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INTERVIEW/198: Herrschaft in der Krise - türkisch-linke Bündnisfragen, Duran Kiymazaslan im Gespräch (SB)


Aufbruch Gezi-Park - wie geht es weiter?

Interview am 4. Oktober 2013 in Hamburg-St. Georg



Duran Kiymazaslan ist ein kommunistischer Aktivist der vom Gezi-Park in Istanbul ausgehenden landesweiten Protestbewegung, die im Widerstand gegen die AKP-Regierung unter Ministerpräsident Erdogan die Machtfrage stellte und dabei die Gesellschaft der Türkei massiv politisierte. Nach der ersten Veranstaltung in der Reihe "Bürgerliche Herrschaft in der Krise" [1], bei der die Frage linker Bündnispolitik vor dem Hintergrund der anwachsenden Dominanz rechter Kräfte in der Gesellschaft kontrovers diskutiert wurde, beantwortete Duran dem Schattenblick einige Fragen zur politischen Herrschaft in der Türkei, zur Verankerung der Protestbewegung in der Gesellschaft und zu der Bündnisstrategie, die seiner Ansicht nach für eine wirksame Fortsetzung des Widerstands erforderlich sei.

Kundgebung am 3. Juni 2013 am Taksim-Platz - Foto: von Mstyslav Chernov (Selbst fotografiert, http://mstyslav-chernov.com/) [CC-BY-SA-3.0 (http://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0)], via Wikimedia Commons

Istanbul steht auf
Foto: von Mstyslav Chernov (Selbst fotografiert, http://mstyslav-chernov.com/) [CC-BY-SA-3.0 (http://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0)], via Wikimedia Commons

Schattenblick: Der Aufstieg der AKP erweckte am Anfang den Anschein einer positiven Entwicklung für die Türkei. Viele hegten die Hoffnung auf eine politische Entspannung zu den Nachbarn, eine die Palästinenser stärker unterstützende Außenpolitik und ein wirtschaftliches Aufblühen für alle Bevölkerungsschichten. Die AKP stand für eine Liberalisierung des Landes und war daher bestrebt, auch um sich gegen die Kemalisten behaupten zu können, die ihr in der Anfangszeit durchaus gefährlich werden konnten, Rückendeckung in der EU zu suchen. Das hatte zum Beispiel Zugeständnisse zu einer Entschärfung der drakonischen Antiterror-Gesetze zur Folge. Wie kam es dazu, daß die AKP jetzt so massive Proteste der Bevölkerung auf sich gezogen hat, daß sich sogar ehemals verfeindete Parteien und Lager gemeinsam gegen sie organisieren?

Duran Kiymazaslan: Bevor ich darauf antworte, möchte ich vorwegnehmen, daß die AKP als ideologisches Programm einer Islamisierung der Türkei ohne den Militärputsch 1980 und die Bewegung 28. Februar, also den Putsch gegen Erbakan, nicht denkbar gewesen wäre. Erst durch diese beiden Ereignisse ist ein Prozeß in Gang gesetzt worden, der schließlich Jahre später zur Gründung der AKP geführt hat. Daß in einer kritischen Phase der AKP-Regierung plötzlich sogenannte Dokumente offengelegt wurden, denen zufolge die Armee einen Staatsstreich gegen die AKP plane, hat dazu geführt, daß die kemalistischen Kräfte in der Türkei ins Gefängnis gesteckt wurden und die AKP so ihren größten Widersacher von der politischen Bühne verdrängen konnte. Der eigentliche Akteur in diesem Spiel wird in der Regel jedoch nicht genannt.

