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INTERVIEW/246: Erblast Rassismus USA ...    Glen Ford im Gespräch (SB)


Für Amerikas Schwarze ist Ferguson überall

Interview mit Glen Ford am 25. September 2014 in New Jersey



Seit der Erschießung des unbewaffneten schwarzen Jugendlichen Michael Brown durch den weißen Polizeibeamten Darren Wilson in Ferguson, Missouri, am 9. August reißen in den USA die landesweiten Demonstrationen gegen übermäßige, rassistisch-motivierte Gewaltanwendung durch staatliche Ordnungshüter nicht mehr ab. Gerade in den vergangenen Tagen haben mehrere Ereignisse die Proteste erneut angefacht. Am 22. November hat in Cleveland, Ohio, der weiße Polizist Timothy Loehman den 12jährigen Schwarzen Tamir Rice, der sich in einem Park mit einer Spielzeugpistole amüsierte, mit zwei Bauchschüssen "außer Gefecht gesetzt"; der Junge erlag am nächsten Tag seinen Verletzungen. Am 24. November hat die skandalöse Entscheidung einer Grand Jury in St. Louis, keine Anklageerhebung gegen Darren Wilson wegen der Tötung von Michael Brown zu empfehlen, in Teilen der amerikanischen Öffentlichkeit Empörung und Kopfschütteln ausgelöst. Eine ähnliche Reaktion erfolgte, als am 3. Dezember eine Grand Jury in New York entschied, keine Anklage gegen den weißen Polizisten Daniel Pantaleo zu empfehlen, der bei der Festnahme des Schwarzen Eric Garner am 17. Juli vor einem Bahnhof in Staten Island mit einem illegalen Würgegriff den Erstickungstod des sechsfachen Familienvaters herbeiführte. Vor dem Hintergrund der Ferguson-Proteste traf sich am 25. September der Schattenblick in Fairfield, New Jersey, mit Glen Ford, Gründer und Chefredakteur der Zeitschrift Black Agenda Report, um mit ihm über das Problem Rassismus in der US-Gesellschaft zu sprechen, das viele Medienkommentatoren durch die Wahl Barack Obamas zum erstem schwarzen Präsidenten der USA im Jahr 2008 für überwunden erklärt hatten.

Glen Ford im Porträt - Foto: © 2014 by Schattenblick

Glen Ford
Foto: © 2014 by Schattenblick

Schattenblick: Letztes Jahr löste die Erschießung des schwarzen Jugendlichen Trayvon Martin durch einen privaten Wachmann in Florida eine lebhafte Debatte zum Thema Rassismus und rassistische Gewalt aus. Diese Debatte ist vor wenigen Wochen durch den Tod eines weiteren schwarzen Jugendlichen namens Michael Brown, der, obwohl völlig unbewaffnet, von einem weißen Polizisten in Ferguson, Missouri, erschossen wurde, wieder aufgeflammt. Seit dem gewaltsamen Tod Browns reißen die Proteste in Ferguson nicht ab. Alle paar Tage werden schwarze Jugendliche oder junge schwarze Männer von Polizisten umgebracht, ohne daß die Umstände annähernd aufgeklärt, geschweige denn juristisch aufgearbeitet werden. Von daher die Frage: Worin besteht der Unterschied des Todes von Michael Brown zu allen anderen solchen Todesfällen, und erwarten Sie, daß die Proteste in Ferguson und die martialische Reaktion der Behörden darauf zu einer Umkehr weg von der zunehmenden Militarisierung der amerikanischen Polizei auf der lokalen sowie auf der Bundesebene führen werden?

Glen Ford: Das Besondere an den Ereignissen von Ferguson sind nicht die Umstände der Ermordung von Michael Brown. Sie waren genauso brutal wie bei allen anderen Mordfällen, in denen junge Schwarze von der Polizei umgebracht wurden. Der Grund, warum der Name Ferguson seit Wochen die Nachrichten in den USA beherrscht und in aller Welt bekannt geworden ist, besteht darin, daß sich die Menschen dieses mehrheitlich von Schwarzen bewohnten Vororts von St. Louis entschieden haben, die Polizeibrutalität nicht mehr widerspruchslos hinzunehmen. Es wäre eine Illusion zu glauben, daß hier die Militarisierung der Polizei das Problem sei. In Ferguson genauso wie in anderen armen, mehrheitlich von Schwarzen bewohnten Siedlungen in den USA verhält sich die mehrheitlich weiße Polizei wie eine Besatzungsmacht und wird von den Bewohnern auch so empfunden. An dieser grundlegenden Tatsache ändert es nur wenig, ob der Polizeibeamte eine Schirmmütze statt eines Helms auf dem Kopf trägt und einen Schlagstock statt einer Pistole oder eines Maschinengewehrs in der Hand hält. Schon lange bevor die Polizei von Ferguson das ganze Kriegsgerät hat auffahren lassen, protestierten die Menschen dort gegen die Ermordung ihres Freundes und Nachbarn Michael Brown.

Bei Trayvon Martin, der in Sanford, Florida, getötet wurde, kam es zu keiner spontanen Protestbewegung seitens der dortigen schwarzen Bevölkerung. Es gab zwar landesweite Kundgebungen und eine wochenlange Rassismus-Debatte, aber das war es dann auch. Bei Trayvon Martin denkt man zuerst an das Opfer, bei Michael Brown zuerst an Ferguson, weil dort die Menschen auf die Straße gegangen sind, um gegen Polizeibrutalität zu demonstrieren. Ohne diese wochenlange Protestaktion wäre der Name Michael Brown wie der vieler anderer von der Polizei ermordeter Schwarzer vermutlich längst wieder in Vergessenheit geraten. Die Massenmobilisierung der Einwohner von Ferguson, ihr entschiedenes Nein zur Polizeigewalt - das ist der wesentliche Unterschied zwischen den Fällen Trayvon Martin und Michael Brown. Dadurch ist Ferguson zum Symbol der Hoffnung geworden, daß die Menschen durch Kundgebungen und zivilen Ungehorsam den notwendigen politischen Druck erzeugen können, damit es in den USA als ganzes zu einer Polizeireform kommt, die diesen Namen verdient. Diese Hoffnung wird durch die Entstehung zahlreicher Gruppen in den schwarzen Vierteln und Siedlungen in Reaktion auf Ferguson gegen die alltägliche Unterdrückung in ihren Gemeinden durch die Polizei bestärkt.

Man darf nicht vergessen, daß jedes Aufbegehren der Schwarzen in den letzten Jahrzehnten in den USA gegen Unterdrückung durch einen Akt der Polizeibrutalität, der staatlichen Gewalt, ausgelöst wurde. Dazu zähle ich auch das Attentat auf Martin Luther King 1968, hinter dem die allermeisten Schwarzen bis heute staatliche Stellen vermuten. Aus dem Zusammenprall zwischen staatlicher Unterdrückung durch die Polizei auf der einen Seite und der Empörung bzw. Mobilisierung der schwarzen Bevölkerung auf der anderen sehe ich die Möglichkeit für politische Veränderung.

Fünf Mitglieder der NYPD-Reiterstaffel in Reichweite der New Yorker Börse postiert - Foto: © 2014 by Schattenblick

Berittene Polizisten in Bereitschaft am Rande der Flood-Wall-Street-Demonstration am 22. September im Finanzviertel Manhattans
Foto: © 2014 by Schattenblick

SB: Sie haben vor kurzem in einem faszinierenden Artikel für Black Agenda Report die Geschichte der Militarisierung der Polizei in den USA analysiert und nachgewiesen, wie sehr diese bis heute anhaltende Entwicklung von dem Streben getragen wird, das Aufbegehren unterschiedlicher schwarzer Bewegungen niederzuschlagen. So wurden zum Beispiel in den sechziger Jahren in Kalifornien die ersten SWAT-Teams gegen die gerade entstandenen Black Panthers eingesetzt. Bitte erzählen Sie uns etwas mehr dazu.

