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INTERVIEW/306: Migrationskonferenz Kampnagel - Fluchtgrund Neubeginn ...    Zohair Mahmoud im Gespräch (SB)


Der Krieg in Syrien hat eine ganze Gesellschaft zerstört

Interview mit Zohair Mahmoud am 27. Februar 2016 auf Kampnagel in Hamburg


Der größte Teil der Flüchtlinge, die seit Anfang 2015 nach Deutschland gekommen sind, stammt aus Syrien. Nach fünf Jahren Bürgerkrieg bietet der einstige säkulare Musterstaat ein Bild des Grauens. Hunderttausende Menschen sind gewaltsam ums Leben gekommen. Die Hälfte der Bevölkerung befindet sich im In- oder Ausland auf der Flucht. Im Osten haben die sunnitischen Gotteskrieger vom Islamischen Staat (IS) das Kalifat ausgerufen. Die einst florierende Handelsmetropole Aleppo nahe der Grenze zur Türkei liegt in Trümmern und sieht wie Berlin im Mai 1945 aus. Über die Lage in Syrien sprach der Schattenblick auf der internationalen Flüchtlingskonferenz mit Zouhair Mahmoud.


Interviewszene auf einer verlassenen Kampnagel-Bühne vor schwarzem Vorhang; beide Gesprächsteilnehmer sitzen in schwarzen Sesseln - Foto: © 2016 by Schattenblick

SB-Redakteur und Zohair Mahmoud
Foto: © 2016 by Schattenblick


Schattenblick: Herr Mahmoud, wo kommen Sie her und wie lange sind Sie schon in Europa bzw. Deutschland?

Zouhair Mahmoud: Ich komme aus der Mittelmeerstadt Tartus, die in der syrischen Provinz Latakia liegt. Ich bin erst drei Monate hier.

SB: Wie spielte sich bei Ihnen die Flucht aus Syrien ab?

ZM: Ich bin zuerst mit der Maschine einer Regionallinie von Tartus nach Beirut in den Libanon geflogen. Von dort aus bin ich dann in den Ferienort Izmir in der Türkei weitergeflogen. Das war Ende Oktober vergangenen Jahres. In Izmir habe ich mich über die Fluchtmöglichkeiten erkundigt und habe dann im Dezember mit 47 anderen Menschen die Ägäis per Schlauchboot überquert. Es waren viele Kinder dabei. Die Überquerung fand nachts statt. Wir landeten auf der griechischen Insel Chios, die rund 10 Kilometer entfernt vom türkischen Festland liegt. Ich bin drei Tage auf Chios geblieben, denn die griechischen Behörde schreiben für die Registrierung als Flüchtling einen Aufenthalt von 72 Stunden vor. Danach habe ich die Fähre nach Athen bestiegen. Anschließend nahm ich den Bus, der mich an die griechisch-mazedonische Grenze brachte, und von dort aus bin ich dann mit dem Zug bis nach Deutschland durchgefahren.

SB: Warum kamen Sie ausgerechnet nach Deutschland?

ZM: Als Flüchtling muß man wissen, wohin man will und warum. Wenn man sich entscheidet, sein Land und seine Heimat zu verlassen, dann nur mit der Perspektive, daß es einem an einem anderen Ort wesentlich besser gehen wird. So ein gravierender Schritt will sorgfältig überlegt werden. Seit vergangenem Sommer hatte man unter den Ausreisewilligen in Syrien von einer Verschärfung der sozialen und rechtlichen Bedingungen für Flüchtlinge in mehreren EU-Staaten wie zum Beispiel in Dänemark und Schweden erfahren, die lange Zeit als gute Zufluchtsorte für Hilfesuchende aus dem Ausland galten. In Deutschland dagegen hatte Bundeskanzerlin Angela Merkel die humanistischen Werte hochgehalten und die Bevölkerung an ihre Verantwortung für Schutzbedürftige nach der Genfer Konvention erinnert. Des weiteren steht Deutschland im europäischen Vergleich wirtschaftlich gut da. Die Chancen für einen Migranten, in der Bundesrepublik seinen Lebensunterhalt zu verdienen, sind besser als in den anderen EU-Staaten. Es ist zudem bekannt, daß Deutschland ausländische Arbeitskräfte braucht, die gut ausgebildet sind und schnell integriert werden können.