Ich gehe davon aus, daß die USA diese Putschpläne irgendwann durch die Kemalisten haben erstellen lassen und dann, als die Amerikaner in der AKP die größere Schnittmenge für ihre Nahostpolitik fanden, dafür gesorgt haben, daß die Pläne politisch verwertet werden konnten. Für die USA wie auch für die AKP bestand das Problem darin, daß die Errungenschaften der türkischen Republik, wie zum Beispiel das öffentliche Eigentum oder die Emanzipation der Frauen, der Laizismus, die Aufklärung in der Gesellschaft und die Friedensfrage, nämlich daß von der Türkei aus nie wieder ein Krieg ausgehen darf, für ihren neoliberalen Politikkurs zum Hindernis wurden. Deswegen mußte zunächst einmal die stärkste Opposition in der Türkei aus dem Weg geräumt werden, damit der Neoliberalismus, insbesondere aber die Privatisierung des öffentlichen Eigentums, durchgezogen werden konnte. Sicherlich gibt es in der kemalistischen Bewegung auch Nationalisten und Transatlantiker, aber dennoch verkörpern sie noch am ehesten bestimmte Errungenschaften und Positionen, die man weitgefaßt vielleicht als sozialdemokratisch bezeichnen könnte. Mit einer kemalistischen Armee wäre die heutige Syrienpolitik jedenfalls schwierig durchsetzbar.

SB: Ist die Türkei denn nicht im Konsens mit den Kemalisten NATO-Mitglied geworden?

DK: Ja, aber nach 1989 und insbesondere nach der Afghanistanpolitik hat sich sehr vieles in der kemalistischen Bewegung geändert. Es gab eine kritische Haltung innerhalb der Armee, vor allem in der Marine und Luftwaffe, zur weltpolitischen Ausrichtung der Türkei. So hat man zum Beispiel versucht, nationale Firmen in der Flug- und Radartechnologie zu gründen, um nicht mehr von amerikanischen Rüstungsgütern abhängig zu sein, oder daß türkische Werften Schiffe für die Marine bauen. Man kann sich denken, daß diese Bestrebungen für die Amerikaner nicht unproblematisch waren. So entwickelte sich der kemalistische und aufgeklärte Teil der türkischen Generalität für die Politik der USA im Mittleren Osten immer mehr zum Dorn im Auge. Deswegen wollte man die Kemalisten auch loswerden.

SB: Die Kurdenfrage ist vor allem unter kemalistischen Regierungen eskaliert, und auch die Bündnispolitik mit Israel ist im wesentlichen in ihrer Regierungszeit begründet worden. Wie verträgt sich das mit der Ansicht, daß die Kemalisten zu unzuverlässigen Bündnispartnern für die USA wurden?

DK: Die Kemalisten standen der Durchliberalisierung der türkischen Gesellschaft im Wege, weil sie beispielsweise in der Frage des öffentlichen Eigentums niemals nachgegeben hätten. Auch die Islamisierung der Türkei und des Mittleren Ostens wäre mit ihnen nicht zu machen gewesen. Den Amerikanern hat der Afghanistankrieg eines deutlich vor Augen geführt: Krieg ist teuer und führt nicht unbedingt zum Erfolg. Deswegen mußten sie ein Mittel finden, um die islamischen Länder und Bevölkerungen auch ohne Waffengewalt an die USA binden zu können. Dieses Mittel war der Islam. Deswegen sollte die Türkei als mustergültiges Beispiel für einen liberalen Islam aufgebaut werden. Um den neoliberalen Wandel und letztlich die Privatisierung der ganzen Gesellschaft zu realisieren, wollte man sich der politischen Unterstützung durch den Islam versichern. Das hat die AKP auch geschafft, indem sie den Glauben der Menschen für ihre Zwecke instrumentalisiert hat. Sie erhielt bei den Wahlen die Mehrheit der Stimmen, aber dafür verloren die Menschen ihre Fabriken und wurden arbeitslos. Deswegen sage ich, daß die AKP eine proimperialistische Politik, Rückschrittlichkeit durch den Islam, Frauenfeindlichkeit usw. verkörpert und durch ihre Einmannpolitik ein totalitäres Regime führt.

SB: Für dich sind die Ära der Generäle oder Obristen der frühen 80er Jahre und die Zeit von Erdogan offenbar nicht so widersprüchlich, wie es von außen erscheint.

