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INTERVIEW/072: Michael Youlton zu den Krisen in Irland und Griechenland (SB)



Interview mit Michael Youlton am 7. Januar in Dublin

Vor dem Hintergrund einer tiefen Wirtschaftskrise finden in Irland am 25. Februar Parlamentswahlen statt. Die Arbeitslosigkeit liegt bei 14 Prozent. Eintausend junge, meist gut ausgebildete Iren wandern jede Woche aus. Die Bauindustrie liegt am Boden. Der Bankensektor ist praktisch insolvent. Viele kleine Betriebe machen dicht, weil die Banken ihnen keine Überbrückungskredite mehr gewähren. Die zur bisherigen Regierung gehörenden Parteien, die nationalkonservative Fianna Fáil und die Grünen, erwartet eine schwere Bestrafung durch die Wähler, während die bisherige Opposition aus Fine Gael und Labour, die vermutlich in wenigen Wochen das Heft in die Hand nehmen werden, über den Ausweg aus der Krise streitet.

Die ebenfalls nationalkonservative Fine Gael favorisiert Ausgabenkürzungen und Entlassungen aus dem Staatsdienst, die sozialdemokratische Labour-Partei dagegen Steuererhöhungen. Beide bekennen sich zur Rückzahlung jenes massiven 85 Milliarden Euro schweren "Rettungspakets", mit dem der Internationale Währungsfonds (IWF), die Europäische Zentralbank (EZB) und die Europäische Kommission Ende letzten Jahres die Republik Irland vor dem Staatsbankrott gerettet haben. Nur die linksnationalistische Sinn Féin und die neue Gruppierung United Left Alliance lehnen die Rückzahlung ab, weil es sich in allererster Linie um ein "Rettungspaket" für jene großen Geldhäuser in Großbritannien, Frankreich und Deutschland handelt, welche die vor drei Jahren geplatzte Immobilienblase auf der grünen Insel großzügig [sic] finanziert hatten. Über all dies und mehr sprach am 7. Januar in Dublin der Schattenblick mit dem Friedensaktivisten Michael Youlton, der regelmäßig politische Analysen bei der Zeitschrift Irish Left Review veröffentlicht.

Michael Youlton

Michael Youlton Schattenblick: Herr Youlton, Sie stammen ursprünglich aus Griechenland. Könnten Sie uns ein wenig über Ihren Werdegang erzählen, wie es dazu kam, daß Sie heute in Irland leben und welchen Aufgaben Sie sich hier politisch, aber auch beruflich widmen?

Michael Youlton: Ich bin meiner Ex-Frau zuliebe nach Irland gezogen, die aus Dublin stammt. Wir begegneten uns erstmals 1971 an der Universität in London. 1973 gingen wir gemeinsam für einige Zeit nach Irland. Als uns beiden eine Lehrerstelle in Algerien angeboten wurde, arbeiteten wir dort zweieinhalb Jahre, ehe wir Ende 1977 nach Irland zurückkehrten.

SB: Also hatte Ihre Ankunft in Irland nichts mit der etwa zeitgleich stattfindenden Machtübernahme der Generäle in Griechenland zu tun?

MY: Nein, ich studierte einfach ein paar Jahre im Ausland. Dennoch, bevor ich nach London ging, saß ich kurze Zeit wegen meiner Mitgliedschaft in der kommunistischen Partei an der Universität im Gefängnis. Glücklicherweise wurde ich nach zwei Monaten wieder freigelassen, da ich eigentlich keinen Gesetzesverstoß begangen hatte. Auch wenn ich nicht mehr nach Griechenland zurück konnte, kam ich nicht aus politischen Gründen nach Irland. Meine Frau und ich wurden hier zunächst politisch tätig, als wir einer Gruppe beitraten, die People's Democracy hieß. Darüber hinaus veröffentlichte ich Beiträge zu außenpolitischen Themen in englischen Zeitungen. Damals gab es eine ganze Reihe von Kampagnen z.B. gegen das Regime von General Augusto Pinochet in Chile, das die Anhänger des gestürzten Präsidenten Salvador Allende verfolgte. Wir lernten viele Chilenen kennen, die als politische Flüchtlinge in Irland gelandet waren. Meine Frau und ich waren bereits einige Jahre bei der People's Democracy aktiv, als sich die Gruppe in zwei Teile spaltete. Da wir in dem Streit nicht für eine Seite Partei ergreifen wollten, lehnten wir es ab, einer der neuen Gruppierungen beizutreten und begannen statt dessen mit einigen Studenten am Dubliner Trinity College zusammenzuarbeiten, aus dem eine neue Organisation namens Revolutionary Struggle entstand.

SB: Welche, wenn man dem Glauben schenken darf, was über die Jahre geschrieben wurde, einen geheimnisumwitterten Nimbus erlangte (lacht).

MY: Das stimmt, auch wenn ich nicht richtig verstehe, warum (lacht). Jedenfalls folgte Revolutionary Struggle drei Grundsätzen, die ich für sehr konsequent hielt. Erstens war es keine ausschließlich irische Organisation. Es gab drei bis vier Zellen im Vereinigten Königreich und ein paar in Frankreich. Das heißt, wir waren gleich von Beginn an international aktiv. Was den ideologischen Hintergrund betrifft, waren unsere Vorbilder die Tupamaros, eine Guerillabewegung in Uruguay. Zweitens waren wir der Ansicht, daß die politischen Organisationen der Linken in allen Ländern auf politischer und rechtlicher Ebene aktiv sein und sich gleichzeitig die Möglichkeit erhalten sollten, falls nötig auch mit Gewalt gegen Staat und Kapital vorzugehen. Wir vertraten somit eine politisch-militante Einstellung. Innerhalb des fraglichen Zeitraums kam es zu einer Reihe gewaltsamer bzw. extralegaler Vorfälle, die, zu Recht oder Unrecht, mit uns in Verbindung gebracht wurden. Drittens hatten wir untereinander vereinbart, unabhängig davon, welche extralegale Aktion wir auch immer planten, uns weder im voraus noch im nachhinein dazu zu bekennen. Wir würden niemals sagen, "wir haben es getan", aber es sollten Dinge geschehen.

Nehmen wir als Beispiel einmal eine unserer gelungensten Aktionen. 1981 gab es im Zentrum von Dublin eine große Anti-Steuer-Demonstration, an der mehrere hunderttausend Menschen teilnahmen. Als die Demonstranten die O'Connell Street durchschritten, trennten sich etwa hundert unserer Leute von der Menschenmenge, betraten die dortige Zweigstelle von McDonald's, die zu jenem Zeitpunkt gerade bestreikt wurde, weil das Unternehmen seinen Angestellten das Recht, sich gewerkschaftlich zu organisieren, verweigerte, und nahmen sie in etwa sieben oder acht Minuten komplett auseinander. Nachdem wir unser Vorhaben ausgeführt hatten, tauchten wir wieder in der draußen vorbeimarschierenden Menge unter. So etwa sahen die Aktionen aus, die wir unternommen haben: gewaltsame Protestaktionen gegen Sachbesitz, niemals aber gegen Menschen.

SB: Waren Sie nicht auch an der Organisation der Massenproteste beteiligt, die dazu führten, daß der geplante Bau eines Kernkraftwerkes am Carnsore Point aufgegeben werden mußte?

MY: Ja, darin waren wir sehr stark involviert. Ich halte diese für eine der bis heute wohl erfolgreichsten Massenbewegungen in der jüngeren irischen Geschichte, insofern als sie tatsächlich ihr Ziel erreichte. Erst vor wenigen Tagen brachte die Irish Times anläßlich der Veröffentlichung geheimer Staatspapiere von vor dreißig Jahren einen sehr aufschlußreichen Artikel über diese Protestbewegung heraus. Haben Sie ihn gelesen?

SB: Selbstverständlich.