SB: Wie alt sind Sie?

ZM: Ich bin 43 Jahre alt.

SB: Welchen Beruf haben Sie ausgeübt, als Sie noch in Tartus lebten?

ZM: Ich war lange Zeit als Verkaufsleiter tätig. Es ging um Werbung und Marketing für die Automarken Toyota und Renault. Doch als der Krieg 2011 ausbrach, kam aufgrund der gegen Damaskus verhängten Wirtschaftssanktionen der Export ausländischer Autokonzerne nach Syrien zum Erliegen. Also bin ich ins Immobiliengeschäft eingestiegen. Doch durch die Eskalation des Krieges brach der Immobilienmarkt ein. Irgendwann mußte ich einsehen, daß es für mich keine Möglichkeit mehr gab, in Syrien meinen Lebensunterhalt zu verdienen. Also habe ich mich notgedrungen für die Ausreise entschieden.

SB: Haben Sie Familie und wenn ja, haben Sie sie auf Ihrer Flucht nach Deutschland mitgenommen?

ZM: Ich bin verheiratet. Meine Frau und ich haben zwei Kinder - eine siebenjährige Tochter und einen vierjährigen Sohn. Alle drei sind noch in Tartus. Ich habe sie den Risiken, die mit der Überquerung der Ägais per Schlauchboot einhergehen, nicht aussetzen wollen. Die Entscheidung war richtig. Die Art von Bootsfahrt, welche die Flüchtlinge unternehmen, um von der Türkei nach Griechenland zu gelangen, ist sehr gefährlich, besonders für Kinder. Meine Familie befindet sich einigermaßen in Sicherheit in Tartus. Ich hoffe, sie irgendwann nach Deutschland holen zu können.

SB: Dürfen Sie bereits in Deutschland arbeiten?

ZM: Jetzt noch nicht, aber bald, hoffe ich. Um mich beruflich betätigen zu können, muß ich die deutsche Sprache beherrschen. Ich schätze, daß ich etwa ein Jahr brauchen werde, um das entsprechende Niveau zu erreichen. Seit zwei Monaten besuche ich eine Schule in der Kieler Straße hier in Hamburg, wo ich fünf Tage die Woche Deutschunterricht nehme. Ich gehe davon aus, daß ich in zehn Monaten einigermaßen fließend Deutsch spreche.


Zohair Mahmoud im Porträt - Foto: © 2016 by Schattenblick

Foto: © 2016 by Schattenblick

SB: Wenn ich Sie richtig verstehe, sehen Sie Ihre Zukunft in Deutschland und nicht mehr in Syrien?

ZM: So ist es. Selbst wenn der derzeitige Waffenstillstand hält und die Genfer Friedensverhandlungen fruchten sollten, werden das Land und die Menschen einige Zeit brauchen, um sich vom Krieg zu erholen. Man kann Städte und Infrastruktur relativ schnell wieder herrichten, aber nach den ganzen Gewalttätigkeiten, die sich die Menschen gegenseitig angetan haben, wird es lange dauern, bis die psychologischen Narben verheilt sind.

SB: Aber Tartus, wo Sie herkommen, ist doch vom Kriegsgeschehen einigermaßen verschont geblieben, oder nicht? Im Vergleich zu Städten wie Aleppo, Homs oder Rakka ist Tartus relativ ruhig und folglich intakt geblieben, nicht wahr?

ZM: Das stimmt. Aber in Tartus gibt es kaum noch junge Menschen. Die meisten von ihnen sind entweder von der Syrischen Arabischen Armee eingezogen worden oder ins Ausland geflüchtet. Gebäude können ersetzt werden, getötete Menschen jedoch nicht. Viele Syrer haben entweder als Rebellen oder Soldaten Schlimmes erlebt. Ähnliches gilt für die zivilen Opfer der Kämpfe oder die Menschen, die Familienangehörige, Verwandte oder Freunde im Krieg verloren haben. Seelisch liegen die meisten Syrer am Boden.

