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INTERVIEW/172: Quo vadis NATO? - Der Friedensstandpunkt - Gespräch mit Eugen Drewermann (SB)


Interview auf dem Kongreß "Quo vadis NATO? - Herausforderungen für Demokratieund Recht" am 28. April 2013



Der Friedensaktivist, Theologe, Psychoanalytiker und Schriftsteller Prof. Dr. Eugen Drewermann setzte sich in seinem Vortrag zum Thema "Ethik, Menschenrechte und militärische Gewalt" auf grundlegende Weise mit der Kriegführung der NATO, dem Einfluß des Militarismus auf die Gesellschaft und den Ursachen kriegerischer Aggressionen auseinander. Im Anschluß an seinen Auftritt in einem Hörsaal auf dem Campus der Universität Bremen beantwortete er dem Schattenblick einige Fragen.

Im Gespräch - Foto: © 2013 by Schattenblick

Eugen Drewermann
Foto: © 2013 by Schattenblick

Schattenblick: Herr Drewermann, Sie haben in Ihrem Vortrag an die Kriege erinnert, in die Deutschland im 20. Jahrhundert verstrickt war. Die Erinnerung an die deutsche Kriegsverantwortung scheint im heutigen Bewußtsein immer mehr zu verblassen. Wie bewerten Sie diesen kulturellen Rückschritt in bezug auf die prinzipielle Auseinandersetzung mit dem Thema Krieg?

Prof. Dr. Eugen Drewermann: Es ist ein Grundsatzproblem, daß die Leute, die aus dem Krieg kommen, weder ihren Frauen noch ihren Kindern zu sagen vermögen, was sie erlebt haben. Es würde die Vorstellungswelt des zivilen Lebens vollkommen zersprengen. Das ist eine Gegenwelt, über die man nicht berichten darf. Allenfalls mit Kriegskameraden kann man Erfahrungen austauschen, um das eigene Trauma des Erlebten ein Stück weit nachzuarbeiten. Daraus geht das Paradox hervor, daß die Gesellschaft am Ende eines siegreichen Krieges ihre Soldaten begeistert begrüßt, aber sich weigert, die Erfahrungen aufzunehmen, die zum Ausgang des Kriegs geführt haben. Jede Generation scheint aufs neue ähnliche Erfahrungen machen zu müssen.

Ganz so bedauerlich, wie es sich anhört, muß das aber nicht sein, schließlich muß jede Generation auch für sich selber lernen, was die deutsche Sprache ist oder was Kultur bedeutet. Jedes Kind, das auf die Welt kommt, fängt im gewissen Sinne von vorne an, aber wir müßten in den Schulen als auch in den Ausbildungszentren und Universitäten die Erfahrung reflektieren und weitergeben. Das sollte geschehen. Nach 1945 haben wir sogar ins Grundgesetz geschrieben: Von deutschem Boden wird nie wieder Krieg ausgehen. Das war die Lektion aus dem Desaster. Heute weigern wir uns, das, was wir treiben, Krieg zu nennen. Nur das hat sich geändert, daß wir geschickter lügen können. Wir loben Baron zu Guttenberg, daß er nach zehn Jahren Afghanistan das Wort Krieg im Munde seiner Soldaten zu äußern wagt. Das erscheint uns mutig. Die Lüge ist in vollem Gange, indem wir nach Orwellschem Diktat gar keine Kriege führen, sondern nur friedenserhaltende Maßnahmen ergreifen - all das im Namen hoher menschlicher Verantwortung. Diese Farce müssen wir bewußt machen, und dafür sind solche Kongresse gut.

SB: Sie haben sehr kategorisch über das Thema Krieg gesprochen, aber auch das Problem des globalen Hungers erwähnt, dem mittlerweile in einem Jahr annähernd soviele Menschen zum Opfer fallen, wie im ganzen Zweiten Weltkrieg umgekommen sind. Was ist das für ein Frieden, der so etwas zuläßt?

ED: Das ist im höchsten Maße unverantwortlich, weil wir eine Sicherheit definieren, die wir militärisch herstellen, indem wir in der Kriegsvorbereitung, in der Rüstung und in den wahnsinnigen Ausgaben an falscher Stelle Unsummen von Hungernden, Verelendeten und Toten in Kauf nehmen. Am Ende haben wir gewaltige Flüchtlingsbewegungen von Menschen, die auf der Flucht vor dem Hunger sind und die wir wieder mit militärischen Mitteln abfangen. Frontex (Frontières extérieures) sitzt in Warschau, wird aber in Berlin finanziert. Dafür haben wir beste militärische Ausrüstung: Nachtsichtgeräte, Drohnen, Elektrozäune, Paragraphenzäune, alles mögliche, um die Leute gar nicht erst nach Europa kommen zu lassen. Wir haben Gelder in das pleitegegangene Griechenland gesteckt, wesentlich auch zur Abwehr von Migranten aus Afrika und Kleinasien. Mit anderen Worten: Wir richten dauernd Folgen an mit Hilfe des Militärs, die wir dann wieder glauben, mit Militär unter Kontrolle bringen zu können. Das ist ein Teufelskreis.