DK: Nein. Die USA instrumentalisieren alles und werfen es, wenn sie es nicht mehr brauchen, weg. Die Pläne eines Putschversuchs der Armee können nicht ohne Wissen der CIA entworfen worden sein. Folgt man diesem Gedanken weiter, dann haben die Amerikaner zu einem für sie günstigen Zeitpunkt für die Offenlegung der Pläne gesorgt, um die Kemalisten aus dem Spiel zu nehmen. Wenn es sich nicht so verhalten hätte, wäre es zu einem Putsch gekommen. Es ist doch verwunderlich, daß die AKP die geheimen Unterlagen gefunden haben will, obwohl der Aufbewahrungsort sicherlich nur Eingeweihten bekannt gewesen sein dürfte. Ein türkischer General ist ohne Wissen der CIA und NATO gar nicht in der Lage, einen Putsch durchzuführen.

Deswegen ist es kein Widerspruch, daß die USA anfangs mit den Kemalisten zusammengearbeitet haben und sie dann, als sich die Kemalisten zum Problemfall für die neoliberale Nahostpolitik der Amerikaner entwickelten, aus dem Weg geräumt haben, um für eine andere türkische Regierung Platz zu schaffen. Ich bin mir sicher, daß Erdogan im Moment zum Problem für die US-Politik wird, weil er zum Beispiel in der Syrienpolitik einen anderen Ton anschlägt als die USA und durch Logistik, Geld und Waffen Al-Kaida, Al-Nusra und andere Gruppen im syrischen Bürgerkriegsszenario unterstützt. Auch das Giftgas stammt meines Erachtens aus der Türkei. Das wissen auch die USA, nur schweigen sie sich darüber aus, um Syrien und Assad unter Druck zu setzen. Aber in der Zukunft könnten die USA aufgrund dieser Kenntnis Erdogan vielleicht vor Gericht stellen. Und man kann davon ausgehen, daß die CIA ganz genau weiß, was die AKP im Moment treibt.

SB: Wie ist es deiner Ansicht nach dazu gekommen, daß die geplante Zerstörung des Gezi-Parks durch ein Bauprojekt einen Protest auslösen konnte, der in seiner Vehemenz fast schon den Charakter eines Generalaufstands gegen die Regierung Erdogan angenommen hat?

DK: Irgendwann mußte es dazu kommen, daß die Leute sagen, jetzt reicht es. So gesehen war der Gezi-Park nur die Initialzündung für einen Unmut, der schon länger in der Bevölkerung gegärt hat. Wann es dann zum Protest kommt, hängt in der Regel von der gesellschaftlichen Lage ab. In dem Buch "Der Feind" werden die Erfahrungen der Soldaten im Ersten Weltkrieg geschildert. Darin wird der Protagonist gefragt, was ihn am meisten in diesem Krieg betroffen gemacht hat. Er antwortet, daß er unzählige Tote und Soldaten ohne Arme und Beine gesehen habe, eines aber sei ihm unvergeßlich geblieben, nämlich daß er mitansehen mußte, wie ein feindlicher Soldat - daher auch der Titel des Buches -, mit dem er heimlich Zigaretten und Schokolade ausgetauscht hatte, erschossen wurde. Der Autor schildert diese Situation sehr explizit und eindrücklich. Angesichts dieser vielen Toten und gefallenen Kameraden war ihm ausgerechnet der Moment, als der Feind zu Tode kam, am schmerzhaftesten in Erinnerung geblieben. Ich will damit sagen, daß es in jeder Gesellschaft eine Grenze gibt, die man als Humanismus bezeichnen könnte. Wird diese Grenze verletzt oder überschritten, dann stehen Menschen auf und reagieren auf eine Ungerechtigkeit.

Gezi-Park am 9. Juni 2013 - Foto: Azirlazarus / CC-BY-SA-3.0, via Wikimedia Commons

Vielfalt des Protestes und Widerstand gegen Krieg
Foto: Azirlazarus / CC-BY-SA-3.0, via Wikimedia Commons

Als die AKP gegen die schutzlosen Besetzer massive Polizeikräfte einsetzte und ihre Zelte verbrannte, hat das sehr viele Menschen bewegt. Daß der Humanismus im tiefsten Sinne so offen verletzt wurde, war dann der Stein des Anstoßes für eine großangelegte Protestfront gegen die AKP. Man darf nicht vergessen, daß die AKP zuvor mit ihrem Privatisierungskurs, ihrer reaktionären Politik gegen die Frauen und einer Alkoholverbotskampagne, mit der die gesamte Lebensweise der Menschen eingeschränkt werden sollte, einen großen Druck in der Gesellschaft aufgebaut hatte, der sich dann im Gezi-Park sozusagen entladen hat.

