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INTERVIEW/220: Bündnis breit und gegen ... - Konfession und Unterdrückung, Melek Yildiz im Gespräch (SB)


Erdogan erklärt die Aleviten als "Atheisten" für vogelfrei

Interview am 24. Mai 2014 in Köln



Melek Yildiz gehört als Stellvertretende Generalsekretärin dem Bundesvorstand der Alevitischen Gemeinde Deutschland an und ist dort für den Bereich Wissenschaft, Forschung und Bildung sowie Internationale Arbeit zuständig. [1] An der Pädagogischen Hochschule Weingarten forscht und lehrt die Studienrätin im Erweiterungsstudiengang "Alevitische Religionspädagogik". [2]

Bei der Großkundgebung gegen den Besuch des türkischen Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdogan am 24. Mai in Köln beantwortete Frau Yildiz vor Beginn der Auftaktkundgebung auf dem Ebertplatz dem Schattenblick einige Fragen.

Im Gespräch - Foto: © 2014 by Schattenblick

Melek Yildiz
Foto: © 2014 by Schattenblick

Schattenblick: Frau Yildiz, heute sind hier sehr viele verschiedene Organisationen zusammengekommen, um ihren Protest gegen den türkischen Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdogan und die AKP-Regierung zum Ausdruck zu bringen. Ist das ein einmaliges Beispiel, daß so viele unterschiedliche Gruppierungen gemeinsam eine Demonstration und Kundgebung dieser außergewöhnlichen Größenordnung durchführen?

Melek Yildiz: Ja, wenngleich wir als Alevitische Gemeinde auch schon im Juni letzten Jahres hier zu einer Protestkundgebung aufgerufen haben, an der dann auch andere Organisationen und Fraktionen teilnahmen. Aber dieses Mal ist die Anfrage noch größer aufgrund der jüngsten Ereignisse in der Türkei wie das Grubenunglück in Soma und die jüngsten Anschläge auf Demonstranten in Istanbul. Ja, ich habe das Gefühl, daß diesmal der Ansturm noch größer ist und das gemeinsame Interesse weit über den Kreis der direkt Betroffenen hinaus sehr viele Menschen bewegt und verbindet, die sich gegen den antidemokratischen Regierungsstil Erdogans auflehnen und deshalb heute hier bei uns sind.

SB: Wie haben Sie in den zurückliegenden Tagen und Wochen die Berichterstattung der deutschen Presse erlebt? Diese hat ja dem bevorstehenden Besuch Erdogans in Köln beträchtliche Aufmerksamkeit geschenkt. Geschah das auf eine Art und Weise, mit der Sie einverstanden waren, oder wurden Ihres Erachtens dabei auch wichtige Aspekte der Problematik ausgeblendet?

MY: Uns ist aufgefallen, daß die deutsche Politiklandschaft nun endlich von unserer Kritik Notiz nimmt und auch klare Positionen bezieht. Wir hatten ja die Kritik an Erdogan und seiner Regierung schon vor Jahren propagiert und immer wieder auf die menschenrechtsverletzenden Aktionen des türkischen Ministerpräsidenten hingewiesen. Jetzt haben wir den Eindruck, daß durch die Kette der Ereignisse auch die deutschen Politiker wach geworden sind und Erdogan und seine Machenschaften endlich entlarvt haben.

SB: Wie würden Sie das Verhältnis der deutschen Regierungspolitik zur Türkei grundlegend bewerten?

MY: Es ist schon so, daß es durch den Besuch des Bundespräsidenten Gauck zu einigen Spannungen gekommen ist. Dieser hat bei seinem Besuch in der Türkei sachlich und klar Kritik geäußert, was Erdogan ganz und gar nicht gefallen hat. Der Bundespräsident war zuvor auf unserer Newroz-Veranstaltung und hat an unserer religiösen Zeremonie teilgenommen. Er hat uns wertgeschätzt und noch einmal betont, wie wichtig es ihm ist, daß wir hier unseren Glauben und unsere Kultur leben können. Und er hat natürlich dieses Gefühl und diese Erlebnisse mit in die Türkei getragen. Das gehört zu den Dingen, die Ministerpräsident Erdogan stören, daß die Menschen hier in Deutschland das erleben dürfen, was er uns in unserem originären Heimatland Türkei verwehrt.

