dieses Desinteresse gilt wohl auch für den Europäischen Gerichtshof. Dort werde Urteile von weitreichender Art gefällt, ohne daß man hierzulande darüber aufgeklärt würde wie etwa beim Thema der sogenannten wirtschaftlichen Freiheitsrechte des EG-Vertrags im Verhältnis zum nationalen Streik- und Arbeitsrecht.

AW: Das Laval-Urteil, das Viking-Urteil und das Rueffert-Urteil und jetzt das Urteil zum Luxemburger Arbeitsgesetzbuch. Das sind ganz schlimme Urteile. Zum Beispiel war das lettische Bauunternehmen Laval auf einer riesigen Baustelle in Schweden engagiert, wo zu geringsten Löhnen um vier Euro die Stunde sehr lange - 60 Stunden die Woche - gearbeitet wurde. Das haben die Gewerkschaften bestreikt, der schwedische Staat hat die Forderungen akzeptiert und Laval aufgetragen, die Löhne und die Arbeitszeit auf schwedisches Niveau zu bringen. Dies hat der Europäische Gerichtshof aufgehoben mit der Begründung, daß das gegen die Niederlassungsfreiheit verstößt. So wird Sozialabbau über den Europäischen Gerichtshof betrieben.

SB: Da gibt es offensichtlich noch viel zu korrigieren. Herr Wehr, wir danken Ihnen für dieses lange Gespräch.

Andreas Wehr im Gespräch mit SB-Redakteur - © 2009 by Schattenblick

Andreas Wehr im Gespräch mit SB-Redakteur
© 2009 by Schattenblick
/p>

23. Januar 2009