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INTERVIEW/144: Kapitalismus final - Gutes endet mit dem Schlechten nicht (SB)


Götz Dieckmann über Internationalismus und seine Haltung zur DDR

Interview am 2. Oktober 2012 in Hamburg-Ottensen



Der Historiker Prof. Dr. Götz Dieckmann war der letzte Rektor der Parteihochschule Karl Marx beim ZK der SED in Berlin und ist Mitglied des RotFuchs-Fördervereins. In der Reihe "Kapitalismus in der Krise" [1] sprach er am 2. Oktober 2012 in der Werkstatt 3 in Hamburg-Ottensen zum Thema "Marx über die historischen Grenzen des Kapitalismus" [2]. Im Anschluß an die Veranstaltung beantwortete Dieckmann dem Schattenblick einige Fragen.

Tischgespräch - Foto: © 2012 by Schattenblick

Götz Dieckmann
Foto: © 2012 by Schattenblick

Schattenblick: Daß der Sozialismus historisch gescheitert sei, ist im Grunde genommen eine Ideologie aus dem Westen, die du offensichtlich so nicht unterschreiben würdest.

Götz Dieckmann: Ich will das erst einmal ein bißchen sortieren. Es gibt da diesen flotten Spruch von Herrn Blüm: Marx ist tot, Jesus lebt. Diesen Spruch bestreite ich entschieden. Ich glaube, daß die wachsende Marx-Renaissance, die wir erleben, und zwar nicht nur unter politisch in der Wolle gefärbten Marxisten, das auch bestätigt. Dennoch bin ich ganz sicher, daß die sozialistischen Staaten in Europa letztendlich gescheitert sind. Das ist nicht zu leugnen. Es ist eine Tatsache. Da hilft auch kein Schönreden, vielmehr muß man eine klare selbstkritische Analyse der Dinge vornehmen und sich auch über das Niveau der bürgerlichen Erklärungsversuche erheben, indem man selbst marxistische Antworten auf das, was sich getan hat, sucht. Davor darf man keine Angst haben, aber man muß auch nicht über jeden Stock springen, der einem hingehalten wird. Es wird ja allerlei Blödsinn erzählt, aber eine Analyse muß auch die Entwicklung in der Sowjetunion unter den Bedingungen des Wettrüstens und natürlich der Dominanz des kapitalistischen Weltmarktes einschließen. So gibt es viele Dinge, die nicht nur subjektive Ursachen haben, sondern auch objektive.

Es ist natürlich eine Tatsache, daß die DDR nicht überleben konnte, als die Sowjetunion unterging. Das war uns immer klar, aber auch diese Erkenntnis darf man nicht nach dem Motto verstehen, wir sind schuldlos, es lag bloß an den anderen. Wir waren das entwickeltste sozialistische Land, das es gab, nicht nur in technologischer Hinsicht, und hatten eine Bringpflicht auch bezüglich neuer Lösungen. Dies immer unter der Berücksichtigung, daß ein Land mit 16 Millionen Einwohnern natürlich nicht die ganze Welt zum Sturm aufrufen kann, aber mit Blick darauf, etwas besser zu machen und neue Ansätze zu finden. Unter dieser Pflicht standen wir schon.

Sicher hat es insbesondere in den achtziger Jahren eine schrittweise Loslösung von der Realität gegeben. Die Strukturen in der Partei wurden formaler, was in den früheren Jahrzehnten völlig undenkbar war, als es noch richtig zur Sache ging. Nachher bildete sich allmählich die Theorie heraus, daß man über Probleme, die wir aufgrund der Weltmarkt- und Erdölpreise sowieso nicht lösen konnten, nicht mehr zu diskutieren braucht. Das geht nicht. Die Entwicklungsstufe der sozialistischen Demokratie in einem Land wird nie höher sein als die Entwicklungsstufe der innerparteilichen Demokratie. Wenn es in der Partei anfängt, holzschnittartig zuzugehen, dann sind die Auswirkungen auf die Gesamtgesellschaft verheerend. Diesen Fragen hätten wir uns stellen müssen, und dann wäre es möglich gewesen, über tausend andere Dinge, auch objektive Probleme, die wir tatsächlich nicht lösen konnten, zu sprechen. Das ist auf alle Fälle eine ernste Sache.

