Schattenblick →INFOPOOL →POLITIK → REPORT

INTERVIEW/107: Kongreß Kurdischer Aufbruch - Ann-Kristin Kowarsch zur kurdischen Frauenbewegung (SB)


"Kurdische Frauen, die angefangen haben, sich politisch zu engagieren, sind auch sehr schnell mit den Grenzen des patriarchalen Systems konfrontiert worden"

Interview mit Ann-Kristin Kowarsch am 4. Februar 2012 in der Universität Hamburg - 1. Teil


Die freiberufliche Journalistin Ann-Kristin Kowarsch, seit langem in der Kurdensolidarität aktiv, hielt am Eröffnungsabend des Hamburger Kongresses "Die kapitalistische Moderne herausfordern - Alternative Konzepte und der kurdische Aufbruch" im Rahmen des ersten thematischen Schwerpunktes, der "Suche nach einer neuen Sozialwissenschaft", einen einführenden Vortrag. Die Referentin griff darin die Frage nach "Alternativen zu den etablierten Sozialwissenschaften" auf, wobei sie eine Verbindung zum Kernthema des Kongresses, dem Zusammenhang zwischen politischen Bewegungen, wie sie derzeit weltweit als antikapitalistische Proteste in Erscheinung treten, und der sogenannten Kurdenfrage, herstellte. Am Rande des Kongresses bot sich dem Schattenblick die Gelegenheit zu einem längeren Gespräch, das wir in zwei Teilen veröffentlichen.

Ann-Kristin Kowarsch im Porträt - Foto: © 2012 by Schattenblick

Ann-Kristin Kowarsch
Foto: © 2012 by Schattenblick

Schattenblick (SB): Ann-Kristin, du bist seit langem in internationalistischen und feministischen Zusammenhängen aktiv. Wie bist du auf die Kurdenfrage gestoßen und welchen Stellenwert nimmt die Kurdensolidarität für dich ein?

Ann-Kristin Kowarsch (AK): Der Anfangspunkt, der mich zu der Zusammenarbeit mit kurdischen Freundinnen und Freunden geführt hat, war für mich die antifaschistische Arbeit in Westdeutschland. Anfang der 1990er Jahre hatte es sehr viele faschistische Angriffe gegeben. Zugleich aber haben wir in den Antifa-Gruppen auch gemerkt, daß wir nicht frei von patriarchalen Strukturen sind. Also wurde so etwas wie eine "Fantifa", das heißt eine Frauen-Antifa-Struktur, aufgebaut. Das war in einer Zeit, in der sich der Krieg der türkischen Regierung gegen die kurdische Bevölkerung sehr zugespitzt hatte. Zugleich wurden Waffen von der deutschen Regierung an die Türkei geliefert, und in Deutschland wurde das PKK-Verbot ausgesprochen [1]. Das hat zu einer sehr starken Kriminalisierung geführt. Vor diesem Hintergrund ergab dies einerseits eine Analyse dessen, was Faschismus in Deutschland bedeutete; andererseits war klar, daß Deutschland auch weiterhin daran mitwirkte, in anderen Ländern faschistische Regime aufrechtzuerhalten. Das war eigentlich für mich der erste Punkt, an dem ich angefangen habe, mich genauer dafür zu interessieren, was in Kurdistan los ist. Das war ein Thema, über das in den Mainstream-Medien hier nicht viel berichtet wurde.

Ich habe dann Kontakt zu Flüchtlingsfamilien aufgenommen, die wegen des Krieges geflohen waren. Je mehr ich mich mit ihnen beschäftigt habe, umso mehr habe ich auch gesehen, daß innerhalb der kurdischen Bewegung ein Selbstorganisierungsprozeß der Frauen begonnen hatte. 1995 ist in den Bergen unter dem Namen "Verband der freien Frauen Kurdistans" (YAJK) ein kurdischer Frauenverband gegründet worden. Da habe ich mich gefragt, wie es parallel in verschiedenen Ländern zu solchen Prozessen sich organisierender Frauen kommen konnte. Zugleich hat es einen Funken gegeben, der diese Diskussion auch hier in Europa ermöglichte. Am 8. März 1996 gab es eine Demo in Bonn, zu der kurdische und deutsche Frauen und Frauenzusammenhänge gemeinsam mobilisiert hatten. Das war eigentlich der Anfangspunkt meiner Aktivitäten.

SB: Das bringt mich gleich zu der zweiten Frage. Du bist in einem Forschungsprojekt kurdischer Migrantinnen aktiv. Um was handelt es sich dabei? Könntest du dieses Projekt genauer vorstellen?

