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INTERVIEW/286: EU-Umlastkonverter - Zurück auf die Straße ...    Manfred Sohn im Gespräch (SB)


Krisendiagnose mit unumkehrbarem Verlauf

Interview am 17. November 2015 in Hamburg-St. Georg


Manfred Sohn war von 2010 bis 2015 Vorsitzender des Landesverbandes Niedersachsen der Partei Die Linke. Von 2008 bis 2013 war er Abgeordneter im Niedersächsischen Landtag. 2015 erklärte er seinen Austritt aus der Linkspartei. In seinem jüngsten, 2014 veröffentlichten Buch "Am Epochenbruch" legt er eine Analyse der Krise des Kapitalismus vor, deren negativer Verlauf, um neuer Barbarei zu entgehen, in einen Sozialismus anderer Art münden müßte. In der Hamburger Veranstaltungsreihe "Griechenland, EU und Euro in der Krise" nahm er an der abschließenden Podiumsdiskussion teil. Im Anschluß beantwortete Manfred Sohn dem Schattenblick einige weiterführende Fragen.


Im Gespräch - Foto: © 2015 by Schattenblick

Manfred Sohn
Foto: © 2015 by Schattenblick


Schattenblick (SB): In Sachen Parlamentarismuskritik hat Johannes Agnoli in den 60er Jahren Maßstäbe gesetzt, die für die Herrschaftsform des bürgerlichen Staates und der repräsentativen Demokratie eigentlich bis heute Gültigkeit besitzen. Hast du in deinem Vortrag auch auf diese heute weitgehend verschütt gegangenen Erkenntnisse zurückgegriffen, vielleicht um sie wieder dem Vergessen zu entreißen?

Manfred Sohn (MS): Ja, es ist ein Rückgriff und ein Stück weit auch Selbstkritik, weil ich im parlamentarischen Betrieb selber als Abgeordneter tätig war. Unterm Strich muß man sagen, daß der Parlamentarismusbetrieb insbesondere für die Entwicklung linker systemüberwindender Bewegungen nach meinen Erfahrungen nichts bringt. Nachdem ich nochmals Marcuses "Der eindimensionale Mensch" gelesen habe, bin ich zu der Erkenntnis gekommen, daß man die gegenwärtige Diskussion um Parlamentarismus und die Frage zweckmäßiger politischer Aktivität erst einmal wieder auf das Niveau der 60er und 70er Jahre heben muß.

SB: Du gehst von einem Rückschritt aus?

MS: Ja und von einem massiven Anwachsen in der Illusion durch die Fixierung auf Parlamente und Parteien.

SB: Im Unterschied zu den 60er Jahren gibt es heute auch andere Interessenvertretungen wie zum Beispiel soziale Bewegungen und sogenannte Nichtregierungsorganisationen, in denen allerdings auch eine Art Institutionalisierung stattfindet. Erstreckt sich deine Kritik an einer Stellvertreterpolitik auch auf große NGOs, bei denen der Verdacht zumindest im Raum steht, daß Widerstandspotentiale durch sie im Sinne herrschender Interessen eingebunden werden?

MS: Der bürgerliche Staat hält den Kapitalismus zusammen. Ohne ihn würde er zerfallen. Es ist eine Illusion, wie etwa bei der Neoliberalismuskritik zu glauben, rechte Politik wäre das, was den Markt stärkt, und linke Politik das, was den Staat stärkt. Das sind zwei Seiten einer Medaille. Beides hält das Kapitalverhältnis am Laufen. Der Staatsapparat hat eine enorm absorbierende Kraft. Er absorbiert nicht nur die politische Energie vieler Leute, die dann in Parteien gehen und dort auf Parlamente orientiert werden. Über die Finanzmittel, die die Parteien ausschütten, absorbieren sie auch die großen NGOs, die vielfach nicht so sehr Bewegung entwickeln als Bewegung abdämpfen und dann in systemungefährdende Aktivitäten kanalisieren.