Ich war ja auf dem Gebiet der Vermittlung marxistischen Wissens als Historiker tätig gewesen und habe die Verankerung dessen, was wir über Jahrzehnte mit großem Aufwand betrieben haben, im Bewußtsein der breiteren Schichten der Bevölkerung überschätzt. Das war mein traumatisches Erlebnis Ende der achtziger Jahre, als das plötzlich bei vielen Leuten keine Bedeutung mehr hatte. Denn die SED war in bezug auf die systematische Vermittlung der marxistischen Erkenntnisse eine ganz hervorragende Partei. Wir haben das beste Parteischulsystem der Welt gehabt. Das muß wirklich einmal gesagt werden. Wir haben das in dem Bewußtsein betrieben, daß sich darüber alle Bürger der DDR zu standhaften und treuen Marxisten entwickeln. Dann sprang aber ein großer Teil der wetterwendischen Leute, von denen es viele gab und die Marx auswendig konnten, ab, als es zum Schwur kam. Was mich am meisten peinigt, ist nicht die Tatsache des Scheiterns selbst, sondern die Schäbigkeit unseres Untergangs. Man kann Niederlagen erleiden, Revolutionen können von der Konterrevolution niedergeschlagen werden, das kann alles passieren, aber die Art und Weise, in der es geschah, war wirklich äußerst schmerzhaft.

SB: Vielleicht hat sich die Einstellung vieler Menschen jetzt 20 Jahre später geändert, die damals begeistert gerufen haben, auf nach Westen.

GD: Ja, es ist schon so. Man merkt das daran, daß liebenswerte Nebensächlichkeiten aus der DDR, wenngleich in teilweise absonderlichen Formen, plötzlich gepflegt werden. Ich glaube schon, daß bei einem Teil der Leute das Bewußtsein geweckt ist, daß sie etwas Ernstes verloren haben, gerade wenn sie an das Schicksal ihrer Kinder denken. Aber sie wissen nicht, an welche Schulter sie sich anlehnen sollen. Nehmen wir einmal theoretisch an, daß die DDR morgen wieder existieren würde und die SED an der Macht wäre, was würden wir dann machen angesichts dessen, was ringsherum geschieht? In Griechenland gibt es vor dem Hintergrund dessen, was sich dort abspielt, tausend Gründe, die zu einer gesamtnationalen revolutionären Krise führen können. Aber man muß sich als Marxist doch die Frage stellen, was in Griechenland passieren würde, wenn es zum Schwur kommt. Das Land ist Mitglied der Nato und von Natostaaten umzingelt. Was würde also geschehen? Man kann doch keine politische Analyse jenseits von Raum und Zeit vornehmen.

Wir waren in der guten Situation, daß die Sowjetunion wirklich die Hauptlast im Zweiten Weltkrieg getragen hat. Davon haben wir profitiert. Es ist nun einmal nicht zu bestreiten, daß sie uns befreit hat. Und wir haben die Chance über lange Zeit gar nicht einmal schlecht genutzt. Das würde ich immer bekräftigen, aber es war eben auch eine große Schulter da. Man muß ins Kalkül ziehen, daß die Verhältnisse heute anders sind. Es gibt also sehr viele ernste Fragen, über die man marxistisch nachdenken muß. Die Sehnsucht nach bequemen Ersatzlösungen ist menschlich verständlich, aber sie führt ins Leere. Jeder wünscht sich doch, daß es möglichst friedlich zugeht und die sozialen Probleme schließlich gelöst werden. Das ist ein absolut verständlicher Wunsch, aber es wird so nicht gehen.

SB: Wie würdest du in diesem Zusammenhang das Verhältnis von ökonomischer und militärischer Macht bewerten? Das Beispiel der Vereinigten Staaten scheint zumindest aufzuzeigen, daß die Ökonomie militärisch begründet und gestützt ist.

