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ARBEIT/394: Vom Sandbestrahlen bei der Jeansbleiche in der Türkei (frauensolidarität)


frauensolidarität - Nr. 109, 3/09

GEFÄHRDUNG ARBEIT
Nebenwirkungen: tödlich
Vom Sandbestrahlen bei der Jeansbleiche in der Türkei

Von Bettina Musiolek


Die Evangelische Akademie Bad Boll, der Kirchliche Dienst in der Arbeitswelt der Evangelischen Landeskirche Württemberg, verdi und das Zentrum für Entwicklungsbezogene Bildung der Württembergischen Landeskirche luden zum Seminar "In Würde arbeiten - fair handeln" nach Bad Boll ein. Dort berichteten Sedat Engin Kaya von der Textilgewerkschaft TEKSIF und der Rechtsantwalt Tanzer Güven, Komitee für Solidarität mit den sandstrahl-geschädigten ArbeiterInnen, über die Auswirkungen der Jeansbleiche auf die Beschäftigten. Im Folgenden fasst die Autorin den Stand des Gesundheits- und Arbeitsskandals zusammen und gibt einen Überblick über die Forderungen der Gewerkschaft und der todkranken Geschädigten.


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Die Türkei ist nach China die zweitgrößte Bekleidungsherstellerin in der Welt, eine von zehn Textilien in der EU kommt aus der Türkei. Deutschland ist der größte Markt für die Türkei. Früher hatte auch die USA einen nennenswerten Anteil am Export. Diese Exporte sind jetzt stark rückläufig. Seit der Wirtschaftskrise ist der Textilexport um ein Drittel zurückgegangen, Betriebe schließen, die Arbeitslosigkeit steigt dramatisch. So charakterisierte der Textilgewerkschafter Engin Sedat Kaya die Situation in der Branche. Und er fügte hinzu, wie schwierig es für GewerkschafterInnen in der Türkei ist, sich für ihre Kolleginnen und Kollegen in der Branche einzusetzen. In der türkischen Textil- und Bekleidungsindustrie gibt es geschätzte drei Mill. Beschäftigte. Nur 600.000 davon sind überhaupt registriert.

Die anderen arbeiten informell: ohne Arbeitsvertrag, ohne Sozialversicherung und Ansprüche auf eine Rente, ohne Kollektivvertretungen - ohne Rechte. Im registrierten Sektor der Branche liegt der Anteil der beschäftigten Männer bei ca. 50%. Beispielsweise gibt es ein ungeschriebenes Gesetz, dass in Bügelabteilungen nur Männer arbeiten. Je informeller die Arbeiten jedoch sind, desto höher ist der Frauenbeschäftigungsanteil. Und schließlich: Nur 2% aller Beschäftigten sind gewerkschaftlich organisiert.


Haarsträubende Gewerkschaftsfeindlichkeit

Seit dem Militärputsch 1980 in der Türkei hat sich die Arbeitsgesetzgebung prinzipiell nicht geändert. Die meisten anderen Gesetze schon. So ist die Türkei eines der wenigen Länder auf der Welt, die die ILO-Übereinkommen über Koalitionsfreiheit und Kollektivverhandlungen nicht in nationales Gesetz umgesetzt haben. Mitglied einer Gewerkschaft zu werden ist in der Türkei schier unmöglich. Man muss während der Arbeitszeit zu einem Notar gehen, ihn teuer bezahlen und den Aufnahmeantrag unterschreiben, dessen Kopie automatisch an den Arbeitgeber geht. Und dies ist in der Türkei die vorprogrammierte Entlassung.

Und sollte man oder frau auf die gefährliche Idee kommen, gegen solch eine Entlassung vorzugehen, die auch in der Türkei ungesetzlich ist, sieht man sich schlimmsten Drohungen auch physischer Art ausgesetzt. Es ist nicht ungewöhnlich, dass Arbeitgeber gegen gewerkschaftlich aktive Beschäftigte vorgehen, indem sie sie beispielsweise in aller Öffentlichkeit als "kurdische Terroristen" beschimpfen oder ihre Familien bedrohen.


Heute hier - morgen dort

Der jüngste Trend in der türkischen Bekleidungsindustrie: Türkische Firmen wandern mit ihrer Produktion nach Ägypten, Tunesien, Jordanien, in den Kaukasus. Engin Sedat Kaya umreißt die Konsequenzen: "Wir als Gewerkschaften wissen, dass die Handelsunternehmen in globalen Produktionsnetzen herstellen lassen, dass aber wir als Beschäftigte nicht so mobil sind und unter den ständigen Produktionsverlagerungen und ihrer Androhung leiden. Aber wir wenden uns an die Clean Clothes Campaign in Europa und die US-amerikanische Anti-Sweatshop-Bewegung, um Unterstützung für unsere Arbeitskämpfe zu erhalten, weil wir nur durch internationale Solidarität etwas erreichen können. Wir haben erkannt, dass internationale Solidarität angesichts globaler Produktionsketten essenziell für uns ist."