GF: Man hat es in den letzten Jahrzehnten in den USA nicht einfach mit einer Militarisierung der Polizei und einem drastischen Anstieg der Gefangenenbevölkerung zu tun. Nein, die Aufrüstung der Polizei und die Masseninhaftierung eines guten Teils der männlichen schwarzen Bevölkerung ist eine direkte Reaktion der weißen Herrschaftselite auf die schwarze Befreiungsbewegung der sechziger Jahre gewesen. Die Statistiken weisen nach, daß die große Inhaftierungswelle Ende der sechziger Jahre parallel zur Unterdrückung der verschiedenen radikalen schwarzen Gruppen ihren Lauf nahm. Im Rahmen des geheimen COINTELPRO-Programms hat das FBI erfolgreich schwarze Gruppen und deren Anführer diskreditiert und kaltgestellt. Zu den prominentesten Opfern dieses Programms gehören Martin Luther King und Fred Hampton, damals Vorsitzender der Black Panther Party in Chicago, Illinois, der 1969 bei einer Polizeirazzia in seiner Wohnung durch Kopfschüsse getötet wurde.

Bei der Masseninhaftierung junger schwarzer Männer hat man es mit der Kriminalisierung und Unterdrückung einer ganzen Bevölkerung zu tun. Seit 1970 hat sich die Zahl der Gefängnisinsassen in den USA verachtfacht, während parallel dazu der Prozentanteil der Schwarzen drastisch zugenommen hat. 1965 waren 70 Prozent der Gefängnisinsassen in den USA weiß. Heute liegt der Anteil der Weißen unter 30 Prozent, während derjenige der Schwarzen überproportional hoch ist. Der wichtigste Vorwand, junge Schwarze hinter Gitter zu bringen, war und ist bis heute der Antidrogenkrieg, den Präsident Richard Nixon 1970 proklamiert hat. Auf den berühmten Tonbandaufnahmen aus dem Weißen Haus von damals sind Gespräche zwischen Nixon und seinem Stabschef Bob Haldeman zu hören, wie sie sich über die Aufmüpfigkeit der Schwarzen beschweren und darauf einigen, daß der Kampf gegen Drogenkonsum das geeignete Mittel sei, den mißliebigen Widerstand in den schwarzen Gemeinden zu brechen.

Doch das sind keine neuen Erkenntnisse. Daß vornehmlich die Schwarzen in den USA mittels des Antidrogenkrieges unterdrückt werden, ist seit langem bekannt. Und daß die Polizei die Black Panther Party mit allen Mitteln der Kunst ausspioniert, unterwandert, mit Absicht in gewalttätige Auseinandersetzungen verwickelt und schließlich zerschlagen hat, ist unter den Schwarzen Amerikas und darüber hinaus seit mehr als vierzig Jahren bekannt. Als Ende der sechziger Jahre die ersten SWAT-Teams bei der Polizei in Los Angeles gegründet wurden, handelte es sich nicht um eine Vorsorgemaßnahme für den Fall eines Zusammenbruchs der öffentlichen Ordnung etwa wie bei einem Erdbeben, es war eine direkte Reaktion auf das Aufbegehren der schwarzen Jugend gegen Benachteiligung und Unterdrückung. Die Schwarzen standen als Staatsfeinde, als Zielobjekte der neuen Kampftruppe des LAPD bereits fest. Folgerichtig knüpften sich die ersten Einsätze der SWAT-Teams sofort die Black Power Movement und deren Anführer in Los Angeles vor. Bis heute ist 43, die Zahl des Reviers in Los Angeles, wo das erste SWAT-Team angesiedelt war, unter Amerikas Sonderpolizei berühmt und zu einer Art geheimem Codewort geworden.

SB: Im Rahmen von COINTELPRO gingen das FBI, die SWAT-Teams und der ganze Unterdrückungsmechanismus des Staats gegen alle vor, die aus Sicht der Herrschenden als Unruhestifter galten, seien es die Black Panthers, die Anführer der mexikanischen Landarbeiter oder die der Indianer-Bewegung - Stichwort Leonard Peltier. Warum hat aber gerade die Unterdrückung der Black Panther Party ein derart gewalttätiges Ausmaß angenommen? Hing das mit einer Teile-und-herrsche-Strategie zusammen oder ging von den Schwarzen tatsächlich die größte Bedrohung für das bestehende System aus?

GF: Nun, die letztgenannte These wurde von keinem Geringeren als FBI-Chef J. Edgar Hoover persönlich vertreten. Und diejenigen Schwarzen, die damals die Unterdrückungsmaßnahmen zu spüren bekamen, stimmten ihm in seiner Einschätzung zu. Damals hofften bzw. nahmen die meisten schwarzen Dissidenten an, daß die größte Möglichkeit für Rebellion und Veränderung in den USA von den Schwarzen und damit von dem am stärksten unterdrückten Teil der Bevölkerung ausging. Man kann Radikalisierung schwer messen. Dennoch vertreten die allermeisten Schwarzen in den USA, seit ihre Meinung in den Umfragen miterfaßt wird, einen weit linkeren und progressiveren Standpunkt in allen gesellschaftlichen Fragen als die weißen Durchschnittsbürger. So spricht sich beispielsweise eine Mehrheit der Schwarzen in Umfragen kontinuierlich gegen Militärinterventionen und Kriegseinsätze der US-Streitkräfte im Ausland aus.

Vor etwa fünf Jahren hat ein weißer Wissenschaftler eine Studie durchgeführt, bei der er die US-Städte auf einer Links-Rechts-Skala einordnen wollte. Wie er selbst später erklärte, ging er am Anfang davon aus, daß sich Cambridge, Massachusetts, Ann Arbor, Michigan, und San Francisco, Kalifornien, allesamt Hochburgen weißer Liberaler, als die Städte in den USA erweisen würden, deren Bevölkerung am weitesten links stehe. Tatsächlich mußte er zu seiner eigenen Überraschung feststellen, daß diese Ehre den Städten Newark, New Jersey, Washington D. C., Detroit, Illinois, und Atlanta, Georgia - also den urbanen Zentren mit dem höchsten schwarzen Anteil an der Bevölkerung - zuteil wurde. Also deckten sich die politischen Unterschiede auf seiner Landkarte der USA mit den unterschiedlichen Zusammensetzungen der Rassen in den verschiedenen Städten und Landesteilen. Das Fazit der Studie lautete: Je mehr Schwarze es in einer Stadt gibt, um so linkslastiger fällt das Wahlverhalten dort aus. Für die meisten schwarzen Politaktivisten war das keine neue Erkenntnis, für den Wissenschaftler, der die Studie durchführte, schon.

Selbst viele Weiße wollen das progressive Potential von Amerikas Schwarzen nicht anerkennen. Ich erinnere mich, wie vor rund fünfzehn Jahren The Nation, die ehrwürdigste, angesehenste Zeitschrift der linken Intelligenz in den USA, eine Sonderausgabe herausgab. Darin sollte die amerikanische Linke gefeiert werden. Die Titelseite schmückte eine Parodie des berühmten Bilds von Saul Weinberg "View of the World from Ninth Avenue", das 1976 auf der Titelseite der Zeitschrift New Yorker erschien und das die Provinzialität der Perspektive der Einwohner Manhattans verspottete. In der Persiflage von The Nation wurden auch die verschiedenen Gegenden von Amerika, von New York aus gesehen, politisch eingeordnet und leicht parodiert. Im Heft selbst wurde die Geschichte der amerikanischen Linken gefeiert. Doch interessanterweise fand sich unter all den Großen der amerikanischen Linken, die dort zelebriert wurden, nicht ein einziger Schwarzer. Nicht ein einziger! Und das ungeachtet der Tatsache, daß die Schwarzen und ihre Anführer stets an vorderster Front gestanden haben, als es in diesem Land um den Kampf um höhere Löhne und bessere Arbeitsbedingungen, um Gleichberechtigung und vieles mehr ging. Das ist ein Aspekt der linken Geschichte, auf das viele Schwarze zu Recht stolz sind. Mitzuerleben, wie das von The Nation, dem Aushängeschild der amerikanischen Linken, einfach ignoriert wurde, war eine schwere Enttäuschung.

