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INTERVIEW/117: Reiner Braun über den NATO-Gegengipfel in Chicago (SB)


Interview mit Friedensaktivisten Rainer Braun von IALANA



Anläßlich des Treffens der 28 Staats- und Regierungschefs der NATO, der am 20. und 21. Mai in Chicago stattfand, haben Kriegsgegner und Friedensaktivisten vornehmlich aus Europa und Nordamerika in die Windy City zum Gegengipfel eingeladen. Auf dem Counter-Summit for Peace & Economic Justice am 18. und 19. Mai gab es Workshops zu Themen wie Afghanistan, Raketenabwehr, sozialer Gerechtigkeit, der neuen Pazifik-Strategie der USA, Umweltschäden infolge der Militarisierung, der Gefahr eines neuen Kalten Krieges mit Rußland u. v. m. Am Sonntag, dem 20. Mai, kam es zum großen Protestmarsch durch Chicago zum Veranstaltungsort des NATO-Gipfels im Kongreßzentrum McCormick Place am Ufer des Michigan Sees. Zu den zahlreichen Gruppen, die am Zustandekommen der umfangreichen NATO-Gegenversanstaltung beteiligt waren, gehört die Friedensorganisation International Association of Lawyers Against Nuclear Arms (IALANA), die neben ihrem Hauptsitz in Berlin auch Büros in New York, Wellington und Columbo unterhält. Am 21. Mai stellte sich per Skype IALANA-Geschäftsführer Reiner Braun dem Schattenblick für einige Fragen über das friedenspolitische Treiben der vorangegangenen Tagen in Chicago zur Verfügung.

Ilana-Delegation mitten im Protestmarsch - Foto: © 2012 by Lucas Wirl

Mitglieder der ILANA-Delegation in Chicago - Rainer Braun hält, von ihm aus gesehen, die linke Seite der Fahne
Foto: © 2012 by Lucas Wirl

Schattenblick: Herr Braun, wie viele Menschen haben am Anti-NATO-Treffen in Chicago teilgenommen, und inwieweit ist das Treffen von der Öffentlichkeit in Chicago beziehungsweise in den USA überhaupt wahrgenommen worden?

Braun: Wir hatten gestern eine Großdemonstration mit mehr als 15.000 Teilnehmerinnen und Teilnehmern. Es war eine wirklich sehr eindrucksvolle Demonstration besonders von vielen jungen Menschen. Der NATO-Gipfel hier ist ein ausgesprochenes Medienevent, und die Kritiker des Gipfels spielen in den Medien durchaus eine wichtige Rolle. Wir waren gestern mit der Demonstration in allen amerikanischen Fernseh- und Nachrichtensendungen sogar an herausgehobener Stelle. Wir sind sehr positiv in den Medien aufgenommen worden. Erstmals seit 20 oder 25 Jahren spielen die Kritiker der NATO in der öffentlichen Debatte in den USA eine Rolle. Das werten wir auch als eines der sehr positiven Ergebnisse unserer vielfältigen Protestaktionen.

SB: Meine Frage richtet sich zunächst auf Ihre Konferenz mit den verschiedenen Referenten. Inwieweit ist sie in Chicago und darüber hinaus wahrgenommen worden?

Braun: Die Medienreaktion gilt auch für den Counter-Summit, an dem 20‍ ‍Agenturen und Medienstationen teilgenommen haben. Es ist hier in Chicago in allen Chicagoer Zeitungen berichtet worden. Ich selbst hatte die große Gelegenheit, in der berühmten Radiosendung Democracy Now! mit Amy Goodman zu sprechen. Wir können hier über vieles sehr kritisch nachdenken, unter anderem gehört sicher auch die Polizeipräsenz dazu, aber ich glaube, daß die Medienerfolge, die durch die intensive Arbeit unserer amerikanischen Kolleginnen und Kollegen herbeigeführt worden sind, wirklich beachtlich sind.

SB: Auf dieser Seite des Atlantiks hat man aus der Berichterstattung den Eindruck, daß es den NATO-Gegnern einigermaßen gelungen ist, die Frage der Antimilitarisierung auch mit der sozialen Frage zu verbinden. Würden Sie dem zustimmen?

Braun: Absolut. Books or bombs, job or war, das waren die bestimmenden Themen dieses Gipfels. Die gigantische soziale Verelendung, auf die man auch hier in Chicago an fast jeder Ecke trifft , schlägt sich in den Protestaktionen grundsätzlich nieder. Es ist ein Land, das wirklich vor einer Entscheidungssituation steht. Wenn es so weitermachen will, geht es, salopp gesprochen, vor die Hunde. Hier geht es wirklich um die Frage einer umfassenden Abrüstung und Entmilitarisierung, die weit über die Reduzierung der Rüstungshaushalte hinausgeht - oder der Fortsetzung eines Katastrophenkurses, der ich weiß nicht wohin führen soll, sicher aber nicht zu mehr sozialer Sicherheit für die Menschen.