MY: In den frühen Achtzigern waren wir außerdem an der Organisation von Protesten zur Unterstützung der Hungerstreiks von IRA-Anhängern in Nordirland beteiligt. Schließlich kam es Mitte der Achtziger innerhalb des Revolutionary Struggle zu spürbaren Spannungen wegen unserer Position hinsichtlich des bewaffneten Kampfes der IRA und Sinn Féin gegen die britische Herrschaft in den Six Counties [Nordirland - Anm. d. Red.]. In dieser Phase waren wir auf 300 bis 350 Mitglieder angewachsen, was für irische Verhältnisse schon eine bedeutende Organisation darstellt. Nachdem der Streit auf zwei Konferenzen nicht beigelegt werden konnte, beschlossen wir, die Gruppe aufzulösen. Weil wir dem Beispiel der Irish Republican Socialist Party, bei der es bekanntlich in den siebziger Jahren zu Spannungen, Gewalttätigkeiten zwischen Mitgliedern und Ex-Mitgliedern und sogar zum Mordfall gekommen war, nicht folgen wollten, wurde beschlossen, alle Bindungen an die Organisation friedlich aufzuheben und die einzelnen Ex- Mitglieder in die politische Richtung gehen zu lassen, die sie einschlagen wollten. Einige schlossen sich der Provisional-Bewegung [Sinn Féin bzw. der IRA - Anm. d. Red.] an, manche traten der IRSP bei, während wieder andere sich von der politischen Szene vorübergehend oder auch ganz verabschiedeten. Um die doch sehr intensiven Erfahrungen aus den vorangegangenen Jahren zu verarbeiten, ging ich für vier bis fünf Jahre ins Ausland und betätigte mich beruflich auf dem Kontinent.

SB: An der Universität hatten Sie Wirtschaftswissenschaften studiert, ist das richtig?

MY: Ich besitze einen Universitätsabschluß in Ökonomie und Politikwissenschaft. Während der Achtziger hatte ich zusammen mit einem Freund eine Kooperative für Druckerzeugnisse gegründet. Wir druckten alles für die irischen Linken einschließlich der Provisional-Bewegung. Durch die Druckaufträge bekamen wir schon sehr früh mit Personalcomputern zu tun, die wir zum Setzen usw. benötigten. Wie der Zufall will, rief mich eines Tages der Betriebsleiter von Apple Computer in Cork an und fragte, was an dem Gerücht sei, daß ich griechisch spreche. Nachdem ich ihn darüber aufgeklärt hatte, daß es sich um kein Gerücht handelte und daß ich Grieche sei, fragte er mich, ob ich nicht nach Griechenland gehen könnte, um dort beim Aufbau einer Tochtergesellschaft von Apple mitzuwirken.

Da ich schon lange Zeit nicht mehr in Griechenland gewesen war, abgesehen von einigen gelegentlichen Besuchen, und einen Tapetenwechsel wollte, ergriff ich die Gelegenheit. So kam es, daß ich schließlich drei Jahre lang für Apple als Ausbildungsmanager tätig war, und zwar bei Rainbow Computers, einem Tochterunternehmen, das Apple in Griechenland gegründet hatte. Nachdem dieser Vertrag ausgelaufen war, arbeitete ich noch eine Reihe von Jahren bei einer anderen Firma in Griechenland, ebenfalls im Computersektor. Während meines Aufenthalts in Griechenland von 1987 bis 1992 begnügte ich mich damit, die politische Szene vor Ort zu beobachten. Denn die Arbeitsanforderungen bei Apple, mehrere hundert Menschen in relativ kurzen Zeitabschnitten auszubilden, ließ eine aktive politische Beteiligung nicht zu.

Die Jahre 1993 und 1994 nutzte ich dazu, bestimmte Teile des Mittleren Ostens, die ich schon lange kennenlernen wollte und bis dahin nicht gesehen hatte, zu bereisen. Ich besuchte Syrien, den Libanon und Ägypten. Im Verlauf meiner Tätigkeit in Griechenland hatte ich viele Menschen aus diesen Ländern kennengelernt, die dort im politischen Exil lebten. Daraus ergaben sich zahlreiche Kontakte gerade in diesen Ländern und zu Leuten, bei denen ich unterkommen konnte. Ich pflege diese Zeit als die zweite Phase meiner politischen Entwicklung zu bezeichnen. Ich lernte, was es bedeutet, wenn Menschen für ihre politischen Rechte und vielleicht sogar um das nackte Überleben kämpfen müssen.

Danach ging ich nach Irland zurück, um als Ausbildungsberater tätig zu werden. Das lief sehr gut; ich konnte einige lukrative Aufträge gewinnen. Langsam wurde ich auch wieder in der Politik aktiv. Aufgrund meiner Erfahrungen und des Nimbus um den Revolutionary Struggle, den Sie bereits erwähnten, entschied ich mich dafür, mich in der Antikriegsbewegung zu engagieren, anstatt erneut einer politischen Organisation beizutreten. 1996, nachdem ich Roger Cole kennengelernt hatte, half ich, die Peace and Neutrality Alliance zu gründen.

SB: Könnten Sie uns etwas über die neue United Left Alliance erzählen, die Ende November von der Socialist Party unter der Leitung des Europaabgeordneten für Dublin, Joe Higgins, der People Before Profit Alliance unter der Leitung des Ratsmitglieds von Dún Laoghaire Richard Boyd Barrett, der Workers and Unemployed Action Group in Tipperary [Grafschaft in der Provinz Munster, Irland - Anm. d. Red.] sowie einer Gruppe ehemaliger Mitglieder der Labour Partei gegründet wurde und die bei den kommenden Parlamentswahlen Kandidaten aufstellen will, und inwiefern Sie sich - falls überhaupt -an dieser Initiative beteiligen?

MY: Ich bin nicht persönlich daran beteiligt, auch wenn sich viele Leute, die ich aus der Antikriegsbewegung kenne, dafür engagieren. Grundlage dieses Wahlbündnisses stellt die Arbeit dar, die wir während der Kampagne gegen die Annahme des EU-Reformvertrags, auch Lissabon-Abkommen genannt, geleistet haben, sowie die Tatsache, daß die genannten Organisationen hierbei zum ersten Mal im Rahmen einer sehr großen Allianz kooperiert haben. Ich spreche von den vierzehn Organisationen, darunter die Socialist Party, die Socialist Workers Party und die diversen parteilosen Politiker, die hier gemeinsam versucht haben, das Lissabon-Abkommen zu Fall zu bringen.

SB: Und die im ersten Referendum 2008 gegen das gesamte politische Establishment den Sieg davontrugen.

MY: Außerdem erreichten wir den recht beträchtlichen Stimmenanteil von 35 Prozent bei der zweiten Volksbefragung 2009.

SB: Stimmt.

MY: Somit bildet dieses erstmalige Zusammenwirken jener Menschen und das gegenseitige Kennenlernen der unterschiedlichen politischen Ziele, die sie verbanden bzw. möglicherweise trennten, die Grundlage der heutigen United Left Alliance. Auch wenn wenig darüber gesprochen wird, gibt es bei allen konstituierenden Teilorganisationen der United Left Alliance einen starken trotzkistischen Einfluß, entweder von früher oder heute noch aktuell; es sind im Grunde trotzkistische Gruppen. Damit will ich keine Kritik üben, sondern sie nur ideologisch einordnen.

SB: Seitens der Mainstream-Medien wird häufig der Vorwurf erhoben, daß die People Before Profit Alliance nur ein Ableger der Socialist Workers Party sei. Inwieweit deckt sich dieser Vorwurf mit der Realität?

MY: Nein, das kann man so nicht sagen, aber es läßt sich nicht leugnen, daß viele führende Mitglieder der People Before Profit Alliance gleichzeitig noch aktive oder zumindest frühere Mitglieder der Socialist Workers Party sind. Es gibt aber auch eine Anzahl von unabhängigen Kandidaten, die wichtige Figuren in der People Before Profits Alliance sind, wie Joan Collins, über die wir bereits sprachen und die für den Wahlkreis Dublin South Central kandidieren wird. Ein anderes Beispiel ist Ailbhe Smyth, eine Dozentin am University College Dublin und eine bekannte Feministin.