AK: Seit 2001 habe ich in den Niederlanden am Aufbau der "International Free Womens Foundation" [2] mitgearbeitet. Das ist ein Projekt, das von kurdischen, türkischen, niederländischen und deutschen Frauen gemeinsam begonnen wurde. Ein Teil dieser Arbeit bestand darin, als unabhängiges Projekt, das sich nicht - nennen wir es einmal so - in eine Abhängigkeit von staatlicher Finanzierung begibt, zu versuchen, Ressourcen aufzubauen, damit Frauen sich selbst organisieren können und damit es Möglichkeiten gibt, so etwas wie eine unabhängige Forschung und Wissenschaft zu entwickeln und eine Solidarität mit anderen Frauenprojekten auch im Herkunftsland aufzubauen, praktisch und materiell.

Ein weiterer Ansatz von uns bestand darin, daß wir gesehen bzw. kurdische Frauen immer wieder zum Ausdruck gebracht haben, daß es eine Vielzahl von Problemen gibt, mit denen sie hier in Europa als Migrantinnen, als Kurdinnen und als Frauen konfrontiert sind. Im Rahmen der Stiftungsarbeit, aber auch in Zusammenarbeit mit anderen Fraueneinrichtungen haben wir versucht, eine bessere Handlungsperspektive zu entwickeln und gefragt: Was muß dringend getan werden? Welche Bedürfnisse haben kurdische Frauen und auf welche Art und Weise können sie, indem sie sich selbst organisieren, eigene Lösungen schaffen? Das war für uns der Anlaß zu sagen, wir möchten gerne eine wissenschaftliche Arbeit zu diesem Thema machen, um überhaupt erst einmal festzustellen, was die Hauptgründe für die Traumatisierung kurdischer Frauen sind, die als Migrantinnen in Europa leben. Wir haben dann im Rahmen eines Projekts, das vom Daphne-Programm der EU gefördert wurde, in Zusammenarbeit mit einer Universität in Utrecht eine Studie durchgeführt, bei der wir über eintausend kurdische Frauen in Europa befragt haben, aber auch Kurdinnen, die von der internen Flucht betroffen sind, die also entweder aus den kurdischen Gebieten in die türkischen Metropolen oder innerhalb Kurdistans vertrieben wurden und dort als Migrantinnen leben.

SB: Die Frauenbewegung in der Bundesrepublik hat sich, sofern sich das überhaupt generalisieren läßt, von der Linken eher gelöst oder auch - durchaus konfrontativ - unabhängig gemacht. Ist das deiner Erfahrung nach in der kurdischen Frauenbewegung anders? Könnte frau sagen, daß kurdische Frauen diesen Unterschied nicht machen und eine Synthese zwischen ihrem Befreiungskampf und dem des kurdischen Volkes bereits hergestellt haben?

AK: Meiner Meinung nach gibt es gewisse Unterschiede in der Entwicklungsgeschichte. Wenn wir jetzt einmal die feministische Bewegungsgeschichte in Europa untersuchen, sehen wir, daß es da Momente gegeben hat, in denen Frauen sozusagen aus dem Klassenkampf heraus erkannt haben, daß sie innerhalb dieses Kampfes als Frauen noch einmal eine gesonderte Klasse darstellen. Zu diesem Thema haben dann Frauenkongresse oder ähnliche Veranstaltungen stattgefunden.

In der kurdischen Bewegung war es so, daß aufgrund dessen, daß die kolonialistische Politik des türkischen Staates so bestimmend war, das Moment der nationalen Unterdrückung auch für die Frauen im Vordergrund gestanden hat. Über dieses Bewußtsein, als Kurden unterdrückt zu sein und als Kurden überhaupt zu existieren, eine eigene Sprache und auch das Recht zu haben, die eigene Kultur und Sprache zu praktizieren, sind kurdische Frauen, die angefangen haben, sich politisch zu engagieren, auch sehr schnell mit den Grenzen des patriarchalen Systems konfrontiert worden. Die politische Mobilisierung anhand der nationalen Frage hat dazu geführt, daß Frauen sich an Volksaufständen beteiligt haben, was aber nicht unbedingt sofort von den Familien unterstützt wurde. Das hat sozusagen einen Kampf an zwei Fronten bedeutet. Auf diesem Wege hat dann eine noch viel größere Auseinandersetzung mit der Situation oder Rolle als Frau, also mit dem Geschlechterwiderspruch in der Gesellschaft, stattgefunden.

