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INTERVIEW/356: Übergangskritik - Aneignungsbrüche ...    Angelika van der Linde im Gespräch (SB)


Die Mathematikerin Prof. Dr. Angelika van der Linde hat unter anderem an der Universität Bremen geforscht und gelehrt. Auf der Konferenz "Am Sterbebett des Kapitalismus?", zu der das Institut für Gesellschaftsanalyse der Rosa-Luxemburg-Stiftung und die Helle Panke e.V. am 3. und 4. März nach Berlin-Friedrichshain eingeladen hatten, nahm sie mit ihren positionierten Diskussionsbeiträgen des öfteren Stellung. Im Anschluß an die Podiumsdiskussion über "Digitalen Postkapitalismus" mit Rainer Fischbach, Timo Daum und Georg Fülberth beantwortete Angelika van der Linde dem Schattenblick einige Fragen zu den Auslassungen einer eurozentristischen Sichtweise, zur sogenannten ökologischen Wende und zu Anforderungen an die Naturwissenschaften.



Mit Mikrofon in der Hand bei einem Diskussionsbeitrag - Foto: © 2017 by Schattenblick

Angelika van der Linde
Foto: © 2017 by Schattenblick

Schattenblick (SB): Frau van der Linde, Sie haben in der vorangegangenen Podiumsdiskussion eingewendet, daß die Sichtweise sehr eurozentristisch gewesen sei. Warum war das Ihres Erachtens so?

Angelika van der Linde (AL): Ich denke, unsere Warenproduktion beruht in den Lieferketten letztlich darauf, daß in anderen Ländern der Welt Menschen die Drecksarbeit machen: in der Rohstoffgewinnung, in den Nähereien der Textilindustrie, vor allem die Kleinbauern in der Lebensmittelproduktion und die Arbeiter auf den Plantagen. Wenn wir an dieses Ende des Produktionsprozesses zurückgehen, ist die ausgebeutete menschliche Arbeit immer noch die dominierende, während wir hier bei uns nach dem Vertrieb nur die schöne Oberfläche sehen.

SB: Wenn wir hier also eine Internet- und Computerwelt erörtern, ist das demnach nur ein kleiner Ausschnitt der Gesamtsicht. Müßte man folglich stets andere Fragen mitdiskutieren, wenn es um Kapitalismus oder Postkapitalismus geht?

AL: Ich glaube, es geht noch lange nicht um den Postkapitalismus. Selbst wenn der Kapitalismus hier geringere Profitraten hätte, bleiben ihm viele Länder - auch die Schwellenländer - in denen weiterhin gute Profite auf kapitalistische Art zu machen sind. Deshalb stellt sich mir die Frage, ob es nicht eine Selbsttäuschung ist, wenn wir angesichts unseres Lebens auf hohem technischen Niveau denken, daß das schon den Kapitalismus gefährden könnte. Daran glaube ich nicht, ich halte ihn für sehr lebendig.

SB: Was müßte aus Ihrer Sicht vor allen Dingen dazukommen, um den Kapitalismus zu überwinden?

AL: Das kann ich - wie alle hier - nicht wissen. (lacht) Ich glaube, daß die Umweltdiskussion weiterhin unterbelichtet ist, weil sie in der Krisenhaftigkeit eine größere Rolle spielt, als wir das alle wahrhaben wollen. Vielleicht auch die Rohstoffknappheit, vielleicht auch die Energieknappheit, die Herr Fischbach noch einmal angesprochen hat. Ob wir das so zu spüren bekommen? Die subjektive Reaktion orientiert sich ja an den Problemen, die man selber erfährt. Wir erleben es vielleicht eher als Arbeitslosigkeit, während andere Menschen es direkt als Umweltverschmutzung oder als Verknappung von Lebensraum erfahren. Deshalb glaube ich, daß man diese Frage global so gar nicht vernünftig stellen und erst recht nicht einheitlich beantworten kann. Diese Ausdifferenzierung ist natürlich in kurzen Vorträgen nicht zu leisten, aber aus meiner Sicht das, was die Bewegung bestimmen wird.

SB: In zunehmendem Maße wird die sogenannte ökologische Wende diskutiert. Wäre es eine Perspektive zu sagen, auf diesem Wege könnte sich unterschwellig eine Veränderung durchsetzen?