SB: In welchem Ausmaß haben linke Parteien Einfluß auf diese Kämpfe genommen, oder waren sie eher marginal beteiligt?

DK: Natürlich hat niemand erwartet, daß die Proteste in dieser Weise eskalieren würden. Von daher waren wir nicht darauf vorbereitet, aber als die Bewegung angefangen hatte, bildeten die sozialistische und die kommunistische Partei die erste Front. An dem Tag, als die Polizeiblockade durchbrochen wurde, waren vor allem meine Genossen aus der TKP daran beteiligt. Auch die Aktion im Taksim, wo 500 Leute bis zur Räumung Widerstand gegen die Polizei geleistet hatten, ging auf unser Konto. So hatten wir einen Monat gewonnen, damit die Bewegung immer größer werden konnte. Es gab Momente, die vorentscheidend für die ganze Entwicklung der Bewegung waren. Zum Beispiel hat die Kommunistische Partei bei der Bildung des Gezi-Forums eine tragende Rolle gespielt. Von daher wäre die Bewegung ohne die kommunistische oder sozialistische Partei nicht so weit gekommen.

SB: In den Medien wird häufig der Eindruck erweckt, daß die Proteste im Gezi-Park, vergleichbar mit der Occupy-Bewegung, ein hohes Ausmaß an Selbstorganisation auszeichnete. Du scheinst hingegen der Meinung zu sein, daß es einer organisierten Partei oder zumindest strukturierten Gruppe bedarf, um eine solche Widerstandsbewegung in Gang zu halten?

DK: Um ihr zumindest eine Richtung zu geben. Ich sage nicht, daß die Bewegung aus der sozialistischen oder kommunistischen Partei hervorgegangen ist. Aber zum weiteren Verlauf der Proteste haben die Kommunisten und Sozialisten oder insgesamt alle linken Gruppen, die daran beteiligt waren, sehr viel beigetragen. In allen größeren Städten gab es Foren, aber deren Leitung hat sich nicht spontan gebildet, sondern war das Ergebnis organisierten Widerstands. Das berührt auch die Frage der Bündnisfähigkeit, die heute auf der Veranstaltung diskutiert wurde. Als die Bewegung im Gezi-Park anfing, kamen auch antikapitalistische Muslime dazu. Normalerweise arbeiten Kommunisten und Muslime, auch wenn sie antikapitalistisch sind, nicht zusammen. In der ersten Woche kamen noch Parteigänger der MHP und Kurden hinzu. Es wäre vorher undenkbar gewesen, daß Kurden und die Chauvinisten aus der rechtsgerichteten MHP ein Forum bilden. Unter normalen Umständen käme so etwas nie in Frage. Aber in ihrem Kampf gegen die AKP haben sie einander zumindest geduldet und die klare Gegnerschaft erst einmal zurückgestellt.

SB: Wenn man sich überlegt, wie lange Kurden und Graue Wölfe bzw. rechte Kemalisten schon verfeindet sind, dann erscheint es tatsächlich unglaubwürdig, daß sie Schulter an Schulter gegen die Polizei Erdogans gestanden haben.

DK: Aber dennoch haben sie nicht gegeneinander gekämpft, sondern sich vereint gegen die AKP gestellt. Nach etwa einer Woche sind die Mitglieder der MHP von der Parteiführung abgezogen worden, aber bis dahin haben sie gemeinsam im Gezi-Park oder in Ankara und anderen Städten des Landes zumindest Umgang miteinander gepflegt. Ich habe auf der Konferenz gesagt, daß man sich nicht immer aussuchen kann, mit wem man Bündnisarbeit macht. In der Türkei war es jedenfalls für eine Zeitlang möglich, daß Kommunisten, Rechte und antikapitalistische Muslime einen bestimmten Weg zusammen gegangen sind.