SB: Diese Kämpfe haben sich gegenseitig befördert?

AK: Ja. Das hat dann aufgrund dieser Umstände eine ganz andere Dynamik entfaltet. Ich denke, daß diese Auseinandersetzung dann eine sehr radikale Form angenommen hat in Hinsicht auf die patriarchalen Verhältnisse, die nicht nur auf die Familie, die Gesellschaftsstrukturen oder die staatliche Unterdrückung begrenzt, sondern zugleich auch innerhalb der Organisationen thematisiert wurden. In der kurdischen Bewegung haben die Frauen für sich selber eingefordert: Wir möchten nicht nur Teil eines Ganzen sein, sondern innerhalb des Ganzen unsere eigene Farbe, unsere eigene Position auch ausdrücken können. Als einzelne werden wir untergebuttert, deswegen müssen wir uns auch innerhalb dieses Prozesses als Frauen organisieren.

SB: In der sogenannten Gender-Debatte oder der ganzen Frage der Geschlechtlichkeit gibt es hier in Deutschland im Zusammenhang mit der Debatte um verschiedene Geschlechter zwischen den Geschlechtern die etwas zugespitzte Frage nach dem Konstrukt des Geschlechts überhaupt. Wenn ihr von eurer Perspektive aus von Geschlechterfreiheit sprecht, würdet ihr das eher in einem poststrukturalistischen Sinne bezogen auf Judith Butler [3] verstehen oder wie würdet ihr die Aufhebung der Geschlechterrollen, die ich mir jetzt darunter vorstellen würde, sonst auffassen?

AK: Es gibt Punkte, die sich überschneiden, aber auch welche, wo es Unterschiede gibt. Zunächst einmal ist zu sagen, daß das Geschlecht an dem Punkt der patriarchalen Herrschaft als eine soziale Kategorie verwendet wird, um Herrschaftsstrukturen zu legitimieren. Biologische Unterschiede spielen da eigentlich nur eine zweitrangige Rolle. Weil diese Form von Geschlecht und Geschlechterrollen sozial konstruiert wurde, gibt es auch die Möglichkeit, sie zu verändern. Das ist die eine Seite, wo es Ähnlichkeiten gibt. Die Unterschiede, würde ich sagen, bestehen im Diskurs um Butlers Thesen. Ich finde es schwierig zu sagen, alles sei nur ein Konstrukt und wenn wir uns das wegdenken, sei da auch nichts mehr. Das läßt wiederum die strukturelle und ideologische Form der Ausbeutung, die alle Lebensbereiche der Frauen betrifft, außer acht. Damit wird diese Realität einfach verleugnet, und dann wird es schwer, dagegen anzukämpfen und ein Bewußtsein für diese Unterdrückungsmechanismen zu gewinnen. Es wird dann auch schwer zu sehen, was den Frauen insbesondere in der Geschichte alles geraubt wurde und was sie sich wieder zurückerobern müssen. Das wird nicht leichter, würden wir so tun, als wäre die Situation, in der wir leben, der Normalzustand. Es hat zum Beispiel diesen Spruch von Erdogan [4] gegeben: Wenn man nicht nachdenkt, gibt es die kurdische Frage nicht. Das führt für mich in der Konsequenz ein bißchen in diese Richtung: Wenn wir uns das Geschlecht wegdenken, dann gibt es kein Geschlecht mehr. Aber natürlich denke ich, daß es nicht nur zwei geschlechtliche Kategorien gibt, nicht nur Attribute für Frauen und welche, die irgendwie für Männer zutreffend sind. Diese Rollenverteilung ist eine Zuschreibung bestimmter Eigenschaften, durch die die geschlechterspezifische Sozialisation verstärkt wird.

SB: Das ist das hauptsächliche Problem zwischen dem objektivem Gewaltverhältnis, das unbestreitbar ist, und Identitätspolitiken, die einen immer weiteren Raum einnehmen durchaus zu Lasten gesellschaftlicher Konflikte, die gar nicht mehr ausgetragen werden. Wenn die Rollenzuweisung so auf die Spitze getrieben wird, daß die Identitäten sehr stark festgeschrieben werden, kommt es mir fast so vor, als würde man den umgekehrten Prozeß zu der Aufhebung dieses Gewaltverhältnisses betreiben, das sich irgendwie schon wieder befestigt, wenn gesagt wird: Das ist ein Mann, das ist eine Frau, und nun muß frau/man eben einmal "gendern" in der Sprache und all dies.