AL: Das ist meines Erachtens ein Zweig, in dem neue Technologien entwickelt werden und in dem ein neues Bewußtsein entsteht. Das glaube ich schon. Wenn man sich die Postwachstumstheorie anschaut, die ich auch ideologisch für sehr wichtig halte, den Kapitalismus zu überwinden, indem man von dieser Wachstumsidee wegkommt und dennoch das Recht der Menschen auf sicheres Leben verteidigt, dann bleibt einem ja nichts anderes übrig, als das in alternativen Projekten auszuprobieren und partiell auch in eine Praxis zu verwandeln. Das sind sicher Graswurzelalternativen, die zwar in der globalen Organisation dem Kapitalismus nicht gewachsen, aber dennoch für den Transformationsprozeß unerläßlich sind. Sie stellen nicht die Machtfrage, aber sie arbeiten an der Transformation.

SB: Sie hatten in der Diskussion des Panels angesprochen, daß auch die Mathematik so etwas wie eine Allmende sei. Würden Sie sagen, daß Naturwissenschaften objektiv und unanfechtbar sind?

AL: Sie sind objektiv innerhalb ihres Modellrahmens. Wenn man die Objektivität durch die Methodik bestimmt, dann sind sie natürlich objektiv, entweder experimentell in den klassischen Naturwissenschaften oder beweistechnisch in der Mathematik. Dann sind sie objektiv und verbindlich. Man darf aber nicht vergessen, daß sie auch nur sehr spezielle Fragen erforschen und daß wir vielleicht andere Fragen beantworten müssen, um wirklich weiterzukommen. Die Naturwissenschaften waren sehr erfolgreich, um Eigenschaften von Gegenständen und Materialien zu erforschen. Sie sind, glaube ich, entwicklungsbedürftig und werden ja auch weiterentwickelt, wie man in den ökologischen Wissenschaften sieht, in der Erforschung von Systemzusammenhängen, Wechselwirkungen und Vernetzungen, von Kommunikation in verschiedenen Lebensbereichen. Das sind Fragen, die einfach nicht oder nur bedingt interessant sind, wenn man Waren produzieren will.

SB: Was wäre darüber hinaus erforderlich, um die von Ihnen angesprochenen weiterführenden Fragen zu bearbeiten?

AL: Man sieht das am Klimawandel, der ja wissenschaftlich aufgearbeitet ist. Das ist ein sehr gutes Beispiel für die Weiterentwicklung der Naturwissenschaften. Es muß aber auch, wie das Herr Fischbach gut herausgearbeitet hat, mit den sozialen Verhältnissen vermittelt werden, unter denen die Menschen aus diesen Theorien Nutzen ziehen können. Da zeigt sich die Grenze der naturwissenschaftlichen Betrachtung, und das ist nicht nur eine politische Fragestellung, wenn man beispielsweise vor der Aufgabe steht, in einem bestimmten Land den weiteren Anstieg des Meeresspiegels zu verhindern. Wie man weiß, ist das nur partiell eine naturwissenschaftliche Fragestellung. Früher haben wir das altmodisch unter dem Begriff der Interdisziplinarität diskutiert, der ja immer noch nützlich ist. Wenn es gelingt, das zu realisieren, ist das schon ein großer Erfolg.

Zugleich bin ich der Auffassung, daß die Naturwissenschaften Fragen aufgreifen müssen, die aus so einer interdisziplinären oder gesellschaftlichen Problematik entstehen, und das tun sie bisher sehr selten. Beim Waldsterben und beim Klimawandel haben sie das notgedrungen getan, aber in der Regel - und das schlägt sich ja auch in der Technologisierung der Universitäten nieder - ist das nicht produktionsrelevant, um es einmal so auszudrücken. Die Gesellschaft kämpft darum, dieses Wissen zu erarbeiten, aber dennoch werden die Institutionen im Kapitalinteresse funktionalisiert. Wenn man etwas Umfassenderes bewerkstelligen will, braucht man die UNO oder eine andere größere Gemeinschaft, die das leisten kann.

SB: Frau van der Linde, vielen Dank für dieses Gespräch.


Beiträge zur Konferenz "Am Sterbebett des Kapitalismus?" im Schattenblick unter:
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5. Mai 2017


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