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INTERVIEW/262: Kurdischer Aufbruch - Ketten der Schuld ...    David Graeber im Gespräch (SB)


Ökonomie und Moral im Wechselspiel der Bezichtigung

Die kapitalistische Moderne herausfordern II - Konferenz an der Universität Hamburg, 3. bis 5. April 2015


Der Ethnologe und politische Aktivist Prof. David Graeber ist in der Bundesrepublik vor allem durch sein Buch "Schulden: Die ersten 5000 Jahre" als Kritiker des neoliberalen Kapitalismus bekanntgeworden. In der englischsprachigen Welt fand zudem sein Engagement für das vom Islamischen Staat bedrohte Rojava viel Beachtung. Auf der Konferenz "Die kapitalistische Moderne herausfordern II" warf der an der London School of Economics and Political Science lehrende Wissenschaftler einen Blick auf die Geschichte menschlicher Arbeit, deren sozialer Zweck im modernen Kapitalismus auf den Kopf gestellt wurde, indem er die Produktion materieller Güter zum Zweck menschlichen Lebens erklärte. Am letzten Tag der Konferenz beantwortete David Graeber dem Schattenblick einige Fragen zum Begriff der Schuld und zur Rolle von Märkten in einer künftigen Gesellschaft.


Im Gespräch - Foto: © 2015 by Schattenblick

David Graeber
Foto: © 2015 by Schattenblick

Schattenblick (SB): Der Begriff der Schuld hat ökonomischen wie moralischen Gehalt. Herr Graeber, wie verhalten sich diese beiden inhaltlichen Zuschreibungen des Begriffs der Schuld zueinander?

David Graeber (DG): Ich habe mich für diese Frage sehr interessiert. Sie war einer der Gründe, warum ich das Buch über Schulden geschrieben habe. Ich wollte verstehen, wie wir zu der moralisch konnotierten Sprache kommen, die wir verwenden. Eine Sprache der Schuld kann außergewöhnliche Dinge rechtfertigen, die sich auf andere Weise niemals legitimieren ließen. Deshalb beginnt das Buch mit einer Geschichte über einen liberalen Anwalt, der schreckliche Dinge rechtfertigt, die aufgrund der Politik der Strukturanpassungen geschahen. Menschen starben durch vermeidbare Erkrankungen. Ja, sie mußten ihre Schulden bezahlen, sie hatten Geld geliehen. Es ist diese selbstevidente Art, mit der ein Mensch argumentiert, der unter keinen anderen Umständen eine Politik rechtfertigte, in deren Folge Babys sterben.

Was hat es also mit der moralischen Kraft dieser Idee auf sich? Ich glaube nicht, daß es möglich ist, ein Wirtschaftssystem zu führen, das nicht zugleich auch ein moralisches System ist. Die Frage ist nicht, ob es ein moralisches System ist, sondern welche Art von Moral dabei zur Anwendung gelangt und ob man sich das ehrlich eingesteht. So bin ich zu der Schlußfolgerung gelangt, daß die Moral der Schuld mit der Leugnung dessen in Erscheinung tritt, sich überhaupt in einem moralischen Diskurs zu befinden. Man könnte sagen, daß man nur ökonomisch agiert, aber tatsächlich evoziert man eine Art von Moral, die sich auf keine andere Weise rechtfertigen läßt. Dafür gibt zahlreiche historische Beispiele.

Ich bin zu der finalen Schlußfolgerung gelangt, daß die Macht der Schuld aus der Tatsache erwächst, daß ihre Sprache das wirkungsvollste Mittel ist, das jemals entdeckt wurde, um Beziehungen herzustellen, die wesentlich auf Gewalt beruhen, auf absoluter und totaler Ungleichheit. Auf diese Weise gelingt es, Beziehungen, die von willkürlicher Erpressung, Eroberung oder gewaltsam durchgesetzter Ungleichheit geprägt sind, so darzustellen, daß es nicht nur eine moralisch integre Vorgehensweise ist, sondern daß das Opfer eigentlich die Schuld dafür trägt.