Glen Ford nachdenklich, am Tisch sitzend - Foto: © 2014 by Schattenblick

Foto: © 2014 by Schattenblick

SB: Aufgrund von Volksentscheiden gehen in letzter Zeit immer mehr Bundesstaaten dazu über, den Anbau, Besitz, Verkauf und Konsum von Marihuana zu dekriminalisieren. Vor wenigen Tagen hat Justizminister Eric Holder eine wichtige Rede gehalten, in der er eine Abkehr vom Antidrogenkrieg und eine Verkleinerung der Gefangenenbevölkerung in den USA in Aussicht stellte. Worauf führen Sie die sinkende Popularität des Antidrogenkrieges zurück? Ist die Masseninhaftierung von Millionen Bürgern aufgrund irgendwelcher läppischen Drogendelikte dem Staat zu teuer geworden? Oder ist es vielleicht zu früh, von einer wirklichen Abkehr vom Antidrogenkrieg zu sprechen?

GF: Ich denke, es ist noch zu früh. Das Problem der Masseninhaftierung bleibt bestehen. Nach drei Jahren leichter Rückgänge ist die Zahl der Gefängnisinsassen 2013 in den USA wieder gestiegen. Die Zahlen dazu sind erst vor kurzem veröffentlicht worden. Daraus geht hervor, daß der Prozentanteil der Schwarzen an der gesamten Gefangenenbevölkerung in den letzten Jahren ganz leicht gesunken ist. Dafür ist kein Rückgang der absoluten Anzahl der schwarzen Inhaftierten, sondern ein Anstieg der Zahl der weißen Gefängnisinsassen verantwortlich. Ich habe vor kurzem hierzu ein Interview mit den Verantwortlichen beim Sentencing Project, einer Nicht-Regierungsorganisation, die sich seit Jahren für eine grundlegende Reform des US-Strafrechtssystems stark macht, geführt. Ihnen zufolge ist der Anstieg bei den weißen Gefangenen darauf zurückzuführen, daß die Polizei immer stärker gegen die Konsumenten, Hersteller und Verkäufer von Crystal Meth, das sich, wie wir alle spätestens seit der Fernsehserie "Breaking Bad" wissen, unter der weißen Unter- und Mittelschicht in den letzten Jahren stark verbreitet hat, vorgeht. Aber käme es wegen Crystal Meth bei den Weißen zu einer derart hohen Verhaftungsrate wie bei den Schwarzen wegen Crack oder Marijuana, würde das Gefängnissystem der USA völlig kollabieren und man vermutlich eine landesweite Revolte erleben. Insgesamt glaube ich, daß die gigantischen Kosten der bisherigen Masseninhaftierung gekoppelt mit der Angst vieler republikanischer Politiker und Wähler, die eigenen Kinder könnten wegen Crystal Meth in Konflikt mit dem Gesetz geraten und für lange Jahre hinter Gitter verschwinden, die Chancen für eine Reform der drakonischen Antidrogengesetzgebung der USA gebessert haben.

Barack Obamas plötzliche Entdeckung der Notwendigkeit der Strafrechtsreform, wo er nur noch zwei Jahre im Weißen Haus hat, kommt für mich viel zu spät. Da sind selbst die Republikaner, von denen die meisten reaktionär-konservativ sind, weiter. Ein bemerkenswerter Aspekt des Aufkommens der Tea-Party-Fraktion bei den Republikanern ist, daß es sich hier um Libertäre handelt, die prinzipiell gegen staatliche Intervention sind und folglich sowohl den Antidrogenkrieg als auch die damit einhergehende Masseninhaftierung ablehnen. Präsident Obama hat in dieser Frage keine Führungsqualität, sondern das Gegenteil gezeigt. Wie immer taktiert er vorsichtig und läuft dem Trend hinterher. Schwarze machen 25 Prozent der demokratischen Wählerschaft aus. Also ist es ein Anlaß zur Enttäuschung, daß es bei Obama und Holder so lange gedauert hat, bis sie sich endlich mit einem Thema befaßten, das seit Jahren ihre eigene Stammwählerschaft auf die Barrikaden bringt.

2010 wurde der Fair Sentencing Act vom Kongreß mit großer überparteilicher Mehrheit verabschiedet und von Obama unterzeichnet, der automatische langjährige Haftstrafen für den Besitz, Konsum und Verkauf von Crack-Kokain abschaffte. Zwar war das ein wichtiger Schritt, dennoch hinterließ er einen bitteren Beigeschmack deshalb, weil es die Obama-Regierung und die Demokraten im Kongreß bewußt unterließen, das Gesetz rückwirkend zu machen, was zur Haftentlassung von rund 6000 schwarzen Gefängnisinsassen geführt hätte. Selbst als die Betroffenen mit einer Klage die Rückwirksamkeit zu erstreiten versuchten, begegneten sie vor Gericht den Anwälten der Regierung auf der Gegenseite. Das war eine Position, die Obama nicht einnehmen mußte. Obama hätte sich auch auf die Seite derjenigen stellen können, welche die Rückwirksamkeit des Fair Sentencing Act forderten, er hat es aber nicht getan.

SB: Beim Black Agenda Report machen Sie und Ihre Kollegen aus Ihrer großen Unzufriedenheit mit Obama und Holder und auch mit der politischen Führerschaft der Schwarzen im Kongreß insgesamt keinen Hehl. Seit den Tagen der Bürgerrechtsbewegung gibt es immer mehr schwarze Polizeichefs, Richter, Bürgermeister, Kongreßabgeordnete und Senatoren. Doch der Aufstieg dieser politischen Klasse hat zur Verbesserung der Lebenswirklichkeit der allermeisten Schwarzen in den USA nicht viel beigetragen. Wie erklären Sie das Versagen der schwarzen Führungsschicht? Woher rührt Ihre Ernüchterung ihr gegenüber?

GF: Die Frage nach der Ernüchterung unterstellt, ich wäre von ihr irgendwann einmal eingenommen gewesen. Das war aber niemals der Fall. Machen wir einen kleinen geschichtlichen Exkurs. Nehmen wir als Ausgangspunkt das Jahr 1970. Martin Luther King ist eineinhalb Jahre tot. Die Masseninhaftierung junger Schwarzer hat begonnen. Die radikale Black-Power-Bewegung liegt am Boden. Ihre Anführer sind entweder tot, im Gefängnis oder völlig demoralisiert, während der pazifistische Flügel der schwarzen Bürgerrechtsbewegung zu einem Schatten seiner selbst verkommen ist. Der Grund, warum die Bürgerrechtsbewegung ausgelaugt ist, liegt darin, daß die einstigen Anführer, der Kreis um Luther King, Leute wie Jesse Jackson und Andrew Young, die Abschaffung des früheren Apartheid-Systems in den USA genutzt haben, um selbst politische Karriere zu machen. Die Aufhebung der früheren Rassentrennungsgesetze hat ihnen die Möglichkeit eröffnet, ihre Träume vom Aufstieg in die obere Mittelschicht zu verwirklichen. Dort angekommen, haben sie aktiv zur Demontage der schwarzen Bürgerrechtsbewegung beigetragen.

Viele schwarze Politiker sind Bürgermeister geworden. Bestes Beispiel ist Marion Barry in Washington. Nun, wenn man Bürgermeister ist, will man vor allem Ruhe in seiner Stadt haben und sich nicht mit irgendwelchen Bürgerbewegungen, wo sich potentielle Störenfriede umtun und aus deren Kreisen inakzeptable Forderungen kommen könnten, herumplagen. Die einzige Bewegung, die es geben soll, ist der Gang zur Wahlurne alle vier Jahre und sonst gar nichts. In dieser Hinsicht unterscheiden sich schwarze von weißen Politikern nicht im geringsten. 1972 trafen sich 4000 schwarze Politikaktivisten zu einer historischen Tagung, um sich über Strategien zur Erlangung höherer politischer Ämter zu beraten. Damals gab es lediglich 900 schwarze Berufspolitiker in den ganzen USA. Heute sind es mehr als 16.000.