Was Ihre Frage angeht, habe ich mich persönlich dafür entschieden, einzelne Persönlichkeiten innerhalb der United Left Alliance zu unterstützen, aber ihr selbst nicht beizutreten. Wenngleich ich die ULA für eine wichtige und positive Erscheinung im politischen System Irlands halte und glaube, daß sie gute Chancen hat, Sitze bei der bevorstehenden Wahl zu gewinnen, da die Bürger aufgebracht und von den etablierten Parteien enttäuscht sind, halte ich es doch für problematisch, daß sie bisher, offenbar aus taktischen Gründen, in ihrem Programm keine klare Position in Bezug auf Fragen der Außenpolitik Irlands, insbesondere was die EU betrifft, erkennen läßt. Wenn man nun versucht, dies mit Vertretern der ULA zu erörtern, bekommt man zwei Argumente zu hören: Erstens, daß die Wähler nicht an der Außenpolitik interessiert sind, und zweitens, daß dieses Thema das Wahlbündnis spalten könnte und das verloren ginge, was es zusammenhält. Ich glaube, die ULA-Vertreter irren sich, und ich halte beide Argumente für verfehlt. Ich glaube, daß sich die Menschen für das, was sich derzeit zwischen Irland und der EU abspielt, sehr wohl interessieren.

SB: Es gab allgemein Mißmut und große Enttäuschung, als Repräsentanten des Internationalen Währungsfonds, der Europäischen Zentralbank und der EU-Kommission im Oktober hier im Dubliner Regierungsviertel erschienen, um die Bedingungen des sogenannten "Rettungspakets" auszuhandeln und zu verkünden. Es erschien sogar in der Irish Times ein Leitartikel mit der Frage, ob dies das sei, wofür die Männer von 1916 [die getöteten Helden des Osteraufstandes - Anm. d. Red.] gekämpft und ihr Leben gegeben hatten.

MY: Was die ULA und ihre Position bezüglich der EU-Außenpolitik angeht, sehe ich zwei Schwierigkeiten. Erstens ist es das erklärte Ziel der Socialist Party - mit deren Vorsitzenden Joe Higgins ich schon bei zahlreichen Gelegenheiten zusammengearbeitet habe und den ich als Menschen sehr schätze -, eine Diktatur des Proletariats in ganz Europa zu errichten. Aber wenn man sich dafür ausspricht, die Diktatur des Proletariats in Europa anzustreben, sollte man vielleicht ein paar Zwischenschritte ins Auge fassen und sie erläutern können. Zumindest denke ich das.

SB: Sicher.

MY: Joe Higgins und die Socialist Party wollen jedoch weder über die Europäische Union noch über die Europäische Zentralbank et cetera diskutieren. Sie wiederholen nur ständig ihre Forderung, daß die Arbeiter die Macht übernehmen sollen, und das war's dann. Damit vertreten sie einen maximalistischen Standpunkt. Ich verstehe nicht, warum sie nicht eine strategische Positionierung zu Europa einnehmen, aber sie lehnen das ab.

Zweitens und im Zusammenhang mit Irland viel problematischer ist, daß die British Socialist Workers Party, die Mutterorganisation der Socialist Workers Party bei uns, einen Pro-EU-Standpunkt bezieht, weil in Großbritannien der gesamte rechte Flügel, das heißt die Konservativen, UKIP, die British National Party usw., erklärte Euroskeptiker sind. Um sich von dieser Position abzugrenzen, nimmt die britische SWP eine äußerst europafreundliche Haltung ein, an der sich auch ihre irischen Parteigenossen orientieren. Einer meiner Hauptkritikpunkte an der Socialist Workers Party während beider Kampagnen gegen die Annahme des Lissaboner Vertrags war, daß ein kleiner Teil ihrer Mitglieder zwar eine vehemente Gegenposition vertrat und auch eine sehr gute Webseite einrichtete, die Mehrheit sich jedoch passiv verhielt. Sie beteiligten sich nicht besonders an der Kampagne gegen Lissabon. Das ist eine besorgniserregende Entwicklung und einer der Gründe, warum ich zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht Mitglied der United Left Alliance sein möchte, auch wenn ich ihnen für die Parlamentswahlen alles Glück der Welt wünsche.

SB: Daß an der außenpolitischen Streitfrage EU das Interesse fehlt, ist natürlich eine Schwachstelle. Hinsichtlich der Frage, wer für den ökonomischen Zusammenbruch in Irland verantwortlich ist, scheinen die Medien und die öffentliche Meinung die Schuld allein der regierenden Partei Fianna Fáil, den irischen Banken sowie dem irischen Immobiliensektor zuzuschieben. Ausgerechnet an jenem Oktobertag 2009, als das Ergebnis des zweiten Lissaboner Referendums verkündet wurde, bei dem das pro-europäische Lager gewann, veröffentlichte der frühere Premierminister Garret Fitzgerald von der Fine Gael Party einen sehr aufschlußreichen Artikel in der Irish Times. Er machte darauf aufmerksam, daß Finanzminister Brian Lenihan im vorangegangenen Frühjahr versprochen hatte, den Haushaltsausgleich zu fünf Achteln aus Steuererhöhungen und zu drei Achteln aus Ausgabenkürzungen zu bewerkstelligen, inzwischen aber schlicht seine Meinung geändert hatte, so daß er die Staatsfinanzen nun zu acht Achteln durch Kürzungen ins Lot bringen wollte. In jenem Artikel äußerte Fitzgerald, der so pro-europäisch ist, wie man nur sein kann, den Verdacht, daß Lenihan von der EU-Kommission und der EZB dazu gezwungen worden war, seinen ursprünglichen Plan zu ändern. Wie groß, denken Sie, ist die Verantwortung, welche die EU-Institutionen an der Wirtschaftskrise hier in Irland tragen?

Michael Youlton und SB-Redakteur

Michael Youlton und SB-Redakteur

MY: Meiner Meinung nach tragen Fianna Fáil, die Grünen und die Progressive Democrats die gesamte politische Verantwortung, wobei letztere lange Zeit die treibende Kraft der neoliberalen Wirtschaftspolitik in Irland gewesen sind. Von wirtschaftlicher Seite her tragen die irischen Banken und Baukonzerne gemeinsam mit ihren Förderern, den großen europäischen Finanzinstituten und der EZB, die Verantwortung. Doch in Wirklichkeit geht den ganzen aktuellen Problemen eine schon Jahrzehnte zurückliegende, grundlegende Entscheidung voraus, nämlich ausländischen, hauptsächlich amerikanischen multinationalen Konzernen mit sehr niedrigen Steueranreizen die Niederlassung in Irland schmackhaft zu machen. Dies hatte ebenso die Umstrukturierung der gesamten irischen Ökonomie wie auch die Entvölkerung ganzer Landstriche, die Verdreifachung der Bevölkerungsdichte in Dublin usw. zur Folge. Das brachte alle möglichen Probleme mit sich. So gab es beispielsweise plötzlich Tausende von Familien, von denen beide Elternteile in Dublin arbeiteten, sich dort aber keine Wohnung für sich und ihre Kinder leisten konnten, daher neuen Wohnraum in 50 Meilen entfernten Ortschaften wie Kildare erwarben und dann jeden Tag mehrere Stunden im Pendelverkehr zubrachten.

Der größte Beitrag der Europäischen Union zur Entstehung dieser verrückten Situation waren Zinssenkungen, die nach der Einführung des Euro vorgenommen wurden. Das bedeutete, daß die großen Finanzinstitute hierzulande wie Bank of Ireland, Allied Irish Bank und Anglo Irish Bank, riesige Geldsummen zu unvorstellbar niedrigen Zinsen aus Europa leihen und diese Kredite entweder an Firmen, die Häuser bauten, oder an potentielle Käufer, welche dieselben Häuser erwarben, weitergeben konnten. Als ich Freunden in Europa erzählte, daß die Banken hier Hypotheken von 140 bis 150 Prozent des Kaufpreises eines Hauses vergaben, wollte mir das keiner glauben. Zum Vergleich, als ich vor 30 Jahren mein erstes und einziges Haus kaufte, mußte man 35 Prozent des Kaufpreises als Eigenkapital vorweisen, um eine Hypothek über die restlichen 65 Prozent von einer Bank zu bekommen. Diese Hypotheken von bis zu 140 Prozent stellten eine Falle dar, in die viele junge verheiratete Paare gegangen sind.