So ist es in der Geschichte immer wieder geschehen. Wenn etwas erobert wird, wenn jemand umhergestoßen wird, stellt man es als Schuld des Betroffenen dar, der Täter erscheint als gütig und wohlwollend. Nach einer Eroberung sagst du, du schuldest mir dein Leben, weil ich dich töten könnte. Ich erwarte, dafür bezahlt zu werden, aber ich bin freundlich und gestehe dir zwei Jahre Zeit ohne Zahlung zu. Du bist gut, obwohl du umherläufst und Menschen umbringst.

SB: Im neoliberalen Kapitalismus wird behauptet, die Menschen seien für ihr eigenes Schicksal vollständig verantwortlich. Wie beurteilen Sie diese Bezichtigung des Individuums vor dem Hintergrund, daß es historisch auch andere Zeiten gab, in denen eher kollektiv gedacht und die Ursachen von Problemen solidarisch bewältigt wurden?

DG: Ich nenne es individualistischen Faschismus. Ich denke, diese Entwicklung wurzelt in den 1970er Jahren. Als die Finanzialisierung des Kapitalismus zu dieser Zeit begann, gab es eine Faszination für Selbstverwirklichungskulte, deren Botschaft im Kern darin bestand, daß du für das verantwortlich bist, was im Universum geschieht. Die Botschaft, daß du alles erreichen kannst, wenn du nur an dich selbst glaubst, daß du Herr deines Willens bist, durchdrang die Gesellschaft schrittweise. Es ähnelte stark dem faschistischen Diskurs, außer daß es um Individuen und keine faschistischen Nationen ging.

Ich denke, dieser Ethos ging Hand in Hand mit der Bürokratisierung der Gesellschaft, so daß aus der Finanzialisierung eine sehr individualistische, bürokratische Gesellschaft hervorging, wie sie auch für den Faschismus signifikant ist. Alles wurde computerisiert, die Verbreitung der Informationstechnologien wurde durch Investmentstrategien beflügelt, die aus dieser speziellen Form der korporatistischen Ausrichtung resultierten. In den 1970er Jahren richteten sich die oberen Etagen der Unternehmensbürokratien nach der damals noch bürokratisierten Finanzwirtschaft aus. Diese Klassen verschmolzen miteinander und bildeten dadurch, daß sie diesen kryptofaschistischen Individualismus adaptierten, die Basis dessen, was wir heute als neoliberale Ideologie bezeichnen.

SB: Heute stagniert das industrielle Wachstum, dafür wird in der Finanzindustrie in erheblichem Ausmaß Kapital akkumuliert, indem Grundrente, Lizenzen, Eigentums- und Rechtstitel mehr oder minder arbeitsfrei bewirtschaftet werden. Was bedeutet das für Menschen, die nichts anderes als ihre Arbeitskraft zu verkaufen haben?

DG: Es ist eine sehr interessante Frage, wie viel des durchschnittlichen Familieneinkommens in den meisten industrialisierten Ländern direkt an den FIRE-Sektor (Finance, Insurance, Real Estate) geht. Diese Zahl findet man nicht heraus. Es gibt ansonsten Statistiken über fast alles, doch die Federal Reserve kennt diese Zahl nicht. Ich habe verschiedene Wirtschaftswissenschaftler gefragt, die Schätzwerte zwischen 20 und 40 Prozent angeben. Es ist auf jeden Fall viel, wenn man nur an Studierendenkredite, Hypotheken oder verschiedene Formen der Versicherung denkt.

Wenn man die Profite betrachtet, die in der Wall Street, der Londoner City und an den Börsen gemacht werden, und die Wirtschaftsdaten ganzer Länder anschaut, dann zeigt sich, daß das Gros der Profite zunehmend im Finanzsektor gemacht wird. Im Spätkapitalismus der reichen Staaten kann man kaum mehr von der industrialisierten Welt sprechen, man müßte eigentlich deindustrialisierte Welt sagen. Man denkt dabei gerne an Spekulationen oder Casinokapitalismus, der völlig von der Realwirtschaft getrennt sei. Aber das führt in die Irre. Das ist etwas, was wir herauszufinden versuchten, als wir bei Occupy über das "eine Prozent" sprachen. Dahinter steckt nicht die Idee einer sozialen Klasse, sondern von Klassenmacht. Ein Prozent der Bevölkerung nimmt alle Vorzüge des Wirtschaftswachstums in Anspruch, aber es sind auch die Leute, die die ganze Wahlkampfunterstützung finanzieren. Ein kleiner Teil der Bevölkerung kann politische Macht in Reichtum und diesen Reichtum in politische Macht verwandeln.

