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ARBEIT/479: Arbeit essen Leben auf (NG/FH)


Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 3/2012

Arbeit essen Leben auf

Von Gerhard Wegner


Immer mehr frisst die Arbeit das Leben auf. Chef und Stechuhr sind durch eine Dauerverfügbarkeit ersetzt, die wir teils selbst befördern. Und schönreden. Höchste Zeit für eine neue Kultur der Autonomie.


Die Chefs kommandieren nicht mehr herum, man kann sie sogar kritisieren. Die Hierarchien sind flacher. Niemand wird mehr zusammengestaucht. Selbst Anwesenheit im Büro ist nicht mehr nötig, man kann arbeiten wo man will. Es werden nun - auf Augenhöhe! - Ziele vereinbart und selbstverantwortlich von allen Beteiligten in Projektstrukturen abgearbeitet. Jeder und Jede kann jederzeit Vorschläge machen, was besser werden kann. Die Verantwortung ist höher - und die Arbeit macht so mehr Sinn als jemals zuvor. Sie kann sogar Spaß machen. Iede eine Künstlerin, die sich kreativ entfalten kann. Vereinbarkeit von Arbeit und Leben? Kein Problem! Die Arbeit ist mitten im Leben angekommen und das Leben in der Arbeit. So wollten wir das.

Nur frisst die Arbeit jetzt das Leben auf. Statt mehr Freiheit ist nun Dauerverfügbarkeit angesagt. Statt mehr Eigeninitiative ist jeder und jede nun direkt den Wünschen der Kunden ausgesetzt und muss auf deren Zuruf hin funktionieren. Und in der Erreichung der Ziele erleben wir uns allein gelassen. Wenn wir es nicht schaffen: Pech gehabt. Jeder hat da seine Chance gehabt. So wollten wir das nicht. Aber das haben wir nun davon.

Unsere Träume waren anders: Endlich ein Ende der Fremdbestimmung, der Entfremdung! Die Befreiung der Arbeit - die Emanzipation der Arbeitnehmer. Der aufrechte Gang in der Firma wird nicht nur möglich, sondern nötig, da nur selbstbewusste Arbeitnehmer gute Arbeit leisten können. Und das galt eigentlich für alle Kolleginnen und Kollegen: Das Fließband, das Symbol enteigneter Arbeitskraft, entfiel zugunsten von selbstregulierter Gruppenarbeit. Und sie war produktiver! Es brauchte nun Moderatoren statt Vorgesetzte. In der Konsequenz wurde gar bisweilen über die Abschaffung der Chefs überhaupt geredet. Wo jeder und jede sein und ihr eigener Boss ist, braucht es sie nicht mehr. Die Organisation sollte fördern und unterstützen, damit wir uns entfalten und gute Arbeit leisten könnten. War das alles nur Illusion?


Angst bleibt das leitende Prinzip

Der Kapitalismus ist klug, äußerst anpassungsfähig und stets auf seinen Vorteil bedacht. Man kann ihm keine fünf Meter über den Weg trauen. "Gut", sagten sich also seine Manager, "wenn die Arbeitnehmer sich nicht mehr rumkommandieren lassen wollen, dann schaffen wir die Kommandostrukturen eben ab. Das könnt ihr haben! Gerne sogar!" Ist ja auch für die Chefs angenehmer: Sie überwachen nur noch die Zielerreichung statt die konkreten Arbeitsvollzüge. Das kann man dann gut auch als Vertrauen verkaufen. Und in der Tat: Die Arbeit wird dann möglicherweise zivilisierter. Rumbrüllen gilt als out. Stattdessen aber werden nun die Kolleginnen und Kollegen direkt den Zwängen der Märkte ausgesetzt. Das ist der Trick! Die Fürsorgepflicht des Chefs entfällt, denn nun muss jeder und jede selbst zusehen, wie sie zurechtkommt. Die Organisation schützt nicht mehr vor der Außenwelt. Das spart Kosten! Gab es früher eine klare Trennung zwischen Produktion, Verwaltung und Verkauf, so werden nun potenziell jeder und jede im Unternehmen zu Verkäufern: Verkäufern ihrer selbst. Nun muss man sich dann ständig von seiner besten Seite zeigen und stets freundlich sein. Und siehe da: Die Produktivität steigt! Denn den Leuten gefällt die Arbeit so besser. Eine Win-Win-Situation für beide Seiten: Arbeit und Kapital. "Das habt ihr nun davon! Ihr wolltet es doch so!"