Das Platzen der Immobilienblase 2008 brachte für die Banken große Probleme mit sich, so daß sie den Staat um Hilfe bitten mußten. Es hat auch dazu geführt, daß viele führende Bauunternehmer Irlands pleite gingen. Allied Irish Bank, noch wenige Jahre zuvor an der Dubliner Börse mit einem Wert von 24 Milliarden Euro gehandelt, ist heute nur noch etwa 30 Millionen Euro wert und inzwischen verstaatlicht worden. Die Bauindustrie, einer der wichtigsten Arbeitgeber, hat Zehntausende Leute entlassen müssen. Nun sind die Banken in der schwierigen Lage, daß viele ihrer Kunden die Hypothekenrückzahlungen nicht mehr bedienen können, entweder weil der Wert ihres Hauses um die Hälfte des Kaufpreises gesunken ist oder weil sie ihren Job verloren haben. Somit ist die Verantwortung der EU mehr eine systemische, als die einzelner Politiker wie Angela Merkel oder Nicolas Sarkozy. Wenn man eine schwache Wirtschaft, wie die irische, in das Finanzsystem von Deutschland und Frankreich integriert, treten zwangsläufig Ungleichgewichte auf. Auch Griechenland hat derzeit unter ähnlichen Unverhältnismäßigkeiten zu leiden.

In Irland wurden einheimische Unternehmen kaputtgemacht und dem "freien Handel" geopfert. Dort, wo es früher Landwirtschaft gab, hat man jetzt eine Agrarindustrie. Leider erzeugt sie nur noch ein Viertel des Wertes, den die traditionelle irische Landwirtschaft erzielte. Heute wird von der Exportwirtschaft gesprochen, doch die besteht hauptsächlich aus ausländischen Großkonzernen, die zwar ihre Produktivität ständig erhöhen, aber keine neuen Arbeitsplätze schaffen. Gerade gestern ist die offizielle Anzahl der Menschen, die Arbeitslosengeld beziehen, erneut gestiegen. Die systemische Verantwortung der EU für diese Sachlage ist ein Thema, über das die United Left Alliance nicht diskutieren will, entweder weil sie wirklich nichts davon versteht oder weil sie glaubt, das Thema sei zu kompliziert, als daß es die Wähler begreifen könnten.

Während ich gestern in meinem Viertel Broschüren für Joan Collins verteilte, waren es vor allem zwei Sätze, die ich von neun aus zehn Menschen, mit denen ich sprach, zu hören bekam. Der eine war: "Wir werden diese Scheißkerle abwählen!" Und mit "Scheißkerle" meinten sie nicht nur Fianna Fáil, sondern das gesamte politische Establishment, einschließlich Fine Gael, der Labour Party sowie den Grünen. Das beunruhigt mich etwas, denn diese Alle-Politiker-sind-Diebe-Einstellung kann leicht in Rechtspopulismus umschlagen. Das zweite, das sie sagten, war: "Was ist mit Europa?" Die Leute erkundigten sich bei mir über Joan Collins' Einstellung zur EU. Und ich mußte ihnen raten, sie selbst zu fragen, denn in ihrem achtseitigen Wahlprospekt stand dazu kein einziges Wort.

SB: Es ist interessant, daß Sie die Aversion der United Left Alliance zum Thema Europa bzw. ihre Unfähigkeit, hier Stellung zu beziehen, kritisieren, denn dies scheint sich auch im aktuellen politischen Disput widerzuspiegeln, in dem Fragen zur aktuellen Krise und zu möglichen Korrekturen in der Wirtschaftspolitik Irlands von einer überflüssigen Debatte über die Relevanz des Senats, ob er abgeschafft werden sollte oder nicht, in den Schatten gestellt werden. Würden Sie dem zustimmen?

MY: Ich stimme dem vollkommen zu. Ich denke, das haben Fianna Fáil und in gewissem Ausmaß auch die Grünen zu verantworten. Um die Parlamentswahlen hinauszuschieben, bei denen laut allen Umfragen beide Parteien massive Stimmenverluste verzeichnen werden, haben sie die Verabschiedung des Haushaltsgesetzes 2011 in die Länge gezogen. Während nun die Opposition der Ansicht ist, dies könne man innerhalb einer Woche durch das Parlament bringen, behauptet die Regierungskoalition aus Fianna Fáil und Grünen, man bräuchte dafür mindestens sechs bis acht Wochen. Zu diesem Zeitpunkt mit der Diskussion über die Relevanz des Senats zu kommen, die eigentlich bereits seit zwanzig Jahren schwelt, und ein Referendum hierzu parallel zu den Parlamentswahlen anzuregen, ist nichts anderes als eine Verzögerungstaktik.

SB: Handelt es sich nicht auch um eine Ablenkung von der dringend notwendigen Debatte über alternative Lösungen zur gegenwärtigen Finanzkrise und über die künftige Ausrichtung der irischen Wirtschaft?

MY: Ohne Frage. Tatsächlich prophezeien die meisten Wirtschaftsexperten, die von ihrem Fach etwas verstehen, daß ein Staatsbankrott nicht mehr ausgeschlossen werden kann.

SB: Selbst Eamon Gilmore, der Vorsitzende der Labour Party und voraussichtliche Vizepremierminister einer Koalition mit Fine Gael nach der Wahl, erklärte in einer Stellungnahme gestern genau dasselbe.

MY: Das zeigt nur, in welcher Richtung sich die Dinge entwickeln. Aber es kommt ein weiterer wesentlicher Faktor hinzu. Jedesmal, wenn Finanzminister Lenihan vor die Presse tritt, beteuert er, die irische Wirtschaft sei gerade im Begriff, sich zu stabilisieren. Doch das Stabilisierungsprogramm, vom dem er spricht, beruht auf Einsparungen von über sechs Milliarden Euro im Jahre 2011, die durch Kürzungen und Steuererhöhungen erzielt werden sollen. Dies wird zu einer Senkung des Bruttoinlandsprodukts von etwa zwei bis zweieinhalb Prozent führen. Bei der EU spricht man von drei Prozent. Wenn man allerdings die Prognose der Regierung von zweieinhalb Prozent zur Grundlage nimmt und sie über einen Zeitraum von vier Jahren extrapoliert, bekommt man eine vollkommen neue Situation, in der das Bruttoinlandsprodukt in diesem Land in den kommenden Jahren um mehr als acht Prozent schrumpfen wird. Laut Berechnungen des Economic and Social Research Institute sinkt mit jedem Prozent des Bruttoinlandsproduktes auch die Kaufkraft der Konsumenten um ein Prozent.

Wenn aber die Verbraucher in den nächsten vier Jahren acht Prozent weniger konsumieren, was wird dann aus der einheimischen Wirtschaft? Man braucht den Exporthandel nicht ins Feld zu führen. Den Exporteuren wird es gut gehen, denn sie verkaufen ins Ausland. Allein gestern schloß die Handelskette Superquinn den größten Supermarkt in Naas, während der Fruchtsaftproduzent Britvic eine große Anzahl seiner Leute entließ. Solche Dinge wären noch vor zwei Jahren undenkbar gewesen. Zwei unserer besten Wirtschaftsexperten, Michael Taft, wissenschaftlicher Referent der Gewerkschaft UNITE und gemeinsam mit Paula Clancy an dem progressiven Thinktank TASC beteiligt, und Brian Lucy, der am Trinity College lehrt, erwarten, daß der irische Staat noch Ende des Jahres mit seinen finanziellen Verpflichtungen in Verzug geraten wird. Eine solche Entwicklung könnte entweder wie in Argentinien, wo sich das Land weigerte, seine Schulden zu begleichen, oder in einer Katastrophe enden, je nachdem, wie das Ganze gehandhabt wird.