Und genau das geschieht. Das Finanzkapital besteht aus den Schulden anderer Menschen. Man hat eine sehr kleine Gruppe von Investoren, die es in Zusammenarbeit mit der Regierung schafft, die große Mehrheit der Bevölkerung mit Schulden zu überziehen. Diese Schulden werden dann mit juristischen und politischen Mitteln eingefordert und extrahiert. Als ich noch zur Schule ging, nannte man das Feudalismus, und es ist wirklich die Frage, inwieweit es sich überhaupt noch um Kapitalismus handelt, wenn die meisten Profite nicht mehr aus Lohnarbeit und der Produktion und Distribution von Gütern stammen.

SB: In der sogenannten Staatsschuldenkrise wurden die Bevölkerungen über Generationen hinaus mit ihren Steuerzahlungen für die Rettung der Banken in die Pflicht genommen. Dieser Entwicklung liegen politische Entscheidungen zugrunde. Hat man es im Grunde genommen beim Kredit heute eher mit einem Ausdruck des politischen Willens und weniger einem kapitalistischen Marktgeschehen zu tun?

DG: Genau. Wenn man Studienkredite betrachtet, über die in den USA intensiv debattiert wird, kann man sich fragen, ob die daraus resultierende Massenverschuldung geplant war oder nicht. Im Vereinigten Königreich wurde sie jedenfalls systematisch hergestellt. Man verdreifachte die Studiengebühren und gab dafür Studienkredite aus. Diese Regierungspolitik diente der Schaffung massenhafter Verschuldung. Und ein Teil der Erklärung dafür liegt in der Mentalität, die diese Verschuldung erzeugt.

Ich habe das 2010 in England selbst miterlebt. Am Anfang stand der Browne Report zur Bildung [1]. Er unterstellte im Kern, daß niemand zu einem anderen Zweck nach Bildung strebt als in Form eines Investments, das ein langfristiges Lebenseinkommen sichern soll, was absolut nicht stimmt, weil es nicht die hauptsächliche Motivation der Studierenden ist. Aber dann kamen die Studienreformen und trieben die Menschen tatsächlich in die Verschuldung. Es war ein ganz und gar absichtlicher Versuch, die Menschen in diese neoliberalen Unternehmen zu drängen, weil ihnen sonst keine Wahl bleibt. Aber zur gleichen Zeit war es eine Methode, diesen endlosen Strom finanzieller Erträge aus dem zu produzieren, was die Menschen in Zukunft erwirtschaften werden.

Das wurde in einem großen Ausmaß ganz bewußt hergestellt durch die Übereinkunft von ökonomischen Interessen und Regierungspolitik. Im Ergebnis haben Regierungsmacht und Privatmacht auf eine Weise fusioniert, die es fast unmöglich macht, die jeweiligen Sphären noch eindeutig zuzuordnen. Ich habe es in einem neuen Buch "totale Bürokratisierung" genannt.

Als ich vor nicht allzu langer Zeit am Telefon mit meiner Bank sprach, realisierte ich, daß sie mein Sicherheitssystem geändert hatte, so daß ich nicht mehr auf meine Kontodaten zugreifen konnte. Es hat eine Stunde gedauert herauszufinden, wie der Zugriff wiederhergestellt werden konnte. Eine klassische bürokratische Prozedur der Bank of America. Sie verwiesen mich an diese Person, sie verwiesen mich an jene Person, und ich mußte meine persönlichen Daten achtmal neu eingeben.

Das ist klassische Bürokratie, auch wenn man es in der Privatwirtschaft nicht so nennt. Wenn man sich für den Fall, daß man überhaupt einen Angestellten der Bank trifft, bei den zuständigen Personen beschwert, dann erklären sie einem, daß das Folgen staatlicher Regulation sind. Schaut man sich aber den Wortlaut der Regierungsdokumente für das Geschäft der Banken an, die im übrigen von den Lobbyisten der Banken verfaßt wurden, kann man sich angesichts dieser Vermengung nur die Frage stellen, was überhaupt öffentlich und was privat ist.