AK: Das ist eine sehr interessante Frage, über die wir mit verschiedenen Frauen diskutiert haben. In meinem Beitrag [5] kam die Frage nach Rationalität und analytischem Verstand auf, was sozusagen als männliche und gültige Denkform propagiert wird, wohingegen eine andere Form von Verstand und Rationalität abgewertet wird. Männer wurden darauf gedrillt zu glauben, daß sie irgendwie logisch denken und einen überlegenen mathematischen Verstand haben. Frauen wurde beigebracht zu denken: Ihr könnt das nicht, ihr müßt euch da raushalten, das ist nicht eure Sache. Das hat nicht nur mit Sozialisation innerhalb einer kleinen Familie zu tun, sondern mit einer gesellschaftlichen Sozialisation.

Aber auf der anderen Seite nun den Umkehrschluß daraus zu ziehen und zu sagen: Nein, auch als Frau kann ich logisch denken und brauche keine Gefühle, wäre rückschrittlich und eine Verinnerlichung dieser Rollenzuschreibung. Gefühle abzulehnen, denke ich, würde uns total viel rauben, und das führt dann auch dazu, daß es solche Frauen gibt wie Margaret Thatcher, Angela Merkel und so weiter (lacht). Ich denke, daß es wichtig ist, nach den Elementen des analytischen Verstandes zu suchen, die für die Menschheit zu nutzen sind, sowie den positiven Seiten des emotionalen Verstandes und zu fragen, welche Wahrnehmungsformen es außerhalb dessen noch gibt und wie sich das zusammenzubringen läßt, um nicht diesem Individualismus anheimzufallen, das eine sei gut, das andere schlecht. Wenn wir als Frauen schlecht gemacht wurden, kann es nicht darum gehen, daß wir, um uns aus dieser Rolle zu lösen, so werden wie die Männer.

SB: Ein gutes Fazit. Vielen Dank, Ann-Kristin, für dieses Gespräch.

(Der 2. Teil dieses Interviews erscheint in Kürze)

Ann-Kristin Kowarsch mit SB-Redakteurin - Foto: © 2012 by Schattenblick

Ann-Kristin Kowarsch mit SB-Redakteurin
Foto: © 2012 by Schattenblick

Anmerkungen:

[1] Nachdem die türkische Armee am 22. Oktober 1993 die kurdische Stadt Lice in der Provinz Diyarbakier bombardiert hatte, war es in europäischen Staaten zu Angriffen aufgebrachter Kurden auf türkische Einrichtungen, Reisebüros und Cafés gekommen, bei denen ein Kaffeehausbesitzer getötet wurde. Obwohl der Kurdischen Arbeiterpartei (PKK) eine Verantwortung für diese Proteste nicht nachgewiesen werden konnte, verfügte der damalige deutsche Bundesinnenminister Manfred Kanther (CDU) am 26. November 1993 das bis heute gültige Betätigungsverbot für die PKK, die "Nationale Befreiungsfront Kurdistans" (ERNK) sowie 29 örtliche Vereine.
Quelle: Tödliche Waffenbrüderschaft. Die deutsche Türkeipolitik und die Kurden. Von Dr. Nikolaus Brauns. Auf Kurdisch in Le Monde diplomatique kurdi im Juni 2010 erschienen. Deutsche Fassung:
http://www.lemonde-kurdi.com/siyaseta-alman-kurd-u-tirkiye

[2] Internationale Freie Frauen Stiftung (IFWF), http://www.freewomensfoundation.org

[3] Die US-amerikanische Philosophin und Philologin Judith Butler hat in ihren Arbeiten die normierende Wirkung des zweigeschlechtlichen Denkens aufgezeigt. Ihr Ansatz, die Kategorie Frau als Subjekt des Feminismus in Frage zu stellen, hatte in Deutschland zu heftigen Diskussionen in der feministischen Theorie geführt.

[4] Recep Tayyip Erdogan, Ministerpräsident der Türkei von der als gemäßigt islamisch geltenden konservativen Regierungspartei AKP (Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung)

[5] Redebeitrag von Ann-Kristin Kowarsch auf dem Kongreß: "Alternativen zu den etablierten Sozialwissenschaften" in Session 1: Die Suche nach einer neuen Sozialwissenschaft, siehe Bericht im Schattenblick: INFOPOOL -> POLITIK -> REPORT: BERICHT/096

(Fortsetzung folgt)


16. Februar 2012