SB: In der Bundesrepublik könnte man spätestens seit der rot-grünen Bundesregierung zu dem Schluß gelangen, daß sozialdemokratische Parteien gesellschaftliche Widersprüche aufgreifen, um sie dann ins Leere laufen zu lassen. Liegt da nicht der Schluß nahe, daß Syriza von Anfang an als Projekt aufgelegt war, eine sich aufbauende Oppositionsbewegung einzudämmen - zumindest ist der Widerstand der Straße abgeebbt, nachdem sich Syriza zur Wahl gestellt hatte?

MS: Das stimmt schon, aber man muß zwischen der Funktion und der Illusion der Funktionsträger unterscheiden. Ich kenne den einen oder anderen aus Syriza noch aus meiner Zeit in der Partei Die Linke - das betrifft nicht Tsipras, aber einige andere. Die machen nach meinem Empfinden jetzt tatsächlich Dinge, die sie eigentlich vorher abgelehnt haben. Auch viele aus der Partei Die Linke, die jetzt in Brandenburg oder Thüringen regieren, tun dort Dinge, die sie eigentlich nicht wollen. Sie kommen jetzt in eine Funktion, in die sie hineingewählt worden sind, und tun Sachen, die gegen ihren Strich gehen. Darauf reagieren sie völlig unterschiedlich. Manche zerfräsen sich psychisch, während anderen der ganze Betrieb alles in allem gut gefällt, weil er auch viele Annehmlichkeiten bietet. Man kann seine Arbeitszeit selbst bestimmen, währenddessen Zeitung lesen, kriegt eine Menge Geld und Dienstfahrzeuge gestellt. Viele legen sich dann eine Gewissensberuhigungsecke zu, indem sie irgendwelchen linken Organisationen etwas spenden, aber machen den Betrieb auch ganz gerne mit. Der Betrieb frißt die Leute, nicht umgekehrt. Der Marsch durch die Institutionen verändert, wie sich wieder einmal zeigt, nicht die Institutionen, sondern die durch ihn marschierenden Menschen.

SB: Axel Troost hat in der Debatte gesagt, daß ein Austritt Griechenlands aus der Eurozone in Anbetracht der niedrigen Industrialisierung des Landes fast unvermeidlich zu einer Verelendung der Bevölkerung führen würde, weil dann im marktwirtschaftlichen Sinne keine selbsttragende ökonomische Entwicklung mehr möglich wäre. Gleichzeitig wird heute über andere Gesellschaftsmodelle nachgedacht wie zum Beispiel die Postwachstumsgesellschaft, bei der zugunsten einer sozialökologischen Entwicklung auch einmal außerhalb des Marktes gedacht wird. Sind solche Modelle für dich vorstellbar?

MS: Ja unbedingt. Das ist aus meiner Sicht sogar der eigentliche Dreh- und Angelpunkt. Die Diskussion um Grexit oder nicht ist eine Diskussion um Pest oder Cholera. Aber das ist gar nicht der entscheidende Punkt, entscheidend sind die Selbstermächtigung und die Organisation des Lebens jenseits von Markt, Staat und Geld. Das passiert ja in Teilen der kurdisch beherrschten Gebiete und wird zum Teil auch in Griechenland einfach aus der Not heraus geboren. Ich bin fest davon überzeugt, daß man den gedanklichen Käfig, daß Entwicklung von Wohlstand nur über mehr Geld möglich sei, überwinden muß. Bevor man die Zentralkategorien Markt und Geld nicht erst gedanklich und dann praktisch knackt, wird es keine Wohlstandsvermehrung und zukunftsweisende Perspektive geben. Meines Erachtens lenkt die Grexit-Diskussion von der Hauptaufgabe, zu einer sich selbst organisierenden Assoziation auf kommunaler Ebene zu gelangen, ab.

SB: In deinem Buch "Epochenbruch" stellst du eine bestimmte Krisentheorie und Prognose zur weiteren Ausformung der EU vor. Ist Griechenland für dich ein Vorreiter in einer Entwicklung, die völlig planlos verläuft, oder kann man darin auch einen gewissen systematischen Charakter erkennen?