SB: Aktuell bemühen sich die USA und Rußland, die verschiedenen Bürgerkriegsparteien, das "Regime" Baschar Al Assads und die militante Opposition, zu einem ernsthaften politischen Dialog zu bewegen. Glauben Sie, daß die Verhandlungen in Genf zum Erfolg führen werden oder kann es erst Frieden in Syrien geben, wenn die Rivalität zwischen dem schiitischen Iran und dem sunnitischen Saudi-Arabien nachläßt?

ZM: Ich befürchte, daß der Krieg, selbst wenn sich die Regierung in Damaskus und die gemäßigte Opposition verständigen, weiterhin von salafistischen Gruppen wie der "Terrormiliz" Islamischer Staat und der Al-Nusra-Front fortgesetzt wird. Von daher glaube ich, daß es lange dauern wird, bis in allen Teilen Syriens wieder ein halbwegs normaler Alltag einkehrt.

SB: Ein Grund für die Unterstützung, welche die salafistischen Gruppen in Syrien seitens Saudi-Arabiens erfahren haben, ist der Machtverlust der Sunniten im Irak nach dem gewaltsamen Sturz des "Regimes" Saddam Husseins 2003 durch die USA. Seitdem haben die Schiiten in Bagdad das Sagen und diskriminieren die Sunniten bei der Vergabe von Posten in der Staatsverwaltung sowie bei der Verteilung von Ressourcen an die von ihnen mehrheitlich bewohnten Provinzen. Könnte es daher nicht sein, daß sich eine Lösung des Konflikts in Syrien erst herbeiführen läßt, wenn der konfessionelle Streit im benachbarten Irak beigelegt wird?

ZM: Vor dem Ausbruch des Bürgerkrieges in Syrien interessierte sich bei uns in Syrien niemand dafür, ob jemand Sunnit, Schiit, Alewit, Druse, Christ oder Atheist war. Die Menschen der verschiedenen Religionen und Ethnien lebten Seite an Seite in der säkularen syrischen Gesellschaft. Es gab auch nicht wenige gemischte Ehen. Infolge des Krieges besteht die berechtigte Befürchtung, daß sich dieser Zustand nicht so schnell, wenn überhaupt, wiederherstellen lassen wird.

SB: Das meinten Sie vorhin, als Sie von der langen Zeit sprachen, welche die Heilung der psychologischen Narben erfordern würde?

ZM: Ganz genau. In den letzten fünf Jahren sind nicht wenige Menschen nur deshalb getötet worden, weil andere meinten, sie gehörten der falschen Konfession bzw. Religion an. Wie kehrt man aus einer Situation, in der so etwas am laufenden Band passiert, in die Normalität, in der sich Menschen mit Respekt und gegenseitiger Achtung unabhängig aller religiösen oder kulturellen Unterschiede begegnen, zurück? Das dürfte nicht einfach sein.

Mir tun die zahllosen Kinder leid, die durch ihre Kriegserlebnisse geprägt sind und die sie ihr ganzes Leben nicht vergessen werden. Die Kinder und Jugendlichen, die für irgendwelche IS-Videos gezwungen wurden, vor laufenden Kameras gefangene Soldaten zu erschießen oder ihnen die Kehle durchzuschneiden, sind das extremste Beispiel dieses Phänomens der verlorenen Kindheit. Wie läßt sich solche Brutalität überwinden bzw. dem Vergessen überlassen? Man wird den Staat Syrien physisch relativ schnell wiederherstellen können, doch die Heilung der seelischen Kriegswunden wird meines Erachtens Jahrzehnte dauern.

SB: Wir bedanken uns, Herr Mahmoud, für das Interview.


Interviewszene auf einer schwarzen Bühne aus der Distanz - Foto: © 2016 by Schattenblick

Der Krieg in Syrien ist kein leichtes Gesprächsthema
Foto: © 2016 by Schattenblick


Bisherige Beiträge zur Hamburger Flüchtlingskonferenz im Schattenblick unter
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