Wenn die Sozialdemokratie hier in Deutschland als Feind dargestellt wird, ist das ein Schuß ins eigene Knie. Die Türkei liefert ein gutes Beispiel dagegen. Wenn man die AKP tatsächlich besiegen will, muß man sich die Frage stellen, ob man politisch sauber bleiben und darum nicht mit Sozialdemokraten zusammenarbeiten will. Wenn Sozialisten darauf beharren, die einzigen zu sein, die eine Revolution anstreben, werden sie das Ziel nicht erreichen. Ein Bündnis ist wichtig; nicht, weil die CHP eine sozialdemokratisch-linke Partie wäre, sondern weil wir wissen, daß bestimmte Errungenschaften der bürgerlichen Republik, nämlich Laizismus, Aufklärung, öffentliches Eigentum, Gleichberechtigung der Frauen, Emanzipation, Frieden usw., ansonsten nicht aufrechtzuerhalten sind. Deswegen wollen wir gemeinsam gegen die neoliberale, faschistische AKP-Regierung kämpfen. Es geht nicht darum, die CHP an die Macht zu bringen, sondern unsere eigenen Kampfbedingungen zu verbessern.

SB: Hält sich die radikale oder politische Linke in der Türkei für stark genug, um in einem solchen Bündnis von den sozialdemokratischen Positionen nicht völlig aufgerieben oder assimiliert zu werden? Besteht nicht die Gefahr, auf diese Weise jede programmatische Kontur und Identität zu verlieren?

DK: Wir wollen keineswegs den Sozialismus aufgeben, sondern sind im Moment an einem Punkt in der Geschichte, wo wir entscheiden müssen, ob wir einen islamischen Faschismus zulassen, in dem die Scharia und proamerikanisch imperialistische Interessen herrschen, oder ob wir die Errungenschaften der bürgerlichen Republik verteidigen wollen. An dieser Grenze droht die Türkei von einer bürgerlichen Republik zum islamischen Autoritarismus überzugehen. Daher sollte man sich als Linker die Frage stellen, ob man weiterhin gegen die Sozialdemokratie kämpfen oder eine faschistische islamische Republik verhindern will.

SB: Du bist gerade aus der Türkei zurückgekommen. Wie ist der letzte Stand der Proteste und Bündnisse gegen die AKP?

DK: Dazu möchte ich erst einmal etwas zum Charakter der Bewegung sagen. Sie ging von einem radikalen Straßenprotest aus, aber ihr Klassencharakter war schwach ausgeprägt. In der Türkei gab es fast zeitgleich zu den Protesten im Gezi-Park einen Streik der Gewerkschaft der Turkish Airlines, der jedoch überhaupt nichts gebracht hat. Eigentlich müßte sich die Radikalisierung auch in den Arbeitskämpfen widerspiegeln. Die Menschen haben auf der Straße mit aller Entschiedenheit gegen die Polizei und AKP gekämpft, aber waren nicht bereit, mit der gleichen Entschlossenheit gegen die Arbeitgeber vorzugehen. Nachts haben sie gekämpft, und morgens sind sie zur Arbeit gegangen. Deswegen ist es der Bewegung nicht gelungen, die AKP zum Rücktritt zu zwingen. Die Bewegung war die größte und stärkste in der Geschichte der türkischen Republik, aber aufgrund der Unorganisiertheit und Spontaneität ihrer Entstehung hat sich kein Klassenbewußtsein bilden können. Natürlich kann man nicht erwarten, daß eine Bewegung jahrelang andauert und auf demselben Niveau weitergeht. Hätte sie einen revolutionären Charakter bekommen, wäre sie vielleicht in der Lage gewesen, wirklich etwas zu verändern, aber so hat sie dem Einfluß der AKP nur Grenzen gesetzt.