GD: Der Militärkomplex ist für die USA natürlich ein Machtinstrument, das sich auch zu ökonomischen Zwecken einsetzen läßt. Wenn man sich die gegenwärtigen Krisen in der Welt anschaut, geht es im Kern entweder um Erdölreserven in den Ländern selbst oder um Transportwege. Afghanistan stellt zum einen ein strategisches Gegengewicht gegen Rußland und China dar und dient zum anderen als Transitroute für Erdöllieferungen aus den früheren südlichen Sowjetrepubliken, die nicht über Rußland führen sollen. Da die Pipeline im Moment nicht über den Iran geführt werden kann, braucht man Afghanistan und einen kleinen Zipfel im Süden Pakistans für den Abtransport des Öls zum Indischen Ozean. Mit den Paschtunen ließe sich das noch bewerkstelligen. Außerdem ist es natürlich ein gewaltiger staatsmonopolistischer Hebel, mit dem man den Konjunkturzyklus beeinflussen kann. Wenn die Munition verschossen ist und man dann nicht nur die Patronen ersetzt, sondern gleich dazu eine neue Waffengeneration einführt, kann man staatlicherseits einen entscheidenden Einfluß auf ökonomische Entwicklungsprozesse ausüben. Das darf man auf keinen Fall unterschätzen.

SB: Wenn ein anderes Land eine so hohe Verschuldung wie die Vereinigten Staaten hätte, wäre es ohne jeden Zweifel pleite. Das haben die USA bisher erfolgreich auf andere umgelastet.

GD: Ja. Den ersten Irakkrieg hat Helmut Kohl bezahlt. Damals haben die Amerikaner sogar netto Cash gemacht. Zu seiner Ehre muß man allerdings sagen, daß er keine deutschen Soldaten in den Krieg schicken wollte. Kohl hat das mit dem Scheckbuch geregelt. Die Amerikaner haben dann gedacht, es würde immer so gehen. Dem war aber nicht so. Im übrigen ist die Sowjetunion regelrecht totgerüstet worden. Mit einem geringeren ökonomischen Potential ein militärstrategisches Gleichgewicht sichern zu wollen, bedeutet unterm Strich, daß ein größerer Teil des nationalen Reichtums für die unproduktive Sphäre der Rüstung aufgewendet werden muß. Das führt zu entsprechenden Konsequenzen und verlangsamt die Entwicklung der Produktivkräfte in der gesamten Bandbreite. Das ist erst einmal festzuhalten. Von den USA habe ich den Eindruck, daß sie sich zur Zeit selbst zu Tode rüsten.

Vor kurzem hat mir ein Oberschuldirektor ein wunderbares Gleichnis erzählt. Nach dem Mauerfall gab es in Berlin, aber auch anderswo, Tagungen zur Unterweisung der Schüler in die Westanpassung. Bei uns hieß das "auf Westen lernen". Jedenfalls hat ein Professor und Pädagoge aus Münster dort eine recht vernünftige Rede gehalten. Er sagte, paßt auf und werft nicht alles weg. Ihr hattet euren polytechnischen Unterricht, das war im Kern schon richtig. Entfernt lediglich die Ideologie. Daraufhin haben die Frischgewendeten aufbegehrt und ihm den Vorwurf gemacht, Quatsch zu erzählen. Der westdeutsche Professor hat darauf folgendes erwidert: Wenn man über Jahrzehnte mit einem ungeliebten Nachbarn im ständigen Dauerclinch gelegen hat, und der Nachbar verstirbt plötzlich, dann kann das natürlich Schadenfreude auslösen. Wenn der Übriggebliebene aber glaubt, er sei nun unsterblich, ist das ein schwerer Fehler. Ich bedauere, daß ich diesen Mann nicht kennengelernt habe. Da ist viel Wahres dran.

SB: Du hast in deinem Leben viele Länder der Welt kennengelernt. Der Internationalismus war in den siebziger und achtziger Jahren für Linke eine Selbstverständlichkeit. Heute gewinnt man den Eindruck, als hätte es ihn nie gegeben. Wie hast du diese Entwicklung erlebt?