Der Aufstieg der schwarzen Bürgermeister wurde durch die demographische Entwicklung begünstigt. Im Verlauf der sechziger und siebziger Jahre vor dem Hintergrund der Aufhebung der Rassentrennung sowie verschiedener wirtschaftlicher Faktoren setzte eine Flucht der weißen Mittelschicht aus den Städten ein, die sich in den Vororten niederläßt. Es kam zur Entstehung der sogenannten "Chocolate Cities" mit ihren "Vanilla Suburbs", wie es damals in dem berühmten Lied von George Clintons Funkkapelle Parliament hieß. Anfang der siebziger Jahre bekamen Großstädte wie Detroit und Atlanta erstmals schwarze Bürgermeister. Man kann diese Entwicklung nicht auf die Massenabwanderung der Schwarzen aus den Südstaaten in die Industriestädte des Nordens zurückführen, denn die ist bereits Mitte der sechziger Jahre mehr oder weniger abgeschlossen. Nein, die Entstehung zahlreicher Städte mit schwarzer Mehrheit ist das Resultat des Umzugs eines Großteils der weißen Bevölkerung in die Vororte gewesen. Infolge dieser Kräfteverschiebung in den Städten konzentriert sich die politische Bewegung der Schwarzen immer mehr auf die Eroberung von Sitzen und Ämtern in den Kommunen, in den jeweiligen Repräsentantenhäusern und Senaten der einzelnen Bundesstaaten sowie im Washingtoner Kongreß. Inwieweit diese Fokussierung der Energien zur Verbesserung der Lage der Schwarzen insgesamt beiträgt, ist fraglich. Ohne Zweifel profitiert davon eine neue Generation von Politikern und Geschäftsleuten unter den Schwarzen. Sie wollen Teil der herrschenden Strukturen werden und bieten sich dementsprechend als verantwortungsvolle Anführer der schwarzen Gemeinde an.

Bezeichnend ist, was das neue schwarze Bürgertum unternimmt, sobald es die politische Macht in der einen oder anderen Großstadt erobert, nämlich für eine Rückkehr der weißen Einwohner und vor allem des weißen Gelds zu plädieren. Der Abzug der weißen Einwohner und die Schließung vieler weißer Geschäfte hat die betroffenen Städte finanziell hart getroffen, denn die Steuereinnahmen sind stark gesunken, die Kaufkraft ist zurückgegangen und die Arbeitsplätze sind rar geworden. Nicht nur die weißen Läden und Geschäfte ziehen in die Vororte, sondern mit einem gewissen zeitlichen Abstand siedeln auch viele weiße Betriebe an den Stadtrand um. Man kann diese Phänomene - Rückzug der weißen Bevölkerung und Abzug des weißen Kapitals aus den Städten sowie Masseninhaftierung junger schwarzer Männer - als geballte Antwort der Weißen auf die Erfolge der Bürgerrechtsbewegung betrachten. Die Verarmung der Städte feuert den Teufelskreis aus Perspektivlosigkeit, Drogenhandel, Gewaltkriminalität und Massenverhaftung geradezu an. Man könnte das Ganze als eine Art politisch-wirtschaftlichen Krieg seitens des weißen Gemeinwesens gegen die schwarzen Mitbürger betrachten.

Hinter einer Straßensperre belagern zwei Dutzend Polizisten einen Imbißwagen - Foto: © 2014 by Schattenblick

Ermittler vom FBI und NYPD, die zum Schutz der UN-Vollversammlung abgestellt sind, machen Mittag am Imbißstand
Foto: © 2014 by Schattenblick

Jedenfalls haben die schwarzen Politiker, die plötzlich diese Städte regieren sollen, kein richtiges Programm, wie sie dem Wohl der eigenen Wählerschaft am besten dienen können. Und weil ihre Plädoyers nach Rückkehr der weißen Geschäfte und des weißen Kapitals auf taube Ohren stoßen, fällt ihnen zur Verbesserung der leeren Haushalte nichts besseres ein, als städtische Vermögenswerte - Betriebe, Grundstücke et cetera - zu verkaufen. Das kommt natürlich den Immobilienhaien und den Großbanken zupaß. Die möglichen Alternativen - Übergabe von leerstehenden Gebäuden und Grundstücken an Kooperativen, die dort kommunale Wohneinrichtungen, Kleingärten mit Gemüseanbau, Künstlerkolonien u. v. m. hätten betreiben können - werden schlichtweg ignoriert, weil sie nicht in das kapitalistische Denkmuster passen. Dadurch erhalten die zahlreichen zivilgesellschaftlichen Organisationen, die es bei den Schwarzen in den Städten natürlich gibt, keine Unterstützung, sondern werden statt dessen entmutigt. Wenn man, wie es die neue schwarze politische Klasse tut, die schwarzen Mitbürger für nutzlos und minderwertig hält, weil sie zu wenig Geld haben und nicht für ein ausreichendes Steueraufkommen sorgen können, dann ist der Wunsch nach einer Rückkehr des weißen Herren nur logisch. Dadurch verspielt diese nutzlose, kleinbürgerliche und kleingeistige schwarze politische Klasse die großartige Gelegenheit, in einigen der wichtigsten Metropolen der USA eine wirklich alternative, progressive Politik auszuprobieren, restlos.

Ich weiß noch, wie Anthony Williams, der demokratische Bürgermeister von Washington, D. C., im Jahr 2003 das Ziel ausgab, die Bevölkerungszahl der US-Hauptstadt - damals rund 550.000 - innerhalb von zehn Jahren um 100.000 zu erhöhen. Bekanntlich waren lange Zeit die meisten Einwohner Washingtons schwarz. Damals ging die Einwohnerzahl der Stadt zurück. Die armen Schwarzen wurden vor allem durch Gentrifizierung, steigende Mieten et cetera zunehmend aus der Stadt verdrängt. Auch wenn es Williams damals nicht offen aussprach, ging es ihm nicht darum, irgendwelche neuen Einwohner, sondern vor allem weiße nach Washington zu locken. Dem schwarzen Politiker sind die Weißen näher als die eigenen Leute, weil sie über mehr Geld verfügen. Infolge des von Williams initiierten Programms ist die Bevölkerungszahl von Washington auf rund 650.000 gestiegen. Die Schwarzen haben in der Stadt inzwischen ihre frühere Mehrheit verloren. Dennoch haben die schwarzen Politiker immer noch das Sagen. Die Vorgehensweise von Anthony Williams in Washington ist ein Paradebeispiel dafür, wie die schwarze Politikerkaste die eigenen schwarzen Wähler verraten und sich erfolgreich mit der weißen Herrschaftsstruktur arrangiert hat. Die politische Führerschaft der Schwarzen im Kongreß, der sogenannte Black Caucus, aus dessen Reihen Präsident Obama hervorgeht, hat bis heute wesentlichen Anteil an diesem Verrat.

Die Ära der "Chocolate Cities" geht inzwischen zu Ende. Vor dem Hintergrund der Gentrifizierung und der "neuen Urbanität" ziehen die Weißen von den Vororten in die Städte zurück. Nach und nach werden die Städte mit schwarzen Mehrheiten diese verlieren. In Atlanta rechnet man innerhalb der nächsten zehn Jahre damit. Die Städte, die neuen urbanen Zentren, werden immer mehr zur feindlichen Umgebung für arme oder gering verdienende Schwarze. In New York ist es besonders schlimm. Hinter dem Anhalten-und-Abtasten-Programm, mit dem die New Yorker Polizei seit rund zwanzig Jahren hauptsächlich die schwarze Jugend behelligt, steckt der unausgesprochene Wunsch, den Schwarzen das Gefühl zu vermitteln, daß sie unerwünscht sind, und sie zum Umzug zu bewegen. Zusammen mit den drastisch steigenden Mieten und dem Verkauf städtischer Wohnkomplexe an private Investoren sorgt es dafür, daß die Schwarzen aus traditionell schwarzen Vierteln in Brooklyn und Queens zunehmend vertrieben werden. Den Schwarzen das Leben schwer zu machen und den Weißen das Gefühl der Sicherheit in den gemischten Vierteln zu geben, ist das, was das New York Police Department mit seinem stop-and-frisk-program betreibt. Man kann anhand der enormen Zahl der Fälle des Anhalten-und-Abtastens in Bedford Stuyvesant, einem von Schwarzen am stärksten bewohnten Viertel in Brooklyn, erkennen, daß es der Polizei darum geht, die traditionellen Einwohner zu verjagen und die Gegend für weiße Investoren "sicher" zu machen.