Wie auch in Deutschland haben die Menschen in der Türkei Angst vor den Auswirkungen der Krise und sind um ihre Zukunft besorgt. Deswegen hat Frau Merkel auch die Wahl gewonnen. Merkwürdigerweise haben die kleinen Leute und Hartz-IV-Bezieher die CDU aus der Furcht heraus gewählt, auch noch das verlieren zu können, was ihnen bisher in der Krise geblieben ist. Natürlich hatten sie Angst, daß es sie bei einem Regierungswechsel so treffen würde wie die Menschen in Griechenland und Italien. Weil sie unorganisiert sind und nicht den Mut haben zu kämpfen, wählen sie über die Vertretungspolitik diejenige Partei, die ihnen das Gefühl vermittelt, alles im Griff zu haben. Dasselbe Problem haben wir in der Türkei, wo die Menschen durch Kredite für das Eigenheim oder das Auto bei den Banken verschuldet sind. Sie fürchten, daß bei einem Regierungswechsel eine Krise kommen könnte und sie dann alles verlieren. Bei der Bankenkrise 2001 haben die Menschen einen Großteil ihres Vermögens verloren. Weil sie erneut ein Chaos fürchteten, hatten sie bei den letzten Wahlen die AKP gewählt. Statt radikale Lösungen zu suchen, haben sie auf die Wahlurne gesetzt.

In der nächsten Zeit werden in der Türkei Kommunal- und Parlamentswahlen stattfinden. Die Kommunalwahlen könnten eine Gelegenheit sein, der AKP einen Denkzettel zu verpassen. Denn die AKP begründet ihre Legitimität aus den 50 Prozent, die sie bei der letzten Wahl erhalten hat. Diese Legitimität wollen wir ihr nehmen. Weil die AKP Stimmenverluste bei den Parlamentswahlen beschönigen würde, ist es um so wichtiger, daß wir in Istanbul, Ankara und in den größeren Städten die Kommunalwahlen für uns entscheiden. Doch ohne eine Zusammenarbeit zwischen Kurden, Sozialdemokraten, Kommunisten und teilweise auch rechten Kemalisten wird das nicht möglich sein.

SB: Die Kurden als größte Minderheit der Türkei könnten das Zünglein an der Waage spielen, zumal Erdogan seine Versprechen gegenüber der kurdischen Bewegung nicht eingelöst hat. Wie schätzt du den politischen Aktionsrahmen der Kurden ein?

DK: Seit ungefähr fünf oder sechs Jahren täuscht die AKP vor, demokratisch und liberal zu sein und vor allem die Absicht zu haben, das Kurdenproblem zu lösen. Doch eine Partei, die auf der politischen und kulturellen Ebene die Scharia einführen will, ist und bleibt reaktionär, auch wenn sie eine freiheitliche Demokratie propagiert. So sind viele Liberale in der Türkei der AKP auf den Leim gegangen, als sie bei der Volksabstimmung vor drei Jahren für die Justiz- und Verfassungsreform gestimmt haben, wodurch die Justiz in die Hände der AKP gefallen ist. Tatsächlich haben sich die Polizeigesetze verschärft. Wenn heute jemand auf einer Demonstration einen Arbeitshelm oder einen Mundschutz trägt, wird das als Waffe oder passive Form der Bewaffnung gewertet. Die Demonstranten tragen den Mundschutz gegen das Tränengas und den Arbeitshelm, weil die Polizei immer häufiger von der Schußwaffe Gebrauch macht. Neben Toten wurden Hunderte Personen in den letzten Jahren verletzt. Nach der neuen Gesetzeslage können gegen Demonstranten wegen des Tragens eines Arbeitshelms Verfahren eröffnet werden, denn der Helm wird als Waffe gegen die Polizei gewertet. In dieser Lage befinden wir uns inzwischen. Daß die Polizei auf Menschen schießt und sie tötet, wird dagegen von der Justiz nicht geahndet.