GD: Zunächst einmal muß ich etwas zu unserer Zeitschrift RotFuchs sagen. Bei uns gibt es in dieser Hinsicht keine Defizite. Im Neuen Deutschland haben sie die Zeile "Proletarier aller Länder vereinigt euch" gestrichen. Im RotFuchs werden wir das nie tun. Wir handeln auch danach. Ich bin Mitglied des revolutionären Freundschaftsbundes in Dresden. Das ist eine kleine Organisation, die gegründet wurde, als die Tochter von Ernst Thälmann noch lebte. Sie war unsere Ehrenvorsitzende. Wir drehen in unserer kleinen Truppe keine großen Räder, aber wir haben eine Sektion auf der tschechischen Seite. Jedes Jahr wird auf der Schneekoppe ein Dreiländertreffen ausgerichtet, zu dem auch die Polen kommen. Der revolutionäre Freundschaftsbund leistet eine hervorragende internationalistische Arbeit. Das ist auch der Grund, weshalb ich da drin bin. Nicht, weil wir morgen die proletarische Revolution auslösen werden, sondern weil es genau um diesen Internationalismus geht.

Unser Chefredakteur Klaus Steiniger hat in Erinnerung an die alten Genossen, die ihm früher einmal gesagt haben, du mußt dir nur eines merken, jetzt geschrieben: Es gibt zwei Dinge, denen wir verpflichtet sind. Erstens haben wir ein Vaterland, dem wir zu 50 Prozent verpflichtet sind, und die anderen 50 Prozent unserer Verpflichtung gehören der internationalen Arbeiterklasse. Das heißt, wir sind keine vaterlandslosen Gesellen, aber wir sind auch nicht das Gegenteil. Wir sind keine Leute, die für den Nationalismus anfällig wären.

Man muß in dem Land, in dem man geboren wird - das ist der Zufall der Geburt und kein besonderes Verdienst -, ein Höchstmaß dafür tun, damit dieses Land und seine Arbeiterklasse sowie die Verbündeten einen möglichst ehrenvollen und würdigen Beitrag zur Befreiung der Menschheit leisten. Das ist das Geheimnis des Zusammenführens dieser Punkte. Es geht nicht nach dem Motto: Wo die Bockwurst dicker ist, da renne ich hin, und wo es mir gut geht, ist auch das Heimatland. Das stimmt nämlich nicht. Sofern man nicht gezwungen wird, das Geburtsland zu verlassen, soll man da kämpfen, wo einen das Schicksal hingestellt hat, und soviel tun, wie weit die Arme reichen.

Im übrigen ist mein Patriotismus in bezug auf die DDR heute größer als damals. Ich war mir der Defizite unseres Landes sehr bewußt. Ich habe die Welt gesehen und wußte, wo bei uns die Säge klemmt und wo nicht. Ich war immer ein bewußter Bürger der DDR. Ich hätte auch abhauen können, aber ich bin immer als Patriot der DDR zurückgekommen. Das war mein Land, aber nach dem, was ich jetzt erlebe und sich so abspielt, liebe ich dieses Land erst richtig. Ein Lied von Ernst Busch und Hanns Eisler in bezug auf Spanien nach dem Abzug der internationalen Brigaden rezitiere ich oft:

Wie könnten wir je vergessen das Land,
darin wir unsre Besten gelassen?
Das Land, das uns alle vereinigt fand
im Kämpfen, im Lieben und Hassen.
Denn Länder, in denen man sorglos gelebt,
verläßt man ohne Betrüben,
doch das Land, mit dem wir gebangt und gebebt,
das werden wir ewig lieben!

Das spiegelt auch meine Haltung gegenüber der DDR wider.

SB: Das war ein ausgezeichnetes Schlußwort. Ich bedanke mich für dieses Gespräch.


Fußnoten:
[1] http://www.kapitalismus-in-der-krise.de/

[2] Siehe dazu:
BERICHT/127: Kapitalismus final - Alles hat ein Ende ... (SB)
Götz Dieckmann - Marx über die historischen Grenzen des Kapitalismus
http://www.schattenblick.de/infopool/politik/report/prbe0128.html

Tischgespräch - Foto: © 2012 by Schattenblick

Götz Dieckmann mit SB-Redakteur
Foto: © 2012 by Schattenblick

2. November 2012