SB: Oder die Situation könnte dazu ausgenutzt werden, um, wie es Naomi Klein in ihrem Buch "The Shock Doctrine" beschreibt, wichtigstes Staatseigentum, wie den Rundfunksender RTÉ, den Stromlieferant ESB, dem Gasmonopol Bord Gáis, die irische Forstverwaltung Coillte usw., zu Schleuderpreisen an wohlhabende Privatinvestoren zu verkaufen.

MY: Gleichzeitig rufen führende Vertreter des Establishments wie Colm McCarthy, Regierungsberater und Wirtschaftswissenschaftler am University College Dublin, die Öffentlichkeit zur Solidarität mit der gegenwärtigen Regierungskoalition auf. Doch sie wird innerhalb der nächsten Wochen von der politischen Bildfläche verschwinden.

SB: Darüber sind sich alle einig. Wie sieht denn Ihre persönliche Wahlprognose aus?

MY: Fianna Fáil wird eine vernichtende Niederlage erleiden. Ich erwarte, daß sie mindestens die Hälfte ihrer derzeitigen 71 Sitze verlieren werden. Ob ihnen tatsächlich nur 20 Sitze übrigbleiben, wie es einige aktuelle Umfrageergebnisse suggerieren, wird man sehen. Mir ist nicht ganz klar, was mit Fine Gael passieren wird. Ich kann mir nicht vorstellen, daß die Wähler, die Fianna Fáil den Rücken kehren, zu Fine Gael abwandern. Unabhängig davon wird sie wahrscheinlich die meisten Sitze erobern, aber gleichzeitig immer noch die Unterstützung der Labour Party benötigen, um eine regierungsfähige Mehrheit zu stellen. Sinn Féin wird sehr gut abschneiden. Ich glaube, daß die Erklärung, die ihr Parteivorsitzender Gerry Adams gestern abgab, nämlich daß sie bereit wäre, gemeinsam mit Labour eine Linksregierung zu bilden, ein geschickter Schachzug war. Im Gegensatz zu den sozialdemokratischen Berufspolitikern sähen es viele Labour-Anhänger lieber, wenn ihre Partei eine Links-Koalition mit Sinn Féin bildete, statt Fine Gael die noch fehlenden Sitze zu liefern. Ich glaube auch, daß viele Leute Sinn Féin wählen werden, nicht notwendigerweise weil sie mit ihrer Politik übereinstimmen, sondern weil sie die einzige Partei zu sein scheinen, deren Vertreter eine gewisse Ehrlichkeit ausstrahlen, und ihnen der Makel jahrelanger Hinterzimmerverhandlungen im Dáil nicht anhaftet.

SB: Im Unterschied zu Fianna Fáil, Fine Gael und Labour ist Sinn Féin die einzige Partei, die ein klassisches keynesianisches Konjunkturprogramm zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit vorgelegt hat.

MY: Richtig. Außerdem glaube ich, daß die United Left Alliance verhältnismäßig gut abschneiden wird.

SB: Einigen Kommentatoren meinen, sie könnte bis zu 16 oder 18 Sitzen bekommen.

MY: Ich glaube nicht, daß sie so erfolgreich sein wird. Doch selbst, wenn sie sechs Sitze im Dáil eroberten, wäre das ein sehr gutes Ergebnis. Es wäre das erste Mal, daß ein linkes Parteienbündnis, das diese Bezeichnung verdient, im irischen Parlament vertreten wäre.

SB: Gibt es Ihrer Ansicht nach eine reelle Chance, daß aus der Wahl eine Mehrheit hervorgehen könnte, die sich aus Labour, Sinn Féin, der ULA und vielleicht den einen oder anderen parteilosen TDs [Teachta Dála = Unterhausabgeordnete - Anm. d. Red.] zusammensetzte?

MY: Sie werden wahrscheinlich keine Mehrheit, aber eine doch ausreichend kräftige Minderheit bilden, die tatsächlich etwas in diesem Land verändern könnte, sollten sie denn zusammenarbeiten. Zu diesem Zweck findet eine Konferenz am 31. Januar im Gresham Hotel in Dublin statt. Man hat die Labour Party, Sinn Féin sowie die ULA dazu eingeladen, ihre Vertreter zu entsenden, die rundheraus erläutern sollten, was sie im Falle eines guten Wahlausgangs für die Linke mit ihren Stimmen im Parlament zu tun gedenken.

SB: Es gibt bei vielen die Befürchtung, daß Labour Fine Gael zu der nötigen Regierungsmehrheit verhelfen und damit deren Politik der Kürzungen und des sozialen Abbaus fördern wird, nicht wahr?

MY: Stimmt. Leider sind diese Ängste begründet. Innerhalb der Labour-Partei streben vor allem Ruairi Quinn und Pat Rabbitte eine Koalition mit Fine Gael an. Es ist sogar in Labour-Kreisen die Rede davon, daß die beiden zu Fine Gael überwechseln werden, falls sie sich nicht durchsetzen können.

SB: In den letzten Monaten ist aufgrund des anwachsenden linken Einflusses und der allgemeinen Unzufriedenheit mit den etablierten Parteien über die Möglichkeit spekuliert worden, daß Fianna Fáil und Fine Gael nach mehr als achtzig Jahren zu einer gemeinsamen Rechtspartei fusionieren könnten. Schon die Tatsache, daß Brian Lenihan im vergangenen Sommer als erster Vertreter von Fianna Fáil dazu eingeladen wurde, die Rede anläßlich der jährlichen Fine Gael Gedenkfeiern zu Ehren von Michael Collins in Béal na Blath zu halten, ist schon ein Zeichen, daß beide Parteien darauf vorbereitet sind, das Kriegsbeil aus dem Bürgerkrieg 1922-1923 zu begraben, um ihre Kräfte gegen die Linke zu vereinen. Solche Spekulationen mögen vielleicht ein wenig surreal anmuten, doch zeigen sie, zu welchen radikalen Maßnahmen die beiden traditionell größten Parteien Irlands und die konservativen Kräfte hinter ihnen bereit sind, um die Zügel in der Hand zu behalten.

MY: Dem stimme ich zu. Das Auftauchen gerade dieses Szenarios läßt meiner Ansicht nach auf das Ausmaß schließen, in dem die Kampagne gegen das Abkommen von Lissabon der politischen Elite Irlands geschadet hat. Einer meiner besten Freunde, der im Revolutionary Struggle mitgewirkt hat, Theo Dorgan, ein namhafter Dichter und ein Mitglied des Arts Council, ist Absolvent des University College Cork. Anfang Dezember begleitete ich ihn dorthin, weil er dort eine Rede über Irlands Zukunft vor einer Gruppe angehender Hochschulabsolventen halten sollte. Während seines Vortrags konnte ich sehen, daß etwa zwanzig oder dreißig junge Männer und Frauen weinten. Er erinnerte an die Zeit, in der er aufwuchs - er ist jetzt Ende fünfzig -, in der die Emigration für viele, wenn nicht die meisten jungen Menschen damals, oft die einzige Perspektive war. Auch er wanderte aus und ging drei Jahre nach England. Er forderte seine Zuhörer auf, falls sie nicht dem gleichen Prozeß unterworfen sein wollten - 40.000 Menschen sind schon im vergangenen Jahr emigriert, - ihre Hintern endlich in Bewegung zu setzen und sich politisch zu engagieren. Es spiele keine Rolle, wen sie zu wählen beabsichtigten, sagte er. Wichtig sei allein, die Parteien wissen zu lassen, daß man vorhabe, sich an der Wahl zu beteiligen, um sie dazu zu bringen, die Dinge zu ändern und nicht so weiterzumachen wie bisher.

Nun, hätte er diese Rede zwei oder drei Jahre früher gehalten, wäre er von den gleichen Studenten, allesamt Kinder des Keltischen Tigers, die sogenannten Tigerwelpen, ausgebuht worden. Doch in diesem Fall löste sein Vortrag, der am folgenden Tag in der Irish Times abgedruckt wurde, eine große öffentliche Debatte aus. Etwa zwanzig junge Akademiker gaben auf der Leserbriefseite zu Dorgans Aufruf "die Republik wieder aufzubauen" ihre Meinung kund. Achtzehn von ihnen gaben ihm Recht. Für mich zeigte die Reaktion dieser Graduierten, daß derzeit in Irland ein Verlangen nach Veränderung vorhanden ist, wie auch ein Wille, sie durchzusetzen. Dennoch ist die Situation dermaßen in Bewegung und instabil, daß es schwierig ist, genau vorherzusagen, was passieren wird.