MS: Ein systematischer Charakter ist schon vorhanden. Griechenland wird zu einer Halbkolonie gemacht und hört auf, ein souveräner Staat zu sein. Schon heute hat Griechenland kein wirkliche Staatssouveränität mehr, sondern steht unter der Fuchtel der Troika. Das Ganze ist damit auch Vorbild für eine Reihe anderer, vor allen Dingen südeuropäischer Staaten wie Portugal und Spanien, die sich in einer durchaus ähnlichen Situation befinden. Meine Prognose ist, um mit Bebel zu sprechen, ein großes Kuddelmuddel. Es wird ein großes Durcheinander und eine Überstrapazierung der Finanzen geben. Man wird sich nun auch noch einen Krieg in Syrien aufhalsen. Die schwarze Null, von der viele Linke fordern, sie zugunsten von Investitionsprogrammen aufzugeben, wird aufgegeben werden, aber nicht zugunsten von Wohlfahrts- und Sozialstaatsprogrammen, sondern zugunsten von Kriegen und Repression. Das ist die Perspektive.

SB: Du bist in deinem Vortrag auch darauf zu sprechen gekommen, daß es keinen Gegenwert mehr für die Mengen an Kapital gibt, die akkumuliert werden. Handelt es sich dabei um die klassische Methode der Kapitalzerstörung, um einen Neustart möglich zu machen, oder was geschieht sonst mit den ungeheuren Geldmengen, die längst ihrer Mehrwert produzierenden Basis enthoben sind?

MS: Es wird in irgendeiner Form zu einer Vernichtung dieser Geldansprüche kommen. Geld ist ja nichts, was man essen kann. Da steht im Grunde nur drauf, daß man einen Anspruch auf soundsoviele Anteile an Arbeitsleistung anderer Menschen hat, die man mit diesem Geld abfordern kann, sei es in Form von Essen, der Herstellung einer Ware, einem Haarschnitt oder was auch immer. Diesen weltweiten Geldansprüchen steht - das sagt auch jeder bürgerliche Ökonom - keine entsprechende Menge an erbringbarer Arbeitsleistung mehr gegenüber. Also wird es in irgendeiner Form - durch massive Inflation, Krisen oder Kriege, die diese Werte vernichten - wahrscheinlich noch zu Lebzeiten der meisten heute existierenden Menschen zu einer massenhaften Geldentwertung kommen. Wir haben es dann zunehmend mit Geld ohne Wert zu tun.

Ich fürchte aber, daß die Problematik durch die hohe Produktivität noch viel dramatischer ist, selbst wenn es zu einem Wiederaufleben des Zyklus von Zerstörung und Neubeginn kommen sollte, wie wir es in den letzten 200 Jahren nach großen Krisen gewohnt waren. Denn anders als beim Aufbau der Schienen- und Straßensysteme und der Massenherstellung von Haushaltsgeräten und Autos in der sogenannten Fordistischen Periode gibt es für mich sichtbar keinen Bereich mehr, der nach einer globalen Krise mit Millionen betroffener Arbeiter noch Arbeitskraft in sich aufsaugen könnte. Die Produktivität ist inzwischen so hoch, daß die Mikroelektronik zwar so nette Geräte herstellen kann wie jene, zu denen wir gerade sprechen, aber dazu braucht man keine Dutzenden von Millionen Arbeitskräften, wie bei der Herstellung von Eisenbahnen oder Autos zu früheren Phasen. Dazu reichen maximal ein paar hunderttausend Leute, und dann ist das alles für den ganzen Globus hergestellt. Deshalb gibt es meines Erachtens innerhalb des heutigen kapitalistischen Systems keine Möglichkeit für eine Regeneration nach einer tiefen Krise. Es wird Geldentwertung, Krieg, Rotz und Elend geben, aber wenn es nicht ohnehin zu einer totalen Zerstörung dieser Welt kommt, wird aufgrund des erreichten Produktivitätsfortschritts auf kapitalistische Art keine Erholungsmöglichkeit mehr möglich sein. Das ist das eigentliche Drama, auf das wir zulaufen.