Die TKP hat von Anfang an gesagt, daß die AKP Macht- und Kriegspolitik verkörpert, reaktionär ist und faschistische Ziele verfolgt. Die AKP ist für sie der Feind, der bekämpft werden muß. Die Kurden hatten sich, als die AKP Versprechungen in ihre Richtung machte und vorgab, eine kurdenfreundliche Politik zu betreiben, aus der Volksabstimmung weitgehend herausgehalten. So konnte die AKP über das Referendum die Justiz übernehmen. Heute haben die Kurden wie auch die Liberalen verstanden, daß die AKP sie hereingelegt hat. Ohne Analyse und kritische Haltung, wenn man sich einfach nur einer Erwartung überläßt und keine Kriterien besitzt, mit wem man ein Bündnis eingehen kann, wird man unterliegen. Die AKP ist keine Partei, mit der die Kurden Kompromisse schließen könnten. Aber sie schwanken weiterhin und hoffen, vielleicht noch etwas bewegen zu können.

Inzwischen haben sie jedoch zugegeben, daß sie sich bei den Protesten im Gezi-Park zu sehr zurückgehalten und auch Fehler gemacht haben. Das ist immerhin ein Fortschritt, aber wenn jetzt bei den kommenden Kommunalwahlen nicht tatsächlich ein Bündnis zwischen den Kurden, Kemalisten und Kommunisten geschmiedet wird, dann wird es höchstwahrscheinlich zu einem Bürgerkrieg in der Türkei und einem Krieg gegen Syrien kommen. Die Strategie der AKP geht dahin, die Kurden gegen die Türken bzw. die Alewiten gegen die Sunniten auszuspielen. Die AKP spielt die Kriegskarte, weil sich dadurch ihre politischen Möglichkeiten verbessern. Die gleiche Strategie betreibt sie mit Syrien, weil dort eine alewitische Regierung herrscht. Über die Syrer versucht die AKP, die türkische Gesellschaft zu polarisieren und auf einen Krieg einzustimmen. Wenn wir nicht zur Einsicht kommen und weiterhin darauf beharren, als Kommunist nicht mit den Sozialdemokraten zusammenarbeiten zu wollen, oder wenn die Kurden auf Distanz zu den Kemalisten bleiben, weil sie sagen, sie haben uns in der Geschichte eliminiert und zur Assimilation gezwungen, dann werden wir diese Schlacht verlieren, und was dann kommt, wird um so schlimmer.

SB: Hast du aus diesem Grund bei der Veranstaltung, als die Zuschauer Fragen stellen konnten, für eine größere Bündnisbereitschaft geworben?

DK: Man kann sich nicht immer aussuchen, mit wem man ein Bündnis schließt, wenn man gegen den Faschismus kämpfen will. Die Kemalisten sind sicherlich eine opportunistische Partei und machen auch bei der neoliberalen Politik mit, aber trotzdem gibt es in dieser Partei viele, die antifaschistisch sind und ab einem bestimmten Moment auch auf die Straße gehen und sich mit den Linken verbünden. Man hat die Wahl, ob man eine neoliberale Politik mit der Scharia im Nacken akzeptieren oder sie besiegen will.

SB: Duran, vielen Dank für das Gespräch.

Gezi-Park am 8. Juni 2013 - Foto: Burak Su (Gezi parki) - CC-BY-SA-2.0, via Wikimedia Commons

Schwarz und rot vereint
Foto: Burak Su (Gezi parki) / CC-BY-SA-2.0, via Wikimedia Commons


Fußnoten:

[1] http://www.kapitalismus-in-der-krise.de/

Bisherige Beiträge zur Veranstaltungsreihe "Bürgerliche Herrschaft in der Krise" im Schattenblick unter INFOPOOL → POLITIK → REPORT:

BERICHT/165: Herrschaft in der Krise - Wo steht der Feind? (SB)
BERICHT/166: Herrschaft in der Krise - Mangel, Druck und Staatsräson (SB)
INTERVIEW/196: Herrschaft in der Krise - Bündnisse der Arbeit, Hans-Peter Brenner im Gespräch (SB)
INTERVIEW/197: Herrschaft in der Krise - der Lackmustest, Markus Bernhardt im Gespräch (SB)

18. Oktober 2013