SB: Gewisse Kommentatoren haben die Anzahl und Größe der Demonstrationen in Griechenland mit dem angeblich nicht besonders großen öffentlichen Aufbegehren hierzulande verglichen und gemeint, es herrsche von seiten der Menschen in Irland wohl ein größeres Maß an Gleichgültigkeit. An dieser Vermutung ist nichts Wahres, oder?

MY: Irland hat eine völlig andere politische Kultur als Griechenland. Die Menschen marschieren hier nicht gleich beim geringsten Anlaß los. Dennoch war die im letzten November von den Gewerkschaften organisierte Demonstration gegen das Austeritätsprogramm der Regierung wohl die größte, die Dublin seit den Anti-Steuer-Protesten Anfang der Achtziger gesehen hat. Mehr als 100.000 Menschen nahmen daran teil. Am bewegendsten war für mich, als Paula Clancy vom TASC bei der Schlußkundgebung vor dem Hauptpostamt die Proklamation von 1916 an genau der gleichen Stelle vortrug, an der Pádraig Pearse die irische Unabhängigkeit von Großbritannien 94 Jahre zuvor ausgerufen hatte. Das zeigte die anhaltende Bedeutung der Ideale jener Männer von 1916 wie soziale Gleichheit, wie auch das Bewußtsein eines nicht geringen Teiles des irischen Volkes, daß diese Ziele bis heute nicht realisiert worden sind.

SB: Es scheint so, als hätte sich Eamon Gilmore der aktuellen Stimmung angepaßt, als er unlängst den berühmten Ausspruch von James Connolly [ein weiterer Anführer des Aufstands von 1916] zitierte, "die Sache der Arbeit ist die Sache Irlands; die Sache Irlands ist Sache der Arbeit". Das hat man schon lange nicht mehr aus dem Munde eines Führers der Labour Party gehört (lacht).

MY: (lacht) Klar. Selbst die Irish Times will in dieser Strömung mitschwimmen. Nach jahrelangem schamlosen Eintritt für jene neoliberale Wirtschaftslehre, die für die derzeitige Misere verantwortlich ist, veröffentlichte sie plötzlich letzten November nach der Einigung über das IWF-EU-"Rettungspaket" den aufsehenerregenden Leitartikel, den Sie vorhin erwähnten und in dem auf die Opferbereitschaft der Männer von 1916 verwiesen wurde.

Derzeit ist die politische Landschaft in Irland so sehr in Bewegung, daß selbst ich noch nicht wirklich weiß, wem ich bei der Wahl meine Stimme geben werde. Was ich mir auf jedem Fall wünsche, wäre eine ernsthafte Debatte zu den außenpolitischen Implikationen der aktuellen Krise. Zu diesem Zweck haben PANA und die irische Antikriegsbewegung gerade einen Katalog von etwa acht Fragen entworfen, den wir an alle Wahlkandidaten schicken und in denen wir sie auffordern werden, zur Frage der EU, der NATO und der Nutzung des zivilen Flughafens Shannon für das Auftanken von US-Militärflugzeugen eindeutig Stellung zu beziehen.

SB: Einem unlängst von Wikileaks veröffentlichten Schreiben der US-Botschaft in Dublin konnte man entnehmen, wie besorgt die irische Regierung über die öffentliche Meinung hinsichtlich der Nutzung von Shannon durch ausländische Militärflugzeuge ist. Was halten Sie als jemand, der von Wirtschaftswissenschaft etwas versteht, von der These, daß die Finanzprobleme der kleineren EU-Mitgliedstaaten Teil eines Machtkampfes zwischen den USA und der EU sind, bei dem es um die Vorherrschaft auf dem globalen Devisenmarkt geht, und daß die Angriffe der Spekulanten auf Griechenland, Irland, Portugal und Spanien unter anderem dem Zweck dienen, den Euro zu schwächen und den Dollar aufzuwerten?

MY: Das ist ganz sicher der Fall und die Reaktion der europäischen Elite war genau darauf ausgerichtet, den Euro gegen weitere Attacken zu schützen und zu stärken. Doch ich glaube, es wurde ein Fehler gemacht, dessen Ursprünge bei den Abkommen von Amsterdam und Maastricht liegt. Dieser Fehler bestand darin, die Tatsache zu ignorieren, daß die EU nicht auf die gleiche Weise wie die Vereinten Staaten von Amerika funktioniert. Die Unterschiede zwischen den einzelnen Teilstaaten Amerikas sind nicht so groß wie beispielsweise die zwischen Griechenland, Portugal oder Irland auf der einen Seite und Deutschland auf der anderen.

SB: Vergleicht man Kalifornien mit Louisiana, so sind doch die wirtschaftlichen Unterschiede zwischen diesen beiden US-Bundesstaaten enorm.

Ort der Begegnung in einem Dubliner Seitensträßchen

Ort der Begegnung in einem Dubliner Seitensträßchen

MY: Das stimmt. Nur hat die Regierung von Louisiana beispielsweise kein Vetorecht über Entscheidungen der Bundesregierung in Washington. Was geschehen ist, ist folgendes: Bestimmte Länder - Griechenland und Irland sind gute Beispiele - wurden im Verlauf der letzten 15 Jahre komplett umstrukturiert. Vor 20 Jahren lagen Griechenlands Exporte beträchtlich höher als seine Importe. Das Land besaß eine eigene, einheimische Industrie und exportierte nicht nur Lebensmittel, sondern alle Arten von Gütern.

SB: Welche zum Beispiel?

MY: Elektrische Komponenten und Maschinenbauteile wurden exportiert. Die Schiffbauindustrie war ebenfalls sehr wichtig. Heutzutage ist in Griechenland der Wert der eingeführten Waren elfmal höher als der des Exports. In zwanzig Jahren hat sich ein Exportüberschuß in das Gegenteil, eine enorm negative Handelsbilanz, verkehrt, während ein Großteil der einheimischen Industrie beseitigt wurde. Wie konnte das geschehen? Griechische Kapitalisten, die Eigentümer von Unternehmen, haben verkauft oder ihre Betriebe eingestellt und die Einnahmen im Ausland investiert. Eine Folge davon ist, daß heute etwa ein Fünftel der Immobilien im Zentrum von London reichen Griechen gehört.

SB: Es sind also nicht nur die Reedereimagnaten, die ihr Geld aus Griechenland abgezogen haben?

MY: Überhaupt nicht. Viele reiche Griechen haben ihr Eigentum im eigenen Land und ihre Unternehmen mit hohem Gewinn veräußert. Und an wen haben sie verkauft? An noch größere ausländische Unternehmen wie Siemens. Und die ehemaligen Unternehmer und Manager, die geblieben sind, wurden dann zu Firmenvertretern der deutschen Unternehmen, die den griechischen Markt übernommen haben.

SB: Also hat überwiegend deutsches Kapital das einheimische Kapital in Griechenland verdrängt?

MY: Genau so ist es. Als ich dort aufwuchs, gab es noch sechs oder sieben große griechische Supermarktketten, die in den fünfziger und sechziger Jahren an die Stelle der örtlichen Lebensmittelgeschäfte getreten waren. Heute gibt es keine einzige dieser griechischen Supermarktketten mehr. Es gibt nur noch Aldi und Lidl oder eine Kette mit einem griechischen Namen, hinter dem sich aber deutsches Kapital verbirgt. Eine Folge all dieser Veränderungen ist, daß Griechenland, das beinahe ein Teil der Dritten Welt war, das Land mit dem höchsten Pro-Kopf-Konsum ist.

SB: Aber wie bezahlen sie das alles?