Die schwarzen Mütter in solchen Vierteln fragen sich jeden Morgen, wenn ihre Söhne zur Schule gehen, ob diese es am Nachmittag nach Hause schaffen oder doch von der Polizei aufgehalten werden. Denn das Angehalten-und-Abgetastet-Werden kann, je nachdem, wie die Polizeibeamten drauf sind, glimpflich ablaufen oder in eine Verhaftung resultieren. Und ist ein junger Schwarzer einmal in die Mühlen des Strafrechtssystems geraten, kann es wiederum Jahre dauern, bis es ihn wieder freigibt, wenn überhaupt.

Gentrifizierung und die damit einhergehenden Verdrängungsprozesse sind für die Schwarzen in den anderen US-Großstädten derzeit das beherrschende Thema. In Chicago zum Beispiel ist der Anteil der schwarzen Bevölkerung vor kurzem unter dreißig Prozent gesunken. 1983, als Harold Washington dort zum ersten schwarzen Bürgermeister von Windy City gewählt wurde, lag er bei weit über vierzig Prozent. Solche Verhältnisse wird man dort vermutlich niemals wieder sehen. Wie es Bruce Dickson, mein Kollege beim Black Agenda Report, einmal treffend formulierte, gibt es keine Politik der städtischen Erneuerung in den USA außer Gentrifizierung bei gleichzeitiger Verdrängung der schwarzen Unterklasse. Diese Gentrifizierung, die systematisch ist und landesweit stattfindet, wird hauptsächlich von schwarzen Politikern angeführt - zu Lasten der eigenen Wählerschaft und zugunsten irgendwelcher reichen, meist weißen Investoren.

SB: Was sagen Sie zu der These, daß Obama nur deshalb der erste schwarze Präsident der USA werden konnte, weil keiner seiner Vorfahren Sklave gewesen ist, und daß diese Tatsache ihn für einen ausreichenden Teil der nicht-schwarzen Gesellschaft wählbar machte? Schließlich war seine Mutter eine weiße Soziologin aus den USA und sein Vater ein Staatsökonom aus Kenia.

GF: Für die weißen Wähler war Obama der perfekte schwarze Kandidat - wegen des Aspektes, den Sie benannt haben, aber auch wegen vieler anderer. Noch im beginnenden Wahlkampf 2007 bezeichnete Konkurrent Joseph Biden, damals noch Senator aus Delaware, heute Vizepräsident, Obama als den "ersten Afro-Amerikaner", der sich um die Präsidentschaft bewerbe und der "redegewandt, aufgeweckt, sauber und gut aussehend" sei. Damit brachte Biden zum Ausdruck, wie unähnlich Obama seiner Meinung nach den restlichen Schwarzen Amerikas ist. Das zweifelhafte Kompliment an die Adresse Obamas war gleichzeitig eine Beleidigung aller anderen schwarzen Männer in diesem Lande. Obama war und ist der am wenigsten schwarze Schwarze, den man hätte finden können, er stellt für die meisten weißen Wähler keine Bedrohung dar und war daher auch für sie wählbar. Er ist das Musterbeispiel der schwarzen Assimilierung nach der weißen Werteordnung.

Was die schwarzen Wähler betrifft, die fast immer nur Kandidaten der Demokraten ihre Stimme geben, so waren ihre Loyalitäten bis zur Vorwahl von Iowa zwischen der Parteifavoritin und ehemaligen Präsidentengattin Hillary Clinton und dem Newcomer Obama gespalten. Erst als Obama die Vorwahl der Demokraten in Iowa im Januar 2008 gewann und dabei Clinton hinter John Edwards, dem Ex-Senator aus North Carolina, auf den dritten Platz verwies, bekam er laut Umfragen die Unterstützung der meisten Schwarzen. Die Vorwahl in Iowa war deshalb von solcher Bedeutung, weil die Bevölkerung in diesem ländlich geprägten Bundesstaat mit großer Mehrheit weiß ist. Obama war der erste schwarze Präsidentschaftskandidat, der die dortige Vorwahl der Demokraten gewonnen hatte. Durch diesen Sieg ist Obama in den Augen der schwarzen Wähler erheblich aufgewertet worden, weil er seine Wählbarkeit bei den weißen Mitbürgern bewiesen hat. Ab diesem Moment begannen die Schwarzen daran zu glauben, daß er tätsächlich als erster Schwarzer den Sprung ins Weiße Haus schaffen könnte. Die große Zurückhaltung, die anfangs bei den schwarzen Wählern bezüglich der Kandidatur Obamas herrschte, rührte aus der Einschätzung her, daß er als Schwarzer niemals gewinnen würde. Zwei Tage nach der Vorwahl von Iowa war Hillary Clinton bei den schwarzen Wählern unten durch. Der große Meinungsumschwung zugunsten Obamas war eingetreten.

SB: Obama hat die Hälfte seiner zweiten Amtszeit und damit bereits sechs von insgesamt acht Jahren als Regierungschef absolviert. Was meinen Sie, wie zu diesem Zeitpunkt die Meinung der Schwarzen in den USA über den ersten schwarzen Präsidenten ausfällt? Sind sie von ihm enttäuscht oder zufrieden? Halten sie seine bisherigen Leistungen als Präsident für zufriedenstellend oder ungenügend?

Glen Ford in der Nahaufnahme unterstreicht seine Argumente - Foto: © 2014 by Schattenblick

Foto: © 2014 by Schattenblick

GF: Schwer zu sagen. Meine Freunde und Kollegen und ich fragen uns dies dauernd. In meinem Bekanntenkreis jedenfalls herrscht der Konsens, daß die meisten schwarzen Wähler von Obama ziemlich enttäuscht sind, weil er als Präsident die großen Erwartungen, die er als Kandidat im Wahlkampf weckte, nicht erfüllt hat. Unter den schwarzen Wählern ist nach sechs Jahren Ernüchterung bezüglich des einstigen Hoffnungsträgers eingetreten. In den ersten Jahren nach der Wahl Obamas konnte man ihn in schwarzen Kreisen nicht offen kritisieren. Wenn ich das auf der einen oder anderen Veranstaltung vielleicht getan habe, dann nur, weil ich gute Freunde bei mir hatte. Hätte ich mir so etwas in der Öffentlichkeit erlaubt und wäre allein gewesen, hätte ich aufs Maul bekommen. Heute ist das nicht mehr so. Als Schwarzer unter Schwarzen kann man Obama kritisieren wie man will, da fühlt sich keiner mehr aufgerufen, ihn zu verteidigen.

Ich würde das vorherrschende Gefühl bei den schwarzen Wählern nicht als eine Enttäuschung, sondern als eine Resignation bezeichnen. Man hat sich damit abgefunden, daß er keine großen Veränderung vollbringen wird. Dennoch verfolgen die Schwarzen seine Präsidentschaft mit Interesse und einem gewissen Wohlwollen in der Erwartung, daß das geschichtliche Resümee seiner Leistungen im höchsten Amt im Staat auch auf sie abfärben wird. Sollte er nach acht Jahren als Versager gelten, so werden die Schwarzen dies als Makel empfinden, der auch sie trifft. Das ist für mich ein Hinweis, daß die Schwarzen in den USA eine eigene Nation bilden. Kein Weißer identifiziert sich mit George W. Bush oder Jimmy Carter und empfindet, daß deren Scheitern als Präsident ein schlechtes Licht auf ihn wirft. Bei den Schwarzen ist das anders. An Obamas Leistungen fühlen sie sich selbst gemessen. Von daher müßte er viel Schlimmeres tun, als nur Drohnenangriffe in Pakistan anzuordnen oder die Totalüberwachung der NSA im Telefon- und Internetverkehr gutzuheißen - vielleicht müßte er die Tötung aller Erstgeboren befehlen (lacht) -, bevor sie mit ihm brächen. Also wird es niemals zu diesem Bruch kommen. Doch die Resignation wird bleiben. Sie fühlen sich nicht mehr aufgerufen, ihn öffentlich zu verteidigen, doch gleichzeitig sind sie nicht besonders glücklich darüber, wie sich seine Präsidentschaft entwickelt hat und wie wenig "Wandel" er tatsächlich hat vollbringen können.