Nein, nicht wirklich. Was heute Freiheit heißt, ist häufig nichts anderes als verinnerlichter Zwang. Es ist die Freiheit, sich jeden Fehler und jedes Versagen selbst zurechnen zu müssen. Sinnlos, auf das Unternehmen oder den Chef zu schimpfen. Sinnlos, sich überhaupt über irgendetwas zu ärgern: Dadurch schadet man nur sich selbst. Man ist immer selbst und allein schuld, und damit muss man selbst und allein zurechtkommen. Die Angst bleibt das leitende Prinzip: einst die Angst vor dem Chef - heute die Angst vor uns selbst. Die Freiheit, die wir mal meinten, sollte anders aussehen. Nur fällt es immer schwerer, beide Freiheiten zu unterscheiden. Und darin liegt wohl das größte Problem heute. Es tut gut, so blöd es klingt, "gebraucht" zu werden und viel zu tun zu haben. Es schmeichelt uns, mal wieder zu meinen, wir müssten die Welt retten mit unserem Projekt. Wer prahlt nicht gerne mit der Zahl der Mails, die sich nach einem Tag der Nichterreichbarkeit (wenn es das überhaupt noch gibt) auf dem Rechner finden? Viel Stress - viel Bedeutung. Angeberei wird zum Markenzeichen des Erfolgs. Überfordert sind wir nun alle irgendwie - aber eigentlich ganz gerne. Und wenn sie gar gerade eine Therapie wegen akutem Burn-out gemacht hat, dann schreibt sie ein Buch darüber. Hauptsache, man verwertet sich selbst bei jeder Gelegenheit. Entgrenzung der Arbeit - die Einheit von Arbeit und Leben wird zum Fatum. Man kann immer noch mehr schaffen, wenn man nur will. No Limits.

Wie finde ich heraus, was ich selbst wirklich will? Das ist die Frage, die sich für Viele stellt und die oft so schwer zu beantworten ist. Wie lerne ich wahrzunehmen, was mir gut tut und was mir schadet? Wie kann ich meine Lust und meinen Eifer selbst begrenzen, um nicht Opfer von Selbstausbeutung zu werden? Wer hilft mir, mich besser um mich selbst zu sorgen? Eines ist klar: die Sorge meines Chefs ist das nicht. Ich muss mich schon selbst darum kümmern - darum auch noch. Vielleicht ja mit Anderen zusammen. Da waren doch mal die Gewerkschaften, die sich für die Arbeitnehmer einsetzten. Könnten die nicht Angebote für Life-Coaches machen? Dann würde ich da eintreten. Es braucht Befähigung im Umgang mit der Freiheit, damit sie nicht wie eine Welle über uns zusammenschlägt. Und es braucht (rechtlich gesicherte) Kulturen der respektierten Selbstbestimmung in den Unternehmen, wo jeder und jede ohne Verlust an Geltung auch stets Nein sagen kann.

Denn eines ist klar: Ein Zurück zur alten Stechuhr und zum patri- oder matriarchalischen Chef wird es nicht geben. Auch wenn manche nach wie vor davon träumen. Und das ist auch gut so. Das wäre denn doch ein Zurückweichen vor den Zumutungen der Freiheit, ein Zurück in die Unmündigkeit. Die Ambivalenzen werden sich nie völlig auflösen lassen. Aber es kann bessere und gesündere Balancen geben. Was es braucht, ist ein weiterer Emanzipationsschub: das Einüben einer Kultur der Autonomie der Arbeitnehmer auf der Arbeit. In ihr muss die Individualität eines und einer jeden volle Anerkennung finden. Aber deutlich ist auch: Fortschritte lassen sich nur gemeinsam durchsetzen.

(Weitere Beiträge zur Fortschrittsdebatte: www.fortschrittsforum.de)


Gerhard Wegner (* 1953) ist Professor für Praktische Theologie an der Universität Marburg und Leiter des Sozialwissenschaftlichen Instituts der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD).
gerhard.wegner@si-ekd.de


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Quelle:
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 3/2012, S. 48-50
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veröffentlicht im Schattenblick zum 14. März 2012