MY: Nun, ich sprach unlängst mit meiner Nichte. Sie hat beispielsweise elf Kreditkarten. Auf diese Weise wird bezahlt.

SB: Sie verschulden sich also.

MY: Ja. Sie machen auf privater ebenso wie auf staatlicher Ebene Schulden. Das ist auch der Grund für die Diskussion in Deutschland, wer für das griechische "Rettungspaket" aufkommen soll. Haben Sie den Artikel gelesen, den ich vor kurzem in der Irish Left Review veröffentlicht habe, in dem ich einen Beitrag des Stern-Magazins über Griechenland kritisierte?

SB: Ja.

MY: Wie wir alle wissen, war die Berichterstattung der deutschen Presse zur griechischen Schuldenkrise völlig daneben. Nichtsdestotrotz waren einige Kritikpunkte durchaus berechtigt. Ich muß das wissen. Ich bin schließlich in Griechenland aufgewachsen und habe auch als Erwachsener dort gelebt und gearbeitet. Wenn ich die Geschichten von Verwandten höre und nicht bloß in der Klatschpresse lese, daß junge Griechen jede Nacht feiern, es sich gut gehen lassen und bis zum Sieben- oder Achtfachen ihres Einkommens ausgeben, frage ich mich natürlich auch, was da los ist. Einerseits finde ich es großartig, daß sich junge Leute aus der Arbeiterklasse oder der Mittelschicht auf diese Weise amüsieren können. Andererseits stellt man sich doch die Frage, wie das ein Mensch mit einem Monatslohn zwischen 800 und 1000 Euro bezahlen will. Die Antwort lautet natürlich: Das kann er nicht. Und es verwundert wohl kaum, daß wir in unserer kleinen hellenischen Gemeinschaft hier in Dublin, in der ich aktives Mitglied bin und die auch ihre eigene Schule hat, allein in den letzten sechs Monaten die Ankunft von 30 bis 35 jungen Griechen verzeichnet haben.

SB: Wie wird sich Ihrer Ansicht nach die Situation in Griechenland weiterentwickeln? In den letzten Monaten ist es in Athen zu massiven, zum Teil gewaltsamen Protesten gegen die Bedingungen des IWF-EU-"Rettungspakets" gekommen, die durchzusetzen sich die sozialistische Regierung von George Papandreou verpflichtet hat. Aber haben die Demonstranten überhaupt etwas erreicht?

MY: Wenn auch sonst nichts, so konnte doch zumindest deutlich gemacht werden, wie groß der Widerstand gegen die Kürzungen und Steuererhöhungen ist. Bei den Regionalwahlen im letzten November mußten die beiden großen etablierten Parteien, Papandreous Sozialisten und die konservative Neue Demokratie, starke Einbußen als Folge ihrer Unterstützung bei den sozialen Sparmaßnahmen hinnehmen. Doch ich fürchte, es kommt noch etwas dazu, das die griechische Politik in den kommenden Monaten immens beeinflussen wird, und das ist die Situation auf Zypern. Diese könnte sich zuspitzen. Ein zweiter, dem [Kofi-]Annan-Plan ähnlicher Vorschlag ist bereits im Gespräch. Tatsächlich sind schon diese Woche zum ersten Mal seit Menschengedenken zweihundert Mitglieder von diversen linken Gruppierungen aus Griechenland auf die Insel gereist, um verschiedene Sitzungen zu organisieren und gemeinsam darüber zu diskutieren, was gerade zwischen der türkischen und der griechischen Seite passiert.

Ich mache mir Sorgen, daß in Zypern so etwas wie die türkische Invasion 1974 passieren könnte. Ganz gleich, was dort geschieht, wird sich das unverhältnismäßig auf Griechenland auswirken. Ebenso wie die Politiker in Irland das Thema EU zu vermeiden suchen, bemüht sich die griechische Führungsschicht, Zypern gar nicht erst zu erwähnen. Dafür, daß die Griechen jahrzehntelang behaupteten, Zypern gehöre ihnen, hört man jetzt in der öffentlichen Diskussion absolut nichts mehr darüber. Die Bedeutung Zyperns dürfte jeder verstehen, der das Buch "Strategic Depth" des amtierenden türkischen Außenministers Ahmed Davutoglu liest. Es ist ein unglaubliches Buch, in dem zum ersten Mal ein Politiker aus der modernen Türkei im Grunde genommen eine ideologische Vision, die er das Neo-Osmanische Reich nennt, entwirft. Es erklärt die neue türkische Politik gegenüber Israel, den arabischen Staaten, Zypern, Bosnien, Kosovo, der EU, dem Kaukasus, Rußland usw.

SB: Aber liegt seiner Vision nicht die Idee zugrunde, daß die Türkei harmonische Beziehungen zu all ihren Nachbarn unterhalten soll?

MY: Sicher. Doch definieren Sie einmal harmonisch. Auch George W. Bush pflegte zu sagen, die USA wünschten sich nichts mehr als harmonische Beziehungen zu allen anderen Staaten.

SB: Wollen Sie damit sagen, daß Davutoglu in seinem Buch für einen türkischen Imperialismus eintritt?

MY: Genau das will ich sagen, nur würde ich ihn neo-osmanischen Imperialismus nennen. Er lobt das alte Osmanische Reich und vergleicht es wohlwollend mit dem British Empire und anderen früheren europäischen Imperien. Er behauptet, es sei ein menschenfreundliches Reich gewesen, das in den unterworfenen Ländern niemanden dazu gezwungen habe, türkisch zu sprechen, und den Menschen dort erlaubt habe, ihre eigenen Schulen zu unterhalten. Letztere Behauptung trifft zwar durchaus zu, aber gleichwohl beuteten die Osmanen die unterworfenen Völker bis zum Äußersten mit Steuern aus.

SB: Dessen ungeachtet kann man die Außenpolitik der amtierenden türkischen Regierung nicht gerade als expansiv bezeichnen. Im Zuge der Finanzkrise in Griechenland bot Ankara Athen vor kurzem an, bestimmte Waffenprojekte nicht voranzutreiben, wenn Griechenland seinerseits die Bestellung von 200 Leopard-Panzern aus Deutschland storniere. Das Angebot, das beiden Ländern eine Menge Geld gespart und vielleicht einige der schlimmsten Haushaltskürzungen in Griechenland verhindert hätte, wurde von der Regierung in Athen abgelehnt, höchstwahrscheinlich aus Rücksichtnahme auf Berlin und die deutsche Rüstungsindustrie.

MY: Ja, der Vorgang ist mir bekannt, und seinetwegen muß man die Türken wegen ihres hilfreichen und freundlichen Angebots loben. Man kommt nicht umhin, den politischen Scharfsinn der amtierenden Führung in Ankara anzuerkennen. Der türkische Staat verfügt momentan über eine Führung, die sich weder amerikanischen noch russischen noch irgendwelchen anderen fremdländischen Interessen andient. Für die politische Elite in der Türkei kommen türkische Interessen immer an erster Stelle. Die Türkei ist ein großes Land mit einer Bevölkerung von fast neunzig Millionen Menschen und liegt auf einem strategisch wichtigen Knotenpunkt zwischen Europa und Asien.

Nehmen Sie beispielsweise die politischen Entscheidungen der Türkei in den letzten Jahren gegenüber den Nachbarländern Irak und Iran. So verweigerten die Türken Bush jun., die Nordtürkei als Basislager für seine Invasion des Irak zu benutzen. Und erst kürzlich haben sie den Amerikanern klar gemacht, daß sie eine militärische Lösung des andauernden Atomstreits Washingtons mit dem Iran nicht unterstützen werden.

SB: Demnächst wird die türkische Regierung in Istanbul Gastgeber der nächsten Gesprächsrunde zwischen den Vertretern der fünf ständigen Mitgliedstaaten des UN-Sicherheitsrates - China, Frankreich, Großbritannien, Rußland und die USA - plus Deutschland, der sogenannten 5+1-Gruppe, und des Irans sein, um einen Kompromiß im Streit um Teherans Atomprogramm zu finden.