SB: Den Nachrichten zufolge ist auch der Sicherheitsaufwand gigantisch. Wie ist Ihr Eindruck, können Sie die Maßnahmen in Chicago mit denen von Strasbourg 2009 vergleichen oder gehen sie weit darüber hinaus?

Braun: Man muß hier unterscheiden. In Strasbourg 2009 hatte die Provokation des französischen Präsidenten vollständig durchgeschlagen. Die Provokateure hatten, unterstützt durch bestimmte anarchistische Elemente, den Bürgerkrieg gesucht und auch gefunden. In Strasbourg selbst hatte ein gigantisches Polizeiaufgebot die kleinsten Aktionen der Kriegsgegner begleitet, war aber lange nicht so provozierend und provokativ in die Demonstrationen hineingegangen. Die gesamte Demonstration gestern in Chicago ist auf allen Seiten mit, sie sagen 3.000, ich würde eher sagen 5.000 Polizeikräften begleitet worden, die sich aber weitestgehend zurückgehalten haben. Es wird schon versucht, vor der internationalen Öffentlichkeit ein scheindemokratisches Bild der USA zu bewahren, daß sie eben nicht ein vollständiger Polizeistaat sind. Viele Indizien auf der Demonstration sprechen jedoch durchaus für einen Polizeistaat.

SB: In allen Medien hat die Festnahme dreier mutmaßlicher Terroristen die Berichterstattung über die Proteste überschattet. Was haben Sie persönlich von dem Vorfall mitbekommen und wie würden sie ihn bewerten, denn nach Ansicht der ACLU und anderen Bürgerrechtsgruppen scheint eine Polizeispitzelaktion dahinterzustecken.

Braun: Ich habe nicht mehr Informationen als Sie. Es gibt ein paar auffällige Indizien. Das erste ist, wann diese Aktion stattgefunden hat. Sie paßte genau, um von den Protestaktionen und der inhaltlichen Diskussion über die NATO abzulenken. Das zweite ist, daß das Verhalten der Polizei geradezu danach schreit, bestimmte Provokationen hervorzurufen. Von daher ist mir eine ganze Reihe von sehr kritischen Stellungnahmen bekannt, die ich persönlich überhaupt nicht überprüfen kann, weil sie in der gesamten Debatte hier in dieser Stadt keine Rolle gespielt hat. Als jemand aus der IALANA würde ich sagen, daß erst einmal immer das Unschuldsprinzip gilt - in dubio pro reo. Von daher sind es nicht mehr als Angeklagte, den ich wünsche, daß sie die vollständigen Rechte, die solchen Menschen zustehen, auch bekommen und daß es dann so schnell wie möglich zu einer Aufklärung kommt. Ich habe viele Fragezeichen an das, was da angeblich vorgefallen sein soll. Darüber wird sicher noch zu reden sein.

SB: Momentan läuft der NATO-Gipfel noch. Iinwieweit meinen Sie, nimmt die NATO Ihre Proteste wahr beziehungsweise reagiert oder reflektiert überhaupt darüber?

Braun: Ich glaube nicht, daß die NATO-Oberen in ihrer Topetage, außer daß sie diese Proteste wahrnehmen müssen, weil sie über die Medien verbreitet werden, in großem Maß darauf reagieren. Politisch ist es ja so, daß sie an einigen unserer Forderungen nicht mehr vorbeikommen, weil sie direkt bei ihnen hineinwirken. Das gilt natürlich besonders für die Afghanistanfrage des Abzugs. Unsere Forderung nach sofortigem Abzug hat eine neue Dynamik in die gesamte Debatte gebracht, die teilweise vom französischen Staatspräsidenten unterstützt wird. Reaktionen anderer darauf zeigen, daß sie diese Debatte fürchten. Herr Westerwelle spricht gar von einem Abrüstungswettlauf raus aus Afghanistan, dem ich nur zustimmen kann. Den wird es zunehmend geben. Wir werden bei unserer Forderung bleiben, daß nichts, aber auch gar nichts an einem sofortigen Abzug vorbeigeht.

Protestmarsch mitten in der Chicagoer Innenstadt - Foto: © 2012‍ ‍by Lucas Wirl

Jesse Jackson, links neben der US-Flagge, und amerikanische Kriegsveteranen nehmen am Anti-NATO-Umzug teil
Foto: © 2012 by Lucas Wirl

SB: Mit dem NATO-Gipfel in Chicago macht Barack Obama ganz offensichtlich Wahlkampf. Inwieweit ist ihm diese Inszenierung Ihrer Ansicht nach gelungen?