Gleich in seinen ersten Tagen im Weißen Haus hat Obama klargestellt, daß es keine Sonderprogramme zur Behebung der Armut in den schwarzen Gemeinden geben würde, daß es ausreiche, wenn er die Wirtschaft als Ganzes wieder auf Fahrt bringe, weil das dem Wohlergehen aller zugute komme. Der leichte Rückgang der Arbeitslosigkeit, den es unter Obama zu verzeichnen gibt, ist lediglich auf den Anstieg der Anzahl der Menschen, die sich in Billiglohnverhältnissen befinden, zurückzuführen. In diesem Sektor sind die Schwarzen überproportional vertreten. Also kann man von keinem wirklichen Aufschwung oder einer Verbesserung der Lage der arbeitenden Bevölkerung reden. Nichtsdestotrotz sind die Schwarzen 2012 in großer Zahl an die Urnen gegangen, um dafür zu sorgen, daß Obama eine zweite Amtszeit bekam. Denn unabhängig davon, ob sie ihn mochten oder nicht, war es für sie enorm wichtig, daß der bisher einzige schwarze Präsident der USA nicht nach nur einer Amtszeit abgewählt wurde und damit sozusagen als minderwertig in die Geschichtsbücher einging.

Aus demselben Grund liegen seine Zustimmungswerte bei den schwarzen Wählern laut Umfragen immer bei ungefähr 90 Prozent. Ich bezweifele, daß diese Zahl die wirklich vorherrschende Meinung bei den Schwarzen wiedergibt. Denn eines muß man verstehen: In den USA trauen die Schwarzen dem weißen Mann nicht über den Weg. Schließlich haben sie zu viele schlechte Erfahrungen mit ihm gemacht. Von daher wird kein großes demoskopisches Institut, von dem man annehmen kann, daß der Besitz oder die Geschäftsleitung in weißer Hand liegt, jemals wirklich erfahren, was die Schwarzen über Obama denken. Vor Weißen wird sich jeder Schwarze hüten, Obama oder einen anderen schwarzen Politiker zu kritisieren. Das macht man nur unter seinesgleichen. Der weiße Mann ist der Feind, der jede Gelegenheit ergreift, den Schwarzen übers Ohr zu hauen. Als schwarzer Amerikaner muß man permanent auf der Hut sein. So sieht die schwarze Realität in den USA aus. Folglich lautet die politische Dauerfrage innerhalb der schwarzen Gemeinde, wie man mit dieser Realität umgeht. Versucht man sich mit dem Feind zu arrangieren oder nimmt man besser eine konfrontative Haltung ein? Die Identifikation der Schwarzen mit Obama ist daher etwas sehr Grundlegendes. Wie sie ist er ein Schwarzer im weißen Feindesland. Und ob er einen Krieg anzettelt oder beendet, Guantánamo Bay schließt oder weiter betreibt, spielt für die meisten Schwarzen keine Rolle. Sie unterstützen ihn, weil er einer der ihren ist.

Bei der schwarzen politischen Klasse ist nach sechs Jahren Obama eine bemerkenswerte Entwicklung zu verzeichnen. In der Öffentlichkeit nimmt niemand von ihr Obama in Schutz oder springt ihm rhetorisch zur Seite, wie sie es in den ersten Jahren seiner Amtszeit getan hat. Sie ignoriert ihn weitgehend, nimmt zu seiner Politik so gut wie möglich keine Stellung, drischt dafür um so heftiger auf die Republikaner ein. Letzteres fällt ihr wegen des Rechtsrucks bei den Republikanern leicht. Sie kann sich selbst gemäßigt geben und die Republikaner als reaktionäre Verfechter weißen Vorteilsdenkens geißeln. Gleichzeitig fängt sie jetzt schon an, einen ersten Geschichtsrevisionismus zu betreiben, indem sie so tut, als hätte sie von Anfang an konstruktive Kritik an der Politik Obamas geübt. Mit dem Ende der Amtszeit Obamas im Blick gehen diejenigen, die früher Leute wie mich wegen Kritik am amtierenden Präsidenten verprügelt hätten, allmählich auf Distanz zu ihm. Sie bereiten sich jetzt schon auf die Ära nach Obama vor und machen sich Gedanken, wie sie sich in Bezug auf sein politisches Erbe positionieren sollen.

Tatsächlich machen sie sich Sorgen um die eigene politische Zukunft. Man darf nicht vergessen, daß die großen, von Weißen dominierten Medien die Wahl Obamas zum "Ende der schwarzen Politik", die wegen des vermeintlichen Übergangs in eine "post-rassistische Gesellschaft" überflüssig geworden sei, hochstilisiert haben. Folglich macht sich die schwarze Politelite Gedanken, wie sich das Ende der Präsidentschaft Obamas auf ihre eigene Fortune auswirken wird. Denn für sie gibt es keine andere Bemessungsgrundlage des Fortschritts als die Anzahl der "black faces in high places", der schwarzen Politiker in Amt und Würde. Ich nenne sie spöttisch die "Representationists", denn wie die Königin von England haben sie keine politische, sondern lediglich eine Vorzeigefunktion nach dem Motto: "Schaut her, die Schwarzen in den USA dürfen auch in der Politik mitmischen."

Von daher sind ihre Ängste vor einem bevorstehenden Ende der schwarzen Politik nicht unbegründet. Denn mit dem Aufstieg Obamas zum Präsidenten hat diese Politik, so viele und so bedeutende Staatsämter mit Schwarzen zu besetzen, ihren Höhepunkt erreicht. Mehr kann man auf dieser Schiene nicht erreichen. Außerdem müssen sich die schwarzen Sozialdemokraten unter den Demokraten zunehmend die Frage, die Linksradikale wie ich an sie stellen, gefallen lassen, was sie nach der Eroberung der vermeintlich letzten Bastion weißer Macht eigentlich vorzuweisen haben.

SB: Vor wenigen Jahren haben Amerikas linke schwarze Organisationen, darunter auch federführend der Black Agenda Report, die Bewegung "Black is Back" ins Leben gerufen. Wie kommt sie voran?

GF: Langsam, würde ich sagen. Die Mobilisierung der Basis läuft nur schleppend. Alle Teilnehmergruppen sind hauptsächlich mit ihren eigenen Angelegenheiten befaßt. Dessen ungeachtet werden wir im November unseren zweiten Marsch auf Washington veranstalten und erwarten eine höhere Teilnehmerzahl als letztes Jahr. Ich denke, daß die allgemeine Unzufriedenheit der Schwarzen mit Obama uns zugute kommt. Die Menschen begreifen, daß eine kritischere Position erforderlich ist, und finden sie bei uns. Von allen, die sich auf die Zeit nach Obama vorbereiten, sind wir, die Gründer der Initiative "Black is Back", die sich bewußt auf die Black Power Movement berufen, ideologisch am besten aufgestellt. Diejenigen, die uns am Anfang wegen der Kritik an Obama öffentlich angegriffen haben, gelten heute als diskreditiert oder revidieren die eigene Position. Darum werden sich einige von ihnen beim Marsch der Black-is-Back-Koalition in Washington auch sehen lassen. Als wir die ersten Schwarzen waren, die eine grundlegende Kritik an der Politik der Obama-Regierung formulierten, haben solche Leute uns als nützliche Idioten der Republikaner gegeißelt. Heute ist eine kritische Position gegenüber Obama unter den meisten Schwarzen Konsens. Unser Standpunkt hat sich durchgesetzt. Wir gelten als glaubwürdig. Unsere ideologischen Gegner dagegen nicht.