2009 hat JPMorgan Chase, die größte Bank der USA, 71 Prozent ihrer Profite aus Gebühren und Bußgeldern erwirtschaftet. Sie machen ihre Profite, indem sie Regeln erstellen, von denen sie wissen, daß Sie sie nicht erfüllen können, und bestrafen Sie anschließend dafür, daß Sie sie nicht einhalten. In gewisser Weise entspricht es der Definition von Utopianismus. Das hat man immer über die Sowjetunion gesagt: Ihre Bürokratie ging davon aus, daß die Menschen auf eine Weise handeln wollen, zu der sie gar nicht in der Lage sind, und wenn sie Fehler und Mißstände entdecken, dann bestrafen sie einfach die Menschen.

Genau auf diese Weise funktionieren kapitalistische Profite heute. Sie sagen, jeder sollte in der Lage sein, seine Konten auszugleichen und die Mitteilungen der Bank zu lesen. Wenn Sie es nicht können, dann stimmt mit Ihnen etwas nicht. Darin steckt das Ideal, daß jeder eine Art Unternehmen ist oder zumindest sein sollte. Und wenn du das nicht einlöst, dann bestrafen sie dich. Die Profite stammen direkt aus dem Utopianismus.

SB: Wie weit geht Ihre Vision einer zukünftigen Welt? Umfaßt sie auch die Möglichkeit, daß Menschen sich nicht mehr über Tausch und Vergleich definieren und dadurch zu Lasten des anderen leben?

DG: Meine empirischen anthropologischen Studien haben mich zu der Schlußfolgerung veranlaßt, daß es seit jeher drei wesentliche ökonomische und kommunistische Prinzipien gibt. Sie bilden der Aussage "Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen!" [2] gemäß praktisch die Basis der Gesellschaft. Wo das Bedürfnis groß genug ist und die Kosten gering sind, was nicht nur die Frage nach dem Weg oder nach Feuer betreffen muß, sondern in vielen Gesellschaften auch für die Nahrung gilt, trägt dazu bei, auf kommunistischer Basis zu leben. Dann gibt es die Prinzipien des Tausches, die den Austausch von Geschenken oder Gebrauchsgütern meinen, und es gibt Hierarchien, die keine reziproke Beziehung sind. In hierarchischen Beziehungen geht man davon aus, für eine Leistung auch eine Gegenleistung zu erhalten, so daß es sich eher um einen Präzedenzfall handelt.

Das sind grundlegende logische Prinzipien. Diese drei Prinzipien werden, in welcher Gesellschaft auch immer, auf diese oder jene Weise präsent sein. Die Frage ist, auf welche Weise sie gewichtet werden und wie sie sich zueinander verhalten. So kann man sich kaum eine Gesellschaft vorstellen, die sich Kindern gegenüber nicht auf hierarchische Weise verhält oder eine Gesellschaft, in der überhaupt kein Austausch stattfindet. Es ist ein dominantes Prinzip. Die Frage ist, wie dominant der Tausch gehandhabt wird.

In großen Teilen des Mittleren Ostens liegt der Fokus der Gemeinschaft entweder auf der Moschee oder auf dem Basar. Dies sind Plätze des Sozialen und der Moral. Märkte basieren nicht unbedingt auf den Prinzipien der puren Vorteilsnahme. Sie haben sogar mit einem in gewisser Weise kommunistischen Prinzip zu tun, wenn man Menschen mehr oder weniger Geld bezahlen läßt, wenn es eine Idee des gerechten Preises gibt. Das sind also keine rein wettbewerbsorientierten Märkte.

Schaut man auf die Geschichte der Idee des freien Marktes, dann entstanden Geldmärkte aus militärischen Operationen im Sinne einer Erweiterung der Kriegführung und als Möglichkeit, Soldaten zu verpflichten. Die alten Könige nahmen etwas von dem eroberten Gold und Silber, verteilten es an die Soldaten und trieben es in Form von Steuern wieder ein. Es war eine Methode der Kriegführung.

Im Mittelalter verabschiedeten sich die Märkte von diesem Prinzip, wofür der mittelalterliche Islam ein hervorragendes Beispiel ist. Die Märkte entzogen sich der Kontrolle der Regierung - es ist eine lange komplizierte Geschichte -, aber im Kern verbündeten sich die Händler und Bauern gegen die Regierung, nachdem die Händler zuvor stark mit der Regierung kollaboriert hatten. Diese Entwicklung ist ein Grund dafür, warum sich der Islam im achten und neunten Jahrhundert auszubreiten begann.

