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ARMUT/133: Wie mißt man Armut? (NG/FH)


Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 9/2009

Wie misst man Armut?

Von Florian Meyer


In Deutschland geht die Schere zwischen arm und reich seit einigen Jahren immer weiter auseinander. Weltweit hat die ungleiche Einkommensverteilung in den vergangenen Jahrzehnten dagegen leicht abgenommen. Doch wer bestimmt eigentlich, ob ein Mensch arm ist?


Rubina Ali und Azhar Ismail schafften, was keiner für möglich gehalten hatte - und das, obwohl beide erst neun und zehn Jahre alt sind. Den beiden indischen Kindern gelang es, dem indischen Slum zu entkommen, zumindest im Film. Im wirklichen Leben wohnten die beiden Hauptdarsteller des Oscar-prämierten Films Slumdog Millionaire auch nach ihrer Hollywood-Ehrung noch einige Monate in Garib Nagar, Bandra East in Mumbai, einem der größten Slums der Welt - einem sogenannten Armenhaus ohne fließend Wasser oder verlässlichen Stromanschluss. Verglichen mit deutschen Standards sind die Slum-Bewohner arm - doch ob das auch von den westlichen Staaten oder der Weltbank so gesehen wird, hängt stark von der Definition ab.

Volkswirte und Armutsforscher versuchen seit Jahrzehnten exakt zu definieren, was Armut und Reichtum bedeuten. Doch bisher konnte sich kein einheitliches Konzept durchsetzen. Empiriker rechnen deshalb mit einer Reihe statistischer Methoden. Und diese Kriterien bestimmten, ab wann ein Mensch als arm gilt.

"Alle Armutsgrenzen sind irgendwie willkürlich", sagt Ekkehart Schlicht, Lehrstuhlinhaber für Theorie und Politik der Einkommensverteilung an der Ludwig-Maximilians-Universität in München. Als mittlerweile gefestigtes Kriterium für Armut gilt die Grenze von 60% des Einkommens eines Landes. EU-weit gilt sie als sogenannte Armutsrisikogrenze. Doch auch hier streiten Armutsforscher, ob 60% des Durchschnitts- oder Medianeinkommens zur Grundlage der Berechnungen gemacht werden sollen. Der Median beschreibt den Wert, der die Einkommen der Bevölkerung genau in zwei Hälften teilt.

"Wenn das mittlere Einkommen um etwa 40% unterschritten wird, ist Teilhabe nicht mehr möglich", sagt die freiberufliche Armuts- und Reichtumsforscherin Irene Becker über die EU-weite Armutsrisikogrenze. Mit einem derart niedrigen Einkommen sei es nicht möglich, materiell, kulturell oder sozial am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen, argumentiert Becker.


Armutsberechnungen geben keine sicheren Zahlen

Eine Schwäche der Berechnung der Armutsquote mittels eines starren Prozentsatzes des Durchschnittseinkommens ist, dass die Zahl der Armen allein von der Höhe der Grenze abhängt. Experten fordern deshalb, dass Armutsmessungen mit weiteren Fragen verknüpft werden, um zu erforschen, was es überhaupt bedeutet, arm zu sein. Ein weiterer Kritikpunkt ist, dass Messungen mittels einer festen Armutsgrenze keine Aussagen treffen über das Ausmaß der Armut. Die entscheidende Frage nach der Dynamik der Einkommen, also wie viele Menschen sich aus der Armut befreien konnten, beziehungsweise wie viele unter die Armutsgrenze gerutscht sind, wird nicht beantwortet. Um diese Fragen zu beantworten, müssen Armutsforscher weitaus aufwendigere Untersuchungen anstellen. "Entscheidend ist deshalb die Frage, wie sich die Kennzahlen über einen Zeitraum entwickeln", sagt der Münchner Ökonom Schlicht.

Armut ist demnach nicht nur mit mangelndem Einkommen assoziiert, sondern hat auch negative Auswirkungen auf Gesundheit, Ernährung, Bildung und soziale Kontakte. Um Armutsquoten leichter berechnen zu können, ziehen Forscher oft das Einkommen oder das Vermögen einer Person heran: Die anderen Merkmale seien viel schwerer zu messen und noch schwerer zu vergleichen, sollten in den Armutsberichten jedoch berücksichtigt werden, sagt Armutsforscherin Becker.

Auf nationalem Niveau funktionieren Armutsmessungen über Haushaltsbefragungen oder statistische Datensätze. "Je weiter man eine Gesellschaft fasst, desto schwieriger ist die Berechnung der Armutsquote", sagt Irene Becker. Um Armut und Reichtum international vergleichen zu können, müssen die Preise der jeweiligen Länder aneinander angepasst werden. Die Frage lautet: Was kann man mit umgerechnet einem Dollar kaufen? Längere Zeitabschnitte können erst verglichen werden, wenn auch die Teuerungsraten berücksichtigt sind.