SB: Bedeutet das, daß es zu einer Radikalisierung der Schwarzen kommen könnte oder daß die schwarze Wählerschaft sich noch mehr in Richtung links bewegt?

GF: Amerikas Schwarze standen mehrheitlich immer links von der Mitte. Da hat sich nicht allzu viel verändert. Das Problem ist die unheimliche Kontrolle, die das Kapital über die großen Medien auf den politischen Diskurs ausübt und wie es die politische Agenda bestimmt. Selbst die Sprache wird von Verfechtern des Status quo und der neoliberalen Wirtschaftsordnung beherrscht und vorgegeben. Da fällt es den Schwarzen genauso schwer wie der übrigen Bevölkerung, sich dieser ideologischen und sprachlichen Gedankenkontrolle zu entziehen. Das klingt etwas drastisch, ist von mir aber todernst gemeint. Die kulturelle Hegemonie des Kapitals ist dermaßen umfassend, daß selbst die Sprache des Widerstands davon nicht unberührt bleibt. Es ist nicht so, daß den Menschen das gesellschaftskritische Vokabular abhanden gekommen wäre, sondern es fehlt der Kontext, in dem man bestimmte Wörter sinnvoll anwenden könnte. Von daher ist es schwierig, von einer Radikalisierung der Schwarzen oder selbst der Weißen zu sprechen, denn das kulturelle Umfeld schränkt die Möglichkeit einer solchen Entwicklung stark ein bzw. schließt sie von vornherein fast aus. Wir kennen alle den Begriff der Hegemonie, aber worin besteht sie? In der Kontrolle der Massenmedien durch das Kapital? Für mich findet sie ihren stärksten Ausdruck in der Dauerschwierigkeit der einfachen Menschen, die richtigen Begriffe und Formulierungen für ihre unterdrückte gesellschaftliche Situation zu finden. Insbesondere den Schwarzen wird durch die aggressiven Umgangsmethoden der Polizei ihre Unterdrückung vor Augen geführt.

Schwarzer Demonstrant trägt mannshohes Plakat mit der Botschaft 'Blacks, it's time to flee - You are not in the ballgame' - Foto: © 2014 by Schattenblick

Auf dem People's Climate March am 21. September in New York wurden Amerikas Schwarze vor den gerade sie betreffenden Folgen des Klimakollaps'gewarnt
Foto: © 2014 by Schattenblick

SB: Ist jede Hoffnung auf ein weniger martialisches Auftreten der Polizei in den USA vergeblich, solange die Regierung in Washington im Ausland mit militärischen Mitteln eine imperialistische Politik verfolgt?

GF: Zweifellos. Was die Weitergabe von Waffen, Munition, Flugzeugen, Panzerwagen et cetera aus den Beständen des US-Streitkräfte an die verschiedenen Polizeibehörden im Innern betrifft, so gehe ich davon aus, daß diese Praxis in Übereinstimmung mit den Interessen der herrschenden Plutokratie stattfindet und von ihr sogar mandatiert wird. Hauptzweck der Waffenweitergabe ist meiner Meinung nach nicht die Aufrüstung der Polizei, damit diese gegebenenfalls Aufstände niederschlagen kann - obwohl das bestimmt sehr wichtig ist -, sondern die Schaffung einer militarisierten, ideologisch auf Krieg ausgerichteten Gesellschaft insgesamt. Die laschen Waffengesetze, die bombastischen Blockbuster-Filme Hollywoods, die ganzen Ballerspiele für Computer und Playstation sowie der Auftritt bestimmter Truppenteile und die Zurschaustellung modernster Waffensysteme bei den großen Baseball- und American-Football-Spielen dienen ebenfalls diesem Zweck. Man will eine Bevölkerung, die sich mit den Soldaten, die in Übersee den Dienst am Imperium leisten, identifiziert. Ebenfalls sollen sich die einfachen Menschen mit den Polizisten, von denen nicht wenige Ex-Soldaten sind, identifizieren. Für Millionen von weißen Kindern und Jugendlichen sind Soldaten und Polizisten absolute Respektpersonen und Vorbilder - und das ungeachtet oder vielleicht gerade wegen des ganzen Kriegsgeräts, das sie benutzen und bei sich tragen. Die Rüstung schüchtert die Schwarzen ein und erschreckt die weißen Liberalen, doch die große Masse der Bevölkerung nimmt daran keinen Anstoß, sondern findet sie normal und vermutlich zweckmäßig. Die Mehrheit der weißen Bevölkerung hat sich mit der Militarisierung der Kultur und des Gesellschaftsalltags in Amerika längst abgefunden und befindet sich damit im Einklang mit den Zielen der herrschenden Klasse.

Der hiesige Hyperpatriotismus ist zweifelsohne eine amerikanische Variante des europäischen Faschismus. Die Masse der weißen Bevölkerung findet die Aufrüstung der Polizei gut, weil sie davon ausgeht, daß sie vornehmlich gegen die Schwarzen ihre Anwendung findet. Damit haben die meisten Weißen nicht das geringste Problem. Die Schwarzen dürfen nicht der Fehlannahme unterliegen, die Militarisierung der Polizei hänge hauptsächlich mit der Unterdrückung der Schwarzen zusammen. Klar dient sie diesem Zweck. Schließlich geht das größte Störpotential für das herrschende System von den Schwarzen aus. Aber die weiße Herrscherschicht verschwendet nur einen Bruchteil ihrer Zeit mit der Frage, wie man die Schwarzen ruhig halten kann. Im Mittelpunkt ihrer Überlegungen steht primär eine andere Frage, nämlich wie man die Mehrheit der Weißen bei der Stange hält, damit diese weiterhin das System trägt. Über diesen Aspekt redet man normalerweise nicht. Ich hätte es auch nicht erwähnt, hätte es sich nicht aus Ihrer Fragestellung ergeben.

SB: Glauben Sie, daß die Beseitigung des Kapitalismus erforderlich ist, um das Übel des Rassismus zu überwinden?

GF: Erst wenn das kapitalistische System beseitigt worden ist, werden wir die Möglichkeit haben, den Rassismus zu überwinden. Doch wie sich diese Überwindung im Konkreten gestaltet, werden wir erst dann sehen. Ich bin zwar Marxist, aber ich bilde mir nicht ein, ich wüßte jetzt schon, wie der neue Mensch in diese Welt hineingeboren wird. Ich schätze, ich würde den Kerl nicht einmal erkennen, würde ich ihm begegnen. Aber es wird ihn jedenfalls niemals geben, solange der nuklearbewaffnete US-Imperialismus als Speerspitze des Kapitalismus auf dem Vormarsch ist und weiterhin das Überleben der ganzen Menschheit bedroht. Erst wenn wir ihn beseitigt haben, können wir anfangen, uns über den Aufbau des Sozialismus auszutauschen und Gedanken zu machen. Die meisten meiner weißen Freunde sind Trotzkisten, die an die Weltrevolution glauben und vom Sozialismus in einem Land nichts halten. Ich wäre aber nicht so schnell, solche Experimente abzutun. Natürlich ist das, was es früher in der Sowjetunion gab oder heute in Nordkorea oder Kuba gibt, eher eine Art Kriegssozialismus. Doch immerhin waren oder sind das kleine Inseln im kapitalistischen Meer, wo die Menschen etwas anderes versuchten bzw. immer noch versuchen. Von daher denke ich, daß solche Experimente in einem Land oder Gebiet, wie richtig oder falsch auch immer, besser sind als gar keine.

Einige meiner Freunde sind von der Idee der Arbeiterkooperativen sehr angetan. Sie sehen darin die Keimzellen einer neuen Art des Wirtschaftens, aus denen eine sozialistische Alternative wachsen könnte. Tatsächlich sind das allesamt Leute, die glauben, der Sozialismus könnte ohne eine gewaltsame Auseinandersetzung mit denjenigen, die vom kapitalistischen System am meisten profitieren und deswegen eisern daran festhalten, verwirklicht werden. Ich halte solchen Optimismus für naiv und teile ihn deshalb nicht. Denn solche Genossenschaften, selbst wenn es dort gerecht zugeht, wo Menschen gut bezahlt werden und angenehme Arbeitsbedingungen erleben, existieren innerhalb der bestehenden kapitalistischen Wirtschaftsordnung und tragen eher zu deren Erhalt als zu deren Überwindung bei.