SB: Verfügt der Frieden als Ideal Ihrer Ansicht nach über eine gegenständliche Existenz, oder handelt es sich dabei nur um das Prinzip Hoffnung?

ED: Frieden ist kein Ideal, er ist die Basis der Menschlichkeit. Und er ist absolut notwendig, alles andere wäre ein Verrat an sich selber. Ich kann im Frieden kein Ziel in ferner Zukunft sehen. Der Frieden ist ein unbedingtes Muß. Diese Erkenntnis sollten wir als Bürger an diejenigen richten, die uns regieren. Am Ende des Vietnamkriegs Mitte der Siebziger haben wir das wirklich geglaubt. Eine Bevölkerung, die jeden Abend auf den Mattscheiben ihrer TV-Geräte sieht, wie amerikanische Panzer durch Bambusdörfer rollen, wie Frauen und Kinder im Napalmregen in lebendige Fackeln verwandelt werden, wird auf diese Weise nicht verteidigt, nicht gerettet, nicht geschützt werden wollen. Mit einer solchen Bevölkerung kann man keinen Krieg mehr machen. Daraus werden junge Menschen hervorgehen, die vor dem Weißen Haus ihre Pässe verbrennen, um nicht rekrutierbar zu sein für die American Army. Das war einmal eine Hoffnung.

Und was haben wir daraus gemacht? Daß wir angeblich nur so weitermachen können und sollen. Das ist eine Farce, die sich nur erhält, indem wir die Bevölkerung belügen. Die Bevölkerung ist heute noch zu 80 Prozent gegen den Krieg in Afghanistan, nach zwölf Jahren Krieg. Jetzt ist allerdings eine konsequente Umerziehung zu befürchten, die auf allen Ebenen erfolgen wird, vom Kindesalter zu den Studenten, bis hin zu den Meinungsmachern in den Medien. Und ich fürchte, daß man den Krieg einfach als Geschehen auslagern wird. Es kehren keine Zinnsärge mehr zurück, man tötet in weiter Ferne, das sieht die Bevölkerung gar nicht. Außerdem gibt es Spezialisten dafür, die man nicht weiter kontrollieren muß. Die Kriegführung geht uns Bürger dann ebensowenig an wie den Fleischkonsumenten die Schlachtfabrik an der Peripherie der Großstadt.

SB: Sie sind ein engagierter Verfechter des Tierschutzes. Ist das Verzehren der anderen Kreatur für Sie etwas mit dem christlichen Glauben Unvereinbares, oder würden Sie doch von Nutzungsverhältnissen ausgehen, die legitim und damit auch christlich sind?

ED: Nein, es gibt ganz klare Linien, die von der Jagd auf Tiere zur Jagd auf Menschen in Gestalt des Krieges führen. Das ist ein und dasselbe Geschehen. Im Hintergrund stehen auch kannibalistische Praktiken, also auch Nahrungserwerb, wenngleich rituell und viel komplexer, die nicht in einer linearen Logik miteinander verknüpft sind. Aber die Art, wie man mit Tieren umgeht, hat immer eingeübt, was wir auch mit Menschen fähig sind zu tun. Insofern hat Tolstoi völlig recht: Solange es Schlachthöfe gibt, wird es auch Schlachtfelder geben.

SB: Es gibt inzwischen eine junge Generation von Menschen, die vegan leben und dies auch sehr engagiert vertreten, nicht nur im Sinne einer Gesundheitsphilosophie, sondern den Tieren zuliebe. Was halten Sie davon?

ED: Ich bin voll und ganz der Meinung, daß es ein gewaltiger ethischer Fortschritt ist, den Vegetarismus aus religiös-humanitären Gründen zur Voraussetzung eines rechten Umgangs mit den Kreaturen zu machen, ganz im Sinne Schopenhauers, daß man Mitleid nicht teilen kann. Gegenüber allen fühlenden Kreaturen ist die Resonanz des Mitleids die gleiche. Wer erst einmal gelernt hat, ein Tier zu quälen, hat das Mitleid nicht mehr im Umgang mit Menschen zur Verfügung; es ist narkotisiert. Zweifelsohne gibt es da psychologisch engste Zusammenhänge. Andererseits würde ich es nicht übertreiben. Vegetarier sind nicht ohne weiteres bessere Menschen, sonst müßte der deutsche Führer ein geradezu großartiger Mensch gewesen sein. Hitler verteidigte den Vegetarismus damit, daß das stärkste Tier, der Elefant, ein Vegetarier sei. Man kann das Richtige auch mit falschen Motiven versehen. Die Motive sind wichtiger als die Handlung selber.

Eugen Drewermann im Gespräch - Foto: © 2013 by Schattenblick

Stimme für christlichen Antimilitarismus
Foto: © 2013 by Schattenblick

SB: Sie sind mit der Kirche durch eine lange persönliche Geschichte verbunden. Der neue Papst orientiert sich an Franziskus von Assisi. Inwieweit sehen Sie die Ideale des Sozialen, die Franz von Assisi im besonderen auszeichnet, tatsächlich in dem neuen Kirchenoberen repräsentiert?