Um Aussagen über die weltweite Armutsentwicklung treffen zu können, unterscheiden Forscher grundsätzlich zwischen zwei Armutsmaßen: einem absoluten und somit physischen Existenzminimum sowie einer relativen Messgröße, die das soziokulturelle Existenzminimum abbildet. Die absolute Armutsgrenze bedeutet eine unmittelbare, körperliche Bedrohung. Arm sein heißt in diesem Fall, nicht ausreichend Nahrung oder Kleidung kaufen zu können. Eine absolute Armutsgrenze kann in Kalorien oder in Zahlungsmitteln angegeben werden. Als gängige Grenze rechnet die Weltbank heute mit 1,25 Dollar pro Tag. Wer mit weniger auskommen muss, gilt als absolut arm.

Relative Armutsmaße orientieren sich am durchschnittlichen Einkommen einer Gesellschaft. Weltweit ist es sehr schwer, verlässliche Vergleichszahlen zu finden. Forscher stützen sich deshalb auf Berechnungen zur Einkommensungleichheit, der Lücke zwischen den Reichen und Armen, wie es der Weltbank-Ökonom Branko Milanovic in seinem Buch Worlds Apart - Measuring international and global inequality beschreibt. "Weltweit nimmt die Ungleichheit ab. Das hängt vor allem damit zusammen, dass China und Indien wachsen", sagt der Münchner Volkswirt Ekkehart Schlicht. "In Europa driften die Einkommen dagegen auseinander."


Deutschland - die Armen werden immer ärmer

In keinem anderen westlichen Land der Welt ist der Spalt zwischen Arm und Reich in den vergangenen Jahren größer geworden als in Deutschland. Das belegen eine Reihe von Studien, unter anderem von der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD). Auch die Schere bei den Einkommen ging in Deutschland weiter auseinander - vom Jahr 2000 bis 2005 schneller als in den anderen 29 OECD-Ländern. Im Vereinigten Königreich, in Mexiko oder in Australien ist die Armutsquote dagegen nach der Jahrtausendwende leicht gesunken.

In Deutschland würden immer mehr Menschen ihrer Zukunftschancen beraubt, schreibt der Jurist und Politikwissenschaftler Albrecht von Lucke in seinem Buch Die gefährdete Republik. 2005 lebten 11% der Deutschen unter der Armutsgrenze, das heißt mit weniger als 60% des mittleren Einkommens. "Die Krise wird das Problem noch verstärken", schätzt der Kölner Armutsforscher Christoph Butterwegge, "denn die Arbeitslosenzahlen steigen". Arbeitslose haben ein besonders hohes Armutsrisiko. Bei einem Runden Tisch im März 2009 zu den Auswirkungen der Finanzkrise auf gefährdete Gesellschaftsgruppen äußerte die OECD zudem die Sorge, dass auch die Armutsquote unter den Beschäftigten steigen könne, wenn die Löhne weiter sinken.

Vor allem Kinder sind von der Entwicklung betroffen. Während laut der OECD-Studie "Mehr Ungleichheit trotz Wachstum?" ältere Menschen in den vergangenen 20 Jahren ihr Einkommen am stärksten steigern konnten, nahm die Zahl der armen Kinder in den OECD-Ländern rasant zu. Die Armutsquote von Kindern liegt mittlerweile über dem Durchschnitt der Gesamtbevölkerung. In Deutschland stieg die Armutsquote unter Kindern besonders stark: Seit 1985 von 11 auf 16% - fünf Mal so schnell wie im OECD-Durchschnitt.

Kritisiert wird die Vielzahl der statistischen Armutsmessungen. "Vom Zählen wird keiner satt", sagt Christoph Butterwegge. Im Juni hat er das Buch Armut in einem reichen Land - Wie das Problem verharmlost und verdrängt wird veröffentlicht. Viel wichtiger als die genauen Zahlen sei es, die Ursachen für Armut zu finden, lesen wir dort. Die statistischen Erhebungen können dabei eine ungefähre Dimension liefern.


Florian Meyer (* 1982) hat Politikwissenschaft und Volkswirtschaft in Erlangen und Mexiko-Stadt studiert. Seit Oktober 2008 besucht er die Deutsche Journalistenschule und studiert an der LMU in München Kommunikationswissenschaften. Neben dem Studium arbeitet er als freier Journalist.
derflorianmeyer@googlemail.com


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Quelle:
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 9/2009, S. 37-39
Herausgegeben für die Friedrich-Ebert-Stiftung von Anke Fuchs,
Siegmar Gabriel, Klaus Harpprecht, Jürgen Kocka und Thomas Meyer
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veröffentlicht im Schattenblick zum 8. Oktober 2009