Ein Freund von mir ist Volkswirt. Er plädiert dafür, daß die Großbanken wie Goldman Sachs, Morgan Chase und HSBC der Belegschaft übergeben und in Genossenschaften verwandelt werden sollten, statt sie zu zerschlagen. Ich halte die Idee für abwegig. Die Mitarbeiter dieser Banken haben nichts anderes gelernt, als das, was sie jetzt schon machen, und werden stets nur die Gewinnmaximierung verfolgen, solange ihre Finanzhäuser als die Keilriemen des kapitalistischen Systems funktionieren. Wie soll ihnen, bitte schön, etwas anderes in den Sinn kommen? Warum sollten die Schwarzen ein solches Modell, das darauf hinausliefe, daß sie hauptsächlich bei den minderbemittelten Genossenschaften, die Weißen dagegen für die finanzkräftigen wie den dann ehemaligen Goldman Sachs arbeiten, akzeptieren? Was viele nicht wissen, ist, daß selbst die großen Kooperativen im Baskenland, die in linken Kreisen rund um die Welt als Musterbeispiele der Genossenschaftsbewegung gelten, ihrerseits von Billigarbeit bei ihren Subunternehmen in Bangladesch profitieren. Einfach alle Betriebe in Kooperativen zu verwandeln, ohne die ungerechte Mittel- und Machtverteilung in der Gesellschaft anzutasten, ist als Ansatz zu kurz gegriffen.

Wir können in den USA also die Debatte um die Schaffung des Sozialismus nicht angemessen führen, ohne auch das Thema des Rassismus zu berücksichtigen. Die Überwindung des Kapitalismus wird nicht ohne Blutvergießen, ohne einen Aufstand der Werktätigen und Mittellosen, stattfinden. In den USA wird dieser Konflikt rassistische Züge tragen, denn die Schwarzen werden wie immer die ersten sein, die sich gegen das System zur Wehr setzen. Wie der Aufstand oder die Revolution, wenn man so will, vonstatten geht, wird sich auf die spätere neue Ordnung auswirken. Soviel ist sicher. Die Auswirkungen werden nicht folgenlos bleiben. In den sechziger Jahren ging der Kampf um Gleichberechtigung zunächst von den Schwarzen aus. Mit der Zeit schloß sich die liberale weiße Jugend diesem Kampf an. In der Zukunft wird es ähnlich ablaufen. Weil die Schwarzen am schwersten darunter leiden, werden sie wieder die ersten sein, die sich gegen die herrschenden Bedingungen auflehnen.

SB: Welche der anderen Bevölkerungsgruppen in den USA haben den Schwarzen damals am meisten beigestanden, und ist von ihnen künftig die stärkste Unterstützung zu erwarten?

GF: Was Wählerverhalten und/oder die Positionierung auf der politischen Links-Rechts-Skala betrifft, so stehen in den USA die Juden den Schwarzen am nächsten. Die meisten von ihnen wählen linksliberale Kandidaten der Demokraten. Mit den Republikanern, vor allem mit den weißen Chauvinisten unter ihnen, die ständig Stimmung gegen Einwanderer aus Lateinamerika und Asien machen, haben sie nichts am Hut. In vielen politischen Fragen stehen die liberalen Juden den Schwarzen sogar näher als der weißen Mehrheitsgesellschaft. Sie mögen nur einen kleinen Teil der Gesamtbevölkerung ausmachen, sind aber aufgrund ihrer Bildung, Vernetzung und starken Präsenz im Hochschulbereich sowie bei den Medien nicht ohne Einfluß. In den Großstädten, insbesondere in New York und Chicago, sind bei politischen Kampagnen die Puertorikaner stets verläßliche Verbündete der Schwarzen gewesen. So ist es in den sechziger Jahren parallel zur Gründung des Black Panther Movement zunächst in Oakland, Kalifornien, in Chicago und in Spanish Harlem in New York zur Entstehung der Gruppe Young Lords gekommen, die für eine Unabhängigkeit Puerto Ricos eintrat und sich um eine Verbesserung der Lage der Einwanderer von dort in den USA bemühte. Zusammen mit anderen kleinen radikalen Gruppierungen haben die Black Panthers und die Young Lords die sogenannte Rainbow Coalition gegründet.

Man könnte fragen, was ist mit den Latinos? Nun, der Begriff Latino ist zu weit gefaßt, hat hauptsächlich mit Sprache zu tun und ist von daher nicht besonders nützlich. Die sogenannten Latinos in den USA bilden eine weitaus weniger homogene Gruppe als die Schwarzen oder die Weißen. Sie verstehen sich in erster Linie als Mexikaner, Kolumbianer et cetera. Einige von ihnen sind schon länger in den USA - die Mexikaner vor allem, weil sie im 19. Jahrhundert die Hälfte ihres Landes an den großen Nachbarn im Norden verloren haben. Bei den anderen wächst die Bevölkerung gerade in den letzten Jahren drastisch an. Dies trifft insbesondere auf die Menschen aus den Ländern Mittelamerikas wie El Salvador, Honduras und Guatamala zu, die besonders schwer unter Arbeitslosigkeit und Drogenkriminalität leiden. Hinzu kommt, daß die lateinamerikanischen Einwanderer aus verschiedenen Gesellschaftschichten kommen. Der peruanische Hochschulstudent aus Lima zum Beispiel, der vermutlich europäische Vorfahren hat, hat mit den armen Hochland-Indianern wenig gemein. Vor diesem Hintergrund gibt es lateinamerikanische Einwanderergruppen, mit denen die Schwarzen in politischen und sozialen Fragen gut zusammenarbeiten, und mit anderen wiederum gar nicht. Ein Beispiel für ersteres wären die Gewerkschaften der kalifornischen Landarbeiter und für letzteres die anti-kommunistischen Kubaner in Florida. In zwanzig Jahren könnten die spanisch-sprechenden Einwanderer in den USA und ihre Nachfahren eine gemeinsame, übergreifende Identität geschaffen haben. So weit sind sie aber heute noch nicht.

Wenn es um den Kampf gegen Gentrifizierung und Verdrängung aus bestimmten Vierteln geht, so müssen die Schwarzen und die ärmeren Latino-Gruppen zusammenarbeiten. Gerade hier im Großraum New York, wo beide Seite an Seite leben, ist das dringend erforderlich. In Los Angeles wird eine solche Zusammenarbeit durch nationalistische Gruppen unter den Mexikanern und Mittelamerikanern, die in kriminelle Geschäfte verwickelt sind, verhindert - mit negativen Folgen für die einfachen Menschen in ihren Gemeinden. Die ganzen Gangs richten mit ihrer brutalen Waffengewalt in den armen Vierteln der USA schwere Schäden an. Traditionell waren in den USA mafia-ähnliche Strukturen bei den verschiedenen Einwanderergruppen - sei es bei den irischen Katholiken, Italienern oder osteuropäischen Juden - der Solidarisierung und Massenmobilisierung der arbeitenden Bevölkerung sehr abträglich. Heute setzt sich das Phänomen unter den Mexikanern, El Salvadorianern und Schwarzen et cetera fort. Deswegen kritisieren wir beim Black Agenda Report das Bandenwesen stets heftig und plädieren für eine stärkere Zusammenarbeit unter den diversen Basisgruppen. Inwieweit unsere Appelle auf der Straße vernommen werden, ist jedoch fraglich.

SB: Vielen Dank, Glen Ford, für das ausführliche Gespräch.

Eine überdimensionierte US-Flagge zwischen zwei Säulen in der Haupthalle der Grand Central Station in New York - Foto: © 2014 by Schattenblick

Kein Entkommen vom Alltagspatriotismus in den USA
Foto: © 2014 by Schattenblick

4. Dezember 2014