Braun: Ich glaube, in der Öffentlichkeit ist ihm das durchaus gelungen. Es gibt aber dennoch eine gewisse Teilung des Erfolges. Dazu gehört aus meiner Sicht die Friedens- und Antikriegsbewegung. Noch nie in den USA sind die Forderungen - Anti-NATO und NATO ist Krieg und der NATO-Krieg in Afghanistan muß sofort beendet werden - so deutlich in die Öffentlichkeit getragen worden. Andererseits hat es Obama natürlich mit dem ganzen Machtapparat, über den er verfügt, schon geschafft, eine ziemlich gigantische Wahlkampfshow zu initiieren, in dem es relativ viele kritische Tupfer gibt, die er jetzt erst einmal akzeptieren muß und sie auch schon hingenommen hat. Wir werden sehen müssen, wie die Debatte weitergeht. Ich bin sehr optimistisch, daß es der amerikanischen Friedensbewegung in ihrer Breite und Vielfalt gelingt, dieses Thema weiter auf der Tagesordnung zu halten und den Druck auf die Politik zu erhöhen, daß man zumindest beim Abzug der Atomwaffen aus Europa zum Handeln kommen muß wie auch bei der weiteren Reduzierung der Rüstungshaushalte.

SB: Viele progressive und liberale Wähler in den USA sind von Obama sehr enttäuscht und wollen im November nicht mehr für ihn stimmen. Wie ist Ihr Eindruck aus Gesprächen mit Leuten aus der amerikanischen Friedensbewegung?

Braun: In der amerikanischen Friedensbewegung gibt es eine ganz klare und argumentativ sehr gut begründete Position zu ihrem Kriegspräsidenten Obama. Und zu der habe ich nicht viel hinzuzufügen. Wie sich die amerikanischen Wähler angesichts eines Systems, das immer noch auf ein völlig undemokratisches, ja reaktionäres Zweiparteiensystem hinausläuft, verhalten, müssen sie selber wissen. Ich glaube, irgendwann muß man dazu kommen, daß dieses Zweiparteiensystem wirklich von unten überwunden und aus den Angeln gehoben wird. Andererseits scheint mir ein demokratischer Fortschrittsprozeß in den USA kaum möglich zu sein.

SB: Wie ist aus Ihrer Sicht die Wahrnehmung der US-Bevölkerung in Bezug auf die NATO, da die USA in der Regel ein sehr eigenständiger Kriegsakteur sind und zum Beispiel geostrategische wie auch andere Interessen vorrangig im pazifischen Raum haben? Wie wirkt sich das aus, daß jetzt die europäischen Mitglieder der NATO im Grunde stärker ins Blickfeld der Öffentlichkeit rücken?

Braun: Ich gebe Ihnen darauf jetzt die Antwort, die ich auf die gleiche Frage bekommen habe, weil ich in diesen paar Tagen nicht wirklich einen eigenständigen Einblick gewinnen konnte. Die amerikanischen Freundinnen und Freunde in der Friedensbewegung sagen, daß die NATO vor diesem Gipfel in der amerikanischen Bevölkerung so gut wie keine Rolle gespielt hat. Die NATO war etwas, das es immer gegeben hat, aber als eigenständiger politischer Faktor nicht wahrgenommen wurde. In vielen Diskussionen habe ich erlebt, daß die Kenntnis über die NATO in den USA sehr begrenzt ist. Wir bin an zwei Schulen und an einer Uni gewesen, was man da über die NATO wußte, bewegte sich auf einer Plattitüden-Ebene: Die NATO ist eigentlich unsere Sicherheit. Von daher ist da noch ganz viel Aufklärungsarbeit notwendig. Was in der interessierten Öffentlichkeit und auch in der Friedensbewegung auf dem Kongreß eine große Rolle gespielt hat, ist die Verlagerung der Schwerpunkte der amerikanischen Außen- und Sicherheitspolitik und deren Konsequenz für die NATO. Aus meiner Sicht sind zwei Punkte ganz entscheidend. Erstens, das europäische Bein der NATO, die sogenannte Militarisierung Europas, gehört auch politisch und ökonomisch weiter drastisch ausgebaut. Europa wird immer stärker ein eigenständiges Bein im Rahmen der NATO-Strategien als Folge der Umsetzung des Doppelvertrags, und zwar des des Vertrages von 2010 als auch des Lissaboner Vertrages der Europäischen Union. Dieses korrespondiert mit der Militarisierung des Pazifikraums, deren zugespitzter Ausdruck die neue amerikanische Militärbasis in Australien, aber auch der Raketenschirm ist, der mit Unterstützung vor allem von Japan und Südkorea um China gezogen werden soll. Die Militarisierung dieser Region zur Eindämmung Chinas ist ganz offensichtlich und verlagert die zentralen NATO-Kräfte durchaus auf andere Schultern. Europa soll in diesem Sinne wesentlich mehr schultern. Gestern hat es einen großen Krach in der NATO-Debatte darüber gegeben, wer eigentlich was bezahlen soll. Wer bezahlt denn diese 20 neuen Großprojekte? Wie wird der Schlüssel verteilt? Europa wehrt sich mit Händen und Füßen dagegen, mehr bezahlen zu müssen, aber die Amerikaner wollen und müssen die Kosten unbedingt abgeben, weil sie ihre eigene Ökonomie völlig ruiniert haben. Da liegen die neuen politischen Diskussionen und Debatten. Eine wichtige Konsequenz nach diesen zehn Tagen ist für mich, daß wir als Europäer uns viel stärker den Debatten um die asiatischen Region widmen müssen, weil dort ein sicherheitspolitischer Schlüssel zu finden ist, in welche Richtung Friedens- und Abrüstungsdebatten zukünftig entwickelt werden.