Damals gab es eine volkstümliche Marktmentalität, die davon ausging, daß die Märkte selbst ein Mittel gegenseitiger Hilfe waren und fast als Erweiterung kommunistischer Prinzipien gelten konnten. Profitmacherei und Wettbewerb waren offensichtlich nicht die Antriebskräfte des Marktes. Man konnte kein Geld verleihen und dafür Zinsen verlangen, man konnte Verträge meist nicht mit Strafgerichten durchsetzen, sondern mußte vor Zivilgerichte ziehen. Im Kern basierte alles auf Vertrauen, so daß es ein ganz anderes System als heute war. Viele der Ideen Adam Smiths zum Beispiel stammen aus mittelalterlichen arabischen und persischen Quellen. Adam Smiths berühmtes Beispiel der Nadelfabrik, in der 17 Operationen benötigt werden, um eine Nadel herzustellen, stammt direkt von Al-Ghazali. Dieser verfaßte 1100 ein Buch über Ökonomie, in dem er erklärte, daß es 25 Schritte bedarf, um eine Nadel herzustellen.

Ein Großteil der westlichen Theorie des freien Marktes wurde dem mittelalterlichen Islam gestohlen, wobei hier der Wettbewerb als Triebkraft genutzt wurde, was die muslimischen Denker nicht taten. Für sie war es nur ein Element unter vielen, denn sie verfolgten hauptsächlich ein moralisches Konzept. In Europa waren die Märkte stark in die Kriegführung eingebunden und daher sehr viel wettbewerbsorientierter.

Im Ergebnis haben wir ein falsches Verständnis davon, was Märkte im Mittleren Osten für die Menschen, die sich auf ihnen engagieren, bedeuten. Sicherlich gibt es in Rojava eine Marktwirtschaft nach Art eines Basars, aber es gibt auch Preiskontrollen, die nicht von der Zentralregierung durchgesetzt werden, sofern es dort eine gibt, sondern von unten. Denn die Menschen, die die Märkte betreiben, haben einen Sinn dafür, was ein gerechter Preis ist, was Ausbeutung bedeutet, und wenn jemand etwa Waren hortet, um die Preise hochzutreiben, dann intervenieren sie.

SB: Haben Sie im Sinne der Konferenz eine Vision für eine alternative Zukunft?

DG: Ich denke, Demokratie ist das zentrale Thema. Die Menschen fragen mich häufig, wie eine Ökonomie in einer freien nichtstaatlichen Gesellschaft funktionieren würde. Ich sage immer das gleiche - es ist nicht meine Entscheidung, ob sie auf kommunaler Basis organisiert wäre, ob sie eine oder mehrere Währungen hätte, denn es gibt Millionen verschiedener Möglichkeiten.

Ich möchte nicht sagen, was geschehen wird, sondern die Mechanismen dafür schaffen, daß die Menschen selbst entscheiden können. Daher finde ich es so wichtig, daß die Menschen die Verwirklichung einer Graswurzel-Demokratie in Angriff nehmen. Es gibt eben verschiedene Kulturen - ein Markt im Mittleren Osten kann etwas ganz anderes bedeuten als ein Markt hierzulande. Wir wollen ihn vielleicht völlig abschaffen, sie wollen ihn behalten.

Ich möchte den Menschen in China oder Syrien ganz gewiß nicht sagen, wie sie ihre Wirtschaft betreiben. Ich will das nicht einmal hier tun. Ich möchte Mechanismen schaffen, mit denen die Menschen ihre Probleme auf demokratische Weise selbst lösen können. Ich vertraue darauf, daß nichts von dem, was Märkte heute darstellen, existierte, wenn den Menschen überlassen würde, ihre eigenen Lösungen zu entwickeln. Zum Beispiel könnte es keine Lohnarbeit ohne Staat geben. Aber ich könnte mich auch irren (lacht).

SB: Herr Graeber, vielen Dank für das Gespräch.


Fußnote:

[1] Securing a sustainable future for higher education: an independent review of higher education funding and student finance

[2] Karl Marx: Kritik des Gothaer Programms, 1875


Beiträge zur Konferenz "Die kapitalistische Moderne herausfordern II" im Schattenblick unter
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25. Mai 2015


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