SB: Du bist für längere Zeit Abgeordneter in Niedersachsen gewesen. Von dem Skandal um die Abgaswerte ist das zweitgrößte Autounternehmen der Welt betroffen, aber gleichzeitig steht der gesamte Automobilismus in Frage in bezug auf das konkrete Erreichen der notwendigen Klimaziele. Wie verhält sich beides in der Logik eines Unternehmens wie VW zueinander?

MS: Der ganze Automobilismus hat einen absurden Charakter, denn er stellt die wohl irrationalste Form der Fortbewegung von Menschen dar. Es wäre tatsächlich viel rationaler, volkswirtschaftlich, ökologisch, ökonomisch und nicht zuletzt von der Bequemlichkeit her, ein intelligentes öffentliches Massenverkehrssystem aufzubauen. Es würde aber nicht jene Profitmargen hervorbringen, an die sich VW, Ford und wie sie alle heißen gewöhnt haben. Insofern ist der Übergang zu einem rationalen Verkehrssystem im lokalen wie auch globalen Maßstab unter kapitalistischen Bedingungen wahrscheinlich nicht möglich. Was VW anbelangt, sind meine Perspektiven, gerade weil ich aus Niedersachsen komme, tatsächlich düster. Daß ein Unternehmen, das noch vor kurzem über unendliche Geldreserven verfügte und jetzt am Geldmarkt mehrere Milliarden an Kredit anfordert, zeigt, wie dramatisch die Situation inzwischen geworden ist. Das bedeutet, daß die vielen Arbeiter und Angestellten, die von VW leben, demnächst mit massivem Forderungen nach Arbeitsplatzabbau und Lohneinbußen konfrontiert sein werden. Das wird Niedersachsen tief treffen, weil dort ungefähr jeder siebte Arbeitsplatz - direkt oder indirekt - an VW hängt. Da zeichnen sich nicht nur in der Region Wolfsburg-Salzgitter, wo die meisten Menschen von VW leben, dramatische Verwerfungen ab.

SB: VW inszeniert sich auf T-Shirts gern als Familie, aber was passiert, wenn Arbeiterinnen und Arbeiter einfordern, im Sinne der Sozialpartnerschaft in der Krise nicht allein gelassen zu werden?

MS: Auch bin ich hochgespannt, wie sich das weiter entwickelt. So frage ich mich, ob es Uwe Fritsch, der Betriebsratsvorsitzender bei VW Braunschweig und Mitglied des Parteivorstandes der DKP ist und von dem ich sehr viel halte, gelingen wird, in den sich anbahnenden Konflikten die Klassenfrage zuzuspitzen? Geht es nur um Sozialpartnerschaft, befürchte ich, daß sich Abläufe wie bei vielen anderen Betrieben einstellen werden. Erst rücken alle zusammen, dann müssen sie länger ohne Lohnausgleich arbeiten, verzichten auf das Weihnachtsgeld und werden am Schluß dennoch entlassen. Denn im Kern geht es nicht um die Lohnproblematik. Man kann mit Entlassungen ja nicht den Pfusch am Motorenbau beheben. Insofern muß man sehen, was passiert. Ich wünsche den Arbeiterinnen und Arbeitern bei VW jedenfalls möglichst wenig Illusionen, viel Widerständigkeit und kämpferische Selbstbehauptung.

SB: Du bist aus der Linkspartei ausgetreten. Wie berichtet wurde, ging es um einen parteiinternen Konflikt. Hast du damit auch die Konsequenz aus der zunehmenden Sozialdemokratisierung der Partei gezogen?

MS: Ja, das ist es ja auch. Ich habe die Zeit in der Linkspartei persönlich durchaus genossen. Es gibt dort auch nette Menschen, aber die Parteipolitik hat insgesamt keine andere Perspektive, als sich letztlich zu sozialdemokratisieren. Was ich seit dem Jahr nach meinem Austritts als Außenstehender mitbekomme, bestätigt dies leider. Die Linkspartei ist der potentielle Juniorpartner der SPD. Wenn sie sich in der Parteienlandschaft halten und entwickeln will, dann endet sie im Grunde genommen als kleine Syriza-Enttäuschung für linke Bewegungen.


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