SB: Wir hatten hier in Deutschland zuletzt die Frankfurter Blockupy?-Proteste, in den USA das ziemlich abgeschottete G8-Treffen und jetzt die NATO-Proteste in Chicago. Meinen Sie nicht, daß die Linke als Bewegung oder auch als Partei den Blick sehr viel mehr über den Tellerrand hinaus richten müßte, zum Beispiel in Richtung Asien, aber auch auf die transatlantische Zusammenarbeit als Gegenpart zum etablierten Transatlantizismus, um die Frage von Krieg und Frieden mit der sozialen Frage weiter nach vorne zu bringen?

Braun: Die Kooperation zwischen Europa und den USA war, gemessen an diesen Tagen und auch an meinen langjährigen Erfahrungen, selten so intensiv wie in Vorbereitung und Durchführung der verschiedenen Aktionen. Wir haben den Gegengipfel gemeinsam organisiert und mehrere von uns haben auf der Demonstration gesprochen. Da sind wir einen großen Schritt nach vorne gekommen, was sicher nicht ausreicht. Wir brauchen eine viel engere Kooperation zwischen beiden Seiten des Atlantiks, aber ich glaube, daß wir die internationale Friedensbewegung wieder viel stärker vernetzen und weiterentwickeln müssen. Das heißt natürlich auch mit den Regionen, die ich in meinem vorherigen Diskussionbeitrag genannt habe, vor allen Dingen auch mit Asien. Da haben wir einen riesigen Nachholbedarf. Außer einigen wenigen Kontakten nach Japan, die sich um Hiroshima-Aktionen und -Veranstaltungen bündeln, gibt es kaum etwas. China und Südkorea sind aus europäischer Sicht kaum kontaktiert. Da ist eine intensive Zusammenarbeit notwendig. Ich persönlich kann das nur aus Sicht der Friedensbewegung und als Friedensbewegter sagen, wir müssen überlegen, wie wir die verschiedenen Bündnisse, die es gibt, verstärken, aber möglichst auch etwas Neues entwickeln. Da ist ein großer Diskussionsbedarf. Was die Partei Die Linke angeht, war sie mit einem zentralen Redner auf der Demonstration vertreten, was dort sehr begrüßt worden ist. Und ich glaube, im Angesicht der Krise der Linken in Deutschland lassen sich durchaus einige positive Ansätze entwickeln. Wie sich das alles weiter zusammenbinden und zusammenführen läßt zu gemeinsamen Aktionen - das ist ja kein Selbstzweck -, werden wir in den nächsten Wochen und Monaten intensiv diskutieren müssen. Ich bringe jedenfalls viele Anregungen für diese Diskussionen aus den USA mit.

SB: Vielen Dank, Herr Braun für dieses Gespräch.

Protesterier halten ein Transparent mit der Forderung 'FOOD NOT BOMBS' hoch - Foto: © 2012 by Lucas Wirl

NATO-Gegner bringen ihr Anliegen auf den Punkt
Foto: © 2012 by Lucas Wirl

Fußnote:

Alle Fotos am 20. Mai von Lucas Wirl von der IALANA aufgenommen, entstammen dessen Flickr-Album "Actions around NATO Summit Chicago 2012" - http://www.flikr.com/photos/lucaswirl/sets/ 72157629775167690/ - und werden hier mit freundlicher Genehmigung von Rainer Braun reproduziert.

21.‍ ‍Mai 2012