Eine Bergarbeiterkrankheit in der Jeansfabrikation

Ein verantwortlicher türkischer Mediziner ist zu Anfang dieses Jahrzehnts darauf gestoßen, dass viele Patienten - junge Männer, die zur Wehrdienstuntersuchung mussten - unter Lungenkrankheiten leiden. Diese wurden lange Zeit als Tuberkulose behandelt, bis der Arzt einmal nachfragte, wie die Patienten leben und arbeiten. Es stellte sich heraus, dass viele in der Textilindustrie gearbeitet haben und Jeans sandgestrahlt haben, dass sie oft aus südosttürkischen Dörfern kamen und deshalb in der Fabrik übernachten mussten, in dem Raum, in dem sie vorher diese Tätigkeit verrichteten und in dem Kollegen neben den Schlafenden sandstrahlten. Innerhalb, kurzer Zeit haben die Betroffenen Silikosis (Staublunge) entwickelt, eine tödliche Krankheit der Lungen, für die es keine Heilung außer einer Lungentransplantation gibt. Aber auch diese hat keine hohen Erfolgsaussichten. Etwa 8.000 bis 10.000 Beschäftigte in der Türkei sind potenziell von Silikose betroffen, ca 4.000 bis 5.000 sind erkrankt - die meisten wissen nicht, dass sie Silikose haben.


Tod durch Jeans & kaum Aussicht auf Gerechtigkeit

Die Silikose ist eine Lungenerkrankung, die durch Inhalation und Ablagerung von mineralischem Staub, insbesondere quarzhaltigem Staub, verursacht wird. Es kommt zur Bildung von knotenartigen Bindegewebeneubildungen, die laut Wikipedia zu Vernarbung der Lungen, Luftnot, Husten und Verschleimung, zu chronischer Bronchitis und später zum Tod durch Erstickung führen können.

Der oben erwähnte Arzt hat ein Solidaritätskommittee organisiert, dessen Mitglieder ehrenamtlich die Betroffenen beraten und über ihre Rechte aufklären. Tanzer Güven schildert, dass sie mit ca 550 Erkrankten Kontakt aufgenommen und diese ca. 200 Anklagen erhoben haben für die Betroffenen; aber bislang wurde noch kein Prozess eröffnet. Und es ist überhaupt nicht sicher, dass die Betroffenen das Ende ihrer Prozesse erleben. Tanzer Güven rechnet mit einer Prozessdauer von vier bis fünf Jahren. Er schildert die ausweglose und traumatisierende Situation der Betroffenen: "Stellen Sie sich vor, sie kommen in ein armes Dorf in der Türkei und treffen in jedem Haushalt einen Menschen, der an der Sauerstoffflasche hängt und auf seinen Tod wartet."


Zwischenerfolg durch breite Solidarisierung

Tanzer Güven weiß, wie wichtig Öffentlichkeit ist: "Wir können nur durch eine Sensibilisierung der Öffentlichkeit etwas erreichen." Auch in europäischen Medien wurde darüber berichtet. Das Solidaritätskomitee hat eine breite Solidaritätswelle in der türkischen Gesellschaft erreicht und einen Zwischenerfolg erzielt: Das Gesundheitsministerium verbat die Verwendung von Silikaten, Quarzen und Teflon für die Verwendung in offenen Räumen - alles Stoffe, die beim Sandstrahlen zum Einsatz kommen und in vielen europäischen Ländern seit langem nicht mehr angewendet werden dürfen. Zur Staubentwicklung kommt also noch die Verwendung gefährlicher Substanzen hinzu. Doch niemand weiß, wie dieses Verbot in den zehntausenden unregistrierten Produktionsstätten in der Türkei durchgesetzt werden soll.

Zudem fordert das Solidaritätskomittee, dass alle Betroffenen im Nachhinein und mit sofortiger Wirkung als Beschäftigte registriert und damit krankenversichert werden und Rentenansprüche erwerben, dass es flächendeckende Untersuchungen aller Beschäftigten in der Textil- und Bekleidungsindustrie gibt, dass die Todkranken nicht die Prozesskosten übernehmen müssen und dass die öffentlichen Stellen ihre Verantwortung für die Gesundheit von Beschäftigten wahrnehmen. Diese Forderungen richten sich in erster Linie an türkische Regierungsstellen. Gleichzeitig rufen Gewerkschaft und Solidaritätskomitee die VerbraucherInnen auf, die Jeansfirmen unter Druck zu setzen, diese Praxis des Sandstrahlens sofort einzustellen.


Tödliche Krankheit - einfach zu verhindern

"Wir wollen nicht, dass ArbeiterInnen in Ägypten oder China auch an dieser schrecklichen Krankheit zugrunde gehen." Erste Anhaltspunkte aus Bangladesch gäbe es bereits. Das macht deutlich, dass es nur eine internationale Lösung des Problems geben kann, bei der internationale Auftraggeber und internationale Organisationen handeln müssen - und zwar sofort. Über die Internationale TextilarbeiterInnen-Föderation will die türkische Gewerkschaft das Thema vor die ILO, die Internationale Arbeitsorganisation, bringen. Ein weltweites Verbot des Verkaufs und der Herstellung von sandgestrahlten Jeans wird gefordert.


Zur Autorin:
Bettina Musiolek ist Studienleiterin für Arbeitswelt & Wirtschaft in der Evangelischen Akademie in Meißen.


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Quelle:
Frauensolidarität Nr. 109, 3/2009, S. 28-29
Herausgeberin:
Frauensolidarität - Entwicklungspolitische Initiative für Frauen,
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Telefon: 0043-(0)1/317 40 20-0
Telefax: 0043-(0)1/317 40 20-406
E-Mail: redaktion@frauensolidaritaet.org,
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veröffentlicht im Schattenblick zum 4. November 2009