ED: Es herrscht eine große Unaufrichtigkeit. Wir bringen den Zwölf- und Dreizehnjährigen in der Adventszeit bei, daß Franziskus den Wolf von Gubbio umarmt hat. Dieser brach in die Herden ein, so daß die Leute mit Sensen und Dreschflegeln auf ihn los gingen. Franziskus aber sprach: Bruder Wolf, nur aus Hunger hast du Tiere gerissen und gemordet. Und den Bürgern von Gubbio hat er befohlen, ihn zu ernähren, so daß der Wolf künftig wie ein Hund durch die Straßen ging - fast das Vorbild eines Bettelmönchs wie Franziskus selber. Seht, so sind die Heiligen, sagen wir ihnen, man muß das Böse liebevoll umarmen, seine Gründe begreifen und es dann erübrigen. In allem Bösen steckt ein Bedürfnis, das in sich richtig ist, wir müssen es nur erkennen und ins Leben bringen. So machen es die Heiligen, Kinder, daraus müssen wir lernen, sagen wir zu den Dreizehnjährigen.

Den Achtzehnjährigen sagen wir, das mit dem Wolf von Gubbio war eine Legende. Jungs, jetzt habt ihr Verantwortung. Beim Bösen - Kalaschnikow, Highspeed-Gun, draufhalten! Das ist Verantwortung. Vergeßt das mit dem Wolf von Gubbio. Ich bin gespannt, wieviel Energie Papst Franciscus aufbringt, der Militärjunta, die er in Argentinien erlebt hat, und der Militärjunta rund um den Globus im Sinne des Heiligen Franziskus zu zeigen, wieviel Angst in ihnen steckt. Denn auch das erzählt man sich von dem Heiligen von Assisi: Es kam ein Mann mit Harnisch und Spieß, und Franziskus hat ihn angelächelt und gefragt: Vor wem hast du soviel Angst?

SB: Die katholische Sozialethik war im Grunde genommen eine Reaktion auf das Aufkommen sozialrevolutionärer und kommunistischer Bewegungen. Sie haben heute in Ihrem Vortrag deutliche Worte der Kapitalismuskritik gefunden. Wie sehen Sie das Verhältnis von Christen zu einer solch materialistischen Doktrin, die keineswegs jenseitig orientiert ist?

ED: Es ist pervers, weil die sogenannten Konservativen ihr C mit kapitalistisch umschreiben müßten. Sie sind die Hardliner im Umgang mit der Flüchtlingspolitik und mit den Fragen der Dritten Welt. Sie tun in keinem Punkte das, was sie sollten. Leider ist es so, daß sie die bürgerliche Saturiertheit wiedergeben und zur Pflichtauflage machen. Sie sind nicht systemkritisch. Es gab päpstlicherseits unter dem fast vergessenen Paul VI. eine sehr mutige Enzyclica Populorum Progressio, die kapitalismuskritischer ist als alles, was in Rom seitdem geschrieben wurde. Bedauerlicherweise ging sie völlig unter, weil unsere Mainstreammedien es für nötig befanden, das Thema Pille und katholische Kirche fortzuschreiben. Mit dieser Farce wurde alles erledigt, was man hätte ernst nehmen können und müssen. Ich fürchte, das wird auch in Zukunft so sein. Man feiert den Papst eigentlich als eine komische Figur, der, wenn er es ernst meint, mit anderen Themen überlagert oder konfrontiert wird. Das bedauere ich nun wirklich, und deshalb gebe ich Ihnen das Interview, weil es unsere Intellektuellen sind, die den Krieg inzwischen hoffähig reden und mit schönen Gründen versehen. Spiegel, Zeit - die Namen sind bekannt.

SB: Generell wird der christliche Glaube als Erlösungsreligion verstanden, als eine Hoffnung auf ein Jenseits. Gibt es für Sie Gründe, bereits im Jetzt zu verwirklichen, was sonst immer als Lohn auf ein Später verschoben wird?

ED: Ich glaube an eine Perspektive über den Tod hinaus, sonst hielte ich diese Welt nicht aus. Aber leben muß man jetzt, was man als richtig fühlt, und zwar unabhängig davon, was dabei herauskommt. Man kann sich die Menschlichkeit nicht erst genehmigen, wenn die Welt menschlicher geworden ist. Umgekehrt: Man muß das, was man tut, jetzt machen, ohne auf Erfolg zu kalkulieren, sondern einfach, weil es stimmt, und dann dem lieben Gott überlassen, was dabei herauskommt. So lerne ich es am Beispiel Jesu. Selbst wenn sie einen dafür totschlagen, richtig bleibt richtig. Für den Erfolg ist man nicht zuständig, aber für das, was man selber tut, ist man zuständig.

SB: Ist der historische Jesus für Sie auch ein Beispiel für Streitbarkeit?

ED: Für Streitbarkeit und auch dafür, daß es nötig ist, das Scheitern nicht zu vermeiden, um der Sache Gottes selber willen.

SB: Herr Drewermann, vielen Dank für das Gespräch.

28. Mai 2013