SB: Herr Erdogan hat kürzlich über die Aleviten gesagt, sie seien Atheisten, was nach seiner Lesart einer der denkbar heftigsten Angriffe ist.

MY: Genau. Das ist zum einen eine Diffamierung der Atheisten, die er mit dieser Aussage herabwürdigt. Zum anderen hat kein Ministerpräsident der Türkei, die eigentlich ein laizistischer Staat ist, das Recht, die Glaubensauffassung anderer zu bewerten. Sie müssen sich das auch einmal im historischen Kontext ansehen. Wenn er sagt, wir seien Atheisten, dann bedeutet das, daß wir Ungläubige sind. Und nach seiner Vorstellung und der seiner antidemokratischen Regierung sind Ungläubige im Prinzip so etwas wie vogelfrei. Ich halte es für sehr gefährlich, solche Aussagen zu machen, zumal wir immer häufiger bedroht werden. Ich halte das für absolut falsch und mißbillige das. Wir verbitten uns, daß Ministerpräsident Erdogan vorgeben will, wie unsere Glaubensauffassung zu sein hat, und wir mißbilligen, daß er Atheisten in einer solchen Art und Weise diffamiert.

SB: Wie würden Sie als Alevitische Gemeinde grundlegend zur Glaubensfrage Stellung nehmen? Welchen Stellenwert nimmt sie aus Ihrer Sicht ein?

MY: Wir sind natürlich eine Religionsgemeinschaft, aber bei uns Aleviten bedeutet das auch, daß es keinen Zwang zur Religion gibt. Das ist uns sehr wichtig. Wir geben niemandem vor, was er zu glauben oder nicht zu glauben hat, und möchten natürlich, daß alle Menschen, unabhängig von ihrer Religion und ihrer Ethnie als gleichwertig betrachtet werden. Welcher Religion er sich zugehörig fühlt, muß jeder mit sich selbst ausmachen, und wir dürfen anderen Menschen nicht vorschreiben, was sie zu glauben haben.

SB: Auf welche Weise könnte man Ihrer Ansicht nach der deutschen Bevölkerung vermitteln, welche Rolle politische und religiöse Überzeugungen in diesem Zusammenhang spielen?

MY: Man muß natürlich darauf achten, daß die Religionsausübung privat ist, aber dennoch frei ausübbar sein muß. Der Staat muß die Menschen in diesem Sinne schützen. Wenn wir öffentlich diffamiert werden und Pogrome gegen Andersdenkende oder andere Religionsgemeinschaften verübt werden, dann erwarten wir natürlich Schutz von der Regierung und auch Aufklärung. Die türkische Regierung leistet noch immer keine Aufklärungsarbeit zu den verbreiteten Pogromen gegen Aleviten, während Erdogan hier in Deutschland genau dasselbe vom deutschen Staat verlangt. Deswegen müßte im Umkehrschluß auch der deutsche Staat Aufklärung über die Pogrome in der Türkei gegen Aleviten, gegen Kurden, gegen Armenier und Aramäer verlangen.

SB: Frau Yildiz, vielen Dank für dieses Gespräch.

Text: Ohne Zweifel gibt es etwas, das diese Kinder wissen. Schließlich ist es nicht leicht, so jung zu sterben. Das Leben, als wäre es ein grünes Blatt, vom Ast trennend ins Feuer zu werfen - Foto: © 2014 by Schattenblick

Transparent des Bundes der Alevitischen Jugendlichen in Deutschland (BDAJ)
Foto: © 2014 by Schattenblick


Fußnoten:

[1] http://alevi.com/de/wir-uber-uns/bundesvorstand/

[2] http://www.ph-weingarten.de/grafiken/logo-paedagogische-hochschule-weingarten.gif


Bisherige Beiträge zur Großkundgebung gegen den Besuch des türkischen Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdogan in Köln im Schattenblick unter
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