MY: Ganz genau. Auch wenn ich die Türkei für eine kriegsbereite Imperialmacht halte, muß ich zugeben, daß ihre politische Führung klug ist. Ihre Mitglieder sind fast alle hochgebildet. Sie schauen nach außen, nicht wie die Griechen, die sich politisch nur um Belange im Innern kümmern. Gleichwohl hat der türkische Staat in den letzten Jahrzehnten mit extrem repressiven Maßnahmen die Linke im eigenen Land vernichtet. Viele Menschen wurden getötet. Deswegen gibt es aktuell keine ernstzunehmende Linke mehr in der Türkei. Also hat man es dort mit einem Land zu tun, in dem sich die vorherrschenden konservativen und nationalistischen Kräfte einer sehr schwachen politischen Opposition gegenüber sehen. Wenn Sie mich fragen würden, was in den nächsten paar Jahren in der Türkei passieren wird, müßte ich antworten, daß alles möglich erscheint. Wissen Sie eigentlich, wie viele Türken nach der Invasion nach Nordzypern zwangsumgesiedelt wurden, um das Ungleichgewicht der Bevölkerung auszugleichen? 400.000!

SB: Aber wäre es nicht auch möglich, daß die griechische Politelite die Zypernfrage aufgreift, um von der eigenen Finanzmisere abzulenken?

MY: Ja, das wäre sicher möglich. Ich werde Ihnen etwas erzählen, was mir kürzlich wirklich die Augen geöffnet hat. Ich war im vergangenen Herbst in Lissabon und besuchte dort eine Konferenz, bei der als Hauptredner Joáo Vale de Almeida, der frühere Kabinettschef des Präsidenten der EU-Kommission José Manuel Barosso und derzeitige EU-Botschafter in Washington, auftrat. Die Konferenz fand eine Woche vor dem eigentlichen NATO-Gipfel statt. In seiner Rede betonte Almeida, daß die Beziehung zwischen der NATO und der Europäischen Gemeinschaft seiner Meinung nach von entscheidender Bedeutung sei. Außerdem gab er an, daß die EU eine der NATO ebenbürtige, strategisch-militärische Allianz darstelle, was seiner Ansicht nach nicht alle begriffen hätten, jedoch allmählich immer mehr eingesehen werde. Er hob Irland und Zypern als die zwei großen Probleme hervor, die einer stärkeren Kooperation zwischen EU und NATO im Wege stünden - bei der Irischen Republik, einem EU-Mitgliedstaat, deshalb, weil sich die Menschen dort an die militärische Neutralität ihres Staats klammerten; und bei Zypern wegen der Weigerung der griechischen Zyprioten, die ebenfalls in der EU sind, sich der NATO anzuschließen bzw. die Besetzung des nördlichen Teils ihrer Insel durch Truppen des NATO-Mitglieds Türkei zu akzeptieren. Allein wegen der strategischen Bedeutung Zyperns wird sich meiner Meinung nach die Konfrontation zwischen den griechischen Zyprioten und der Türkei potentiell in etwa so destabilisierend auswirken wie der Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern.

SB: Herr Youlton, vorhin haben Sie prognostiziert, daß Irland noch vor Ende dieses Jahres aufgrund seiner Auslandsschulden der Staatsbankrott droht bzw. auf erneute Verhandlungen mit seinen Gläubigern bestehen wird. Sehen Sie die gleiche Entwicklung auch für Griechenland voraus?

MY: Unbedingt!

SB: Noch im Verlauf dieses Jahres?

MY: Etwa um den August herum, würde ich meinen.

SB: Und was wird dann Ihrer Meinung nach geschehen?

MY: Eines von zwei Dingen: Entweder bricht die Eurozone vollkommen auseinander und man muß die gemeinsame Währung aufgeben, oder es wird eine zweistufige Lösung geben. Das hieße: eine Euro-Währung für die starken Wirtschaften im Norden wie Deutschland, Österreich und die Niederlande und eine zweite Währung von geringerem Wert für die schwächeren EU-Staaten wie Irland, Portugal, Spanien und Griechenland. Frankreich würde vermutlich der ersten Gruppe beitreten, während man sich bei Italien nicht eindeutig festlegen kann. Ich denke, daß bis Mitte 2011 neue Entscheidungen getroffen werden müssen, denn die derzeitige Situation ist auf Dauer untragbar. Eine derartige zweistufige Lösung ließe die schwächeren Wirtschaften in der EU wieder konkurrenzfähig werden, denn die Zugehörigkeit zur Eurozone hat deren Handelsbilanzen doch sehr negativ beeinflußt und zu der aktuellen Krise beigetragen.

Eine sehr interessante Entwicklung, die bereits in Griechenland und Portugal beobachtet werden konnte, allerdings bisher noch nicht in Irland, manifestiert sich durch das Eingreifen Chinas. Die Chinesen haben in den letzten Monaten große Mengen griechischer und portugiesischer Staatsanleihen gekauft, womit das Finanzsystem beider Länder stabilisiert werden konnte. Die erforderlichen Summen fielen nicht einmal sehr hoch aus. Wenn ich mich richtig erinnere, kaufte China letzte Woche sowohl griechische als auch portugiesische Bonds jeweils im Wert von 5 Milliarden Euro; eine beträchtliche, aber nicht allzu übertriebene Summe bei Staaten, deren gesamte Auslandsverschuldung etwa 100 Milliarden Euro beträgt. In beiden Fällen wird die genannte Summe ausreichen, daß Athen und Lissabon ihren jeweiligen Finanzgeschäften einen weiteren Monat nachkommen können. In dem Monat darauf wird China, das derzeit aufgrund von Exportgeschäften einen enormen Überschuß an US-Dollars hat, vermutlich noch einmal das gleiche tun. Nur sollte man sich vielleicht fragen: wieso macht China das?

SB: Um den Euro als Konkurrenten zum Dollar auf dem Devisenmarkt zu erhalten?

MY: Das wäre das mindeste. Nun gut, die Chinesen haben bisher noch nicht damit angefangen, groß in Irland zu investieren. Zwar wird davon gesprochen, daß sie einen riesigen Industriepark in Athlone bauen wollen, um ihren Export in die EU hinein zu erweitern. Dennoch sind solche Entwicklungen wie die chinesische Unterstützung des Euro Dinge, über die meiner Ansicht nach in der Öffentlichkeit mehr diskutiert werden sollte, wenn es um die irische Außenpolitik geht. Deshalb habe ich mich 2008 und 2009 bei der Kampagne gegen den EU-Reformvertrag engagiert. Ich sah, daß das Abkommen von Lissabon einen enormen Einfluß auf Irlands Zukunft wie auch auf die der EU als Ganzes nehmen würde, und daß zunächst einfach nicht darüber gesprochen wurde. Dank unserer Kampagne wurde der Lissaboner Vertrag nun zumindest hier in Irland viel breiter diskutiert als in den anderen EU-Staaten, in denen man darüber in den Parlamenten und nicht in einem Volksentscheid abgestimmt hat.

SB: Was Sie im Grunde genommen sagen wollen, ist, daß es in der globalisierten Welt für kein Land möglich sein kann, ernsthaft über die eigene Finanzpolitik zu entscheiden, ohne dabei eine öffentliche Debatte über die Außenpolitik, den internationalen Handel usw. zu führen. Ist das richtig?

MY: Absolut! Versucht man es, ohne Rücksicht auf die Situation in der Außenwelt, kommt man zu keinen zweckmäßigen Lösungen. Man endet in der Sackgasse wie Finanzminister Brian Lenihan, der sich angesichts der aktuellen Krise darauf beschränkt, auf Wachstumsindikatoren im Exportsektor hinzuweisen, als ob diese die Wirtschaft als Ganzes retten könnten. Er redet nun schon seit 18 Monaten davon, daß die Wirtschaftslage in Irland dabei wäre, sich zu stabilisieren. Und die ganze Zeit über wird es nur noch schlimmer.

SB: Herr Youlton, vielen Dank für das Gespräch.

18. Februar 2011

Dublin zum Jahreswechsel 2010/2011 nicht nur wettermäßig eingetrübt

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