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ARMUT/134: Umgang mit vertikaler Ungleichheit (NG/FH)


Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 9/2009

Umgang mit vertikaler Ungleichheit
Herausforderung für Wissenschaft und Politik

Von Uta Meier-Gräwe


In der letzten OECD-Studie Growing Unequal wird aufgezeigt, dass Armut und Einkommensungleichheit insgesamt seit dem Jahr 2000 in der Bundesrepublik Deutschland stärker angestiegen sind als in allen anderen Mitgliedsländern der OECD. Alleinerziehende und Kinder sind davon besonders betroffen.


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Anders als in Frankreich oder Großbritannien, wo es in den Sozialwissenschaften schon in der Nachkriegszeit eine ausgeprägte Sensibilität für Klassenunterschiede und Erscheinungsformen von sozialer Distinktion gab, hatten führende Soziologen in Deutschland bereits damals ein ziemlich gebrochenes Verhältnis zum Problem von gesellschaftlicher Ungleichheit. So glaubte Helmut Schelsky schon 1953, dass der Abschied vom Klassen- und Schichtbegriff aufgrund der Wohlstandspartizipation verschiedener sozialer Gruppen überfällig sei: Deutschland befinde sich - so seine These - auf dem Weg in eine "nivellierte Mittelstandsgesellschaft"; die kollektiven Repräsentationen der bundesdeutschen Sozialstruktur seien in Auflösung begriffen. Im ostdeutschen Arbeiter- und Bauernstaat wurde sogar die Schaffung einer Gesellschaft von sozial Gleichen als politisches Programm ausgegeben, was ebenfalls einer völligen Verkennung von gesellschaftlichen Realitäten gleichkam.


"Neue" Klassengesellschaft in Deutschland?

In den 80er Jahren schließlich erlangte Ulrich Beck, ein ausgewiesener Vertreter bundesdeutscher Gesellschaftsanalyse, mit seinem Individualisierungstheorem große Resonanz: Die Herauslösung der Gesellschaftsmitglieder aus herkömmlichen Klassen- und Schichtlagen, aber auch aus Familien- und Verwandtschaftszusammenhängen wurde von ihm und seinen Anhängern zum vorherrschenden Trend postmoderner Gesellschaften stilisiert; herkömmliche Klassen- und Schichtkonzepte hätten sich als untaugliche und stumpfe Diagnoseinstrumente von Gesellschaft erwiesen: Das eigene Leben werde in der "entstrukturierten Moderne" zu einem individuell zu verantwortenden Erlebnisprojekt. Diese These wurde gerade von intellektuellen Medienexperten und Angehörigen des Kulturmarktes bereitwillig und breit kommuniziert. In West (und nach 1989 auch in Ost) waren gerade diese Milieus von dem verheißungsvollen Image derart fasziniert, nunmehr - "jenseits von Stand und Klasse" - das ganze Leben selbstbestimmt und kompetent zu einer lustvollen "Bastelbiografie" zu komponieren, dass sie sich für vertikale Ungleichheitsmuster in Deutschland bald gar nicht mehr interessierten.

Unübersehbar war in der Folgezeit der Hang zur Darstellung extravaganter Lebensstile von privilegierten Gruppen und zur Beschreibung personenbezogener Bündelungen von Einstellungen und Handlungsmustern origineller und/oder kaufkräftiger Milieuvertreter im städtischen Raum. Demgegenüber blieb die Suche nach verallgemeinerbaren Strukturkategorien von Gesellschaft halbherzig oder wurde vernachlässigt. Dieser kulturalistischen Dominanz in der Theoriebildung und Lebensstilforschung wurde in den 90er Jahren durchaus widersprochen. Indem soziokulturelle Ungleichheitsdimensionen zu den entscheidenden Differenzierungskriterien von Gesellschaft erkoren werden, lieferten Sozialwissenschaftler das wissenschaftliche Alibi für einen aufkommenden Neo-Konservatismus. Zugleich würde damit einer Entsolidarisierung gegenüber den unteren Bildungs- und Einkommensgruppen Vorschub geleistet. Außerdem bestehe die Gefahr, durch die Überbetonung der für viele möglich gewordenen kulturellen "Feinsteuerungen" nicht nur die "groben" und weiterhin bestehenden großen Unterschiede zu übersehen, sondern zugleich jene Individuen noch mehr ins Abseits zu drängen, die sich an den Distinktionsspielen der "feinen Leute" und der Intellektuellen nicht beteiligen können oder wollen.

In den darauffolgenden Jahren haben soziale Polarisierungstendenzen in Deutschland weiter zugenommen, sodass sich die Frage nach angemessenen und komplexen Analyseinstrumenten unter Berücksichtigung von vertikalen Ungleichheitsdimensionen mit erheblicher Dringlichkeit stellt.


Armutsentwicklung in einem reichen Land

Angaben des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend zufolge waren 2007 in Deutschland 2,4 Millionen Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren in 1,4 Millionen Haushalten von Armut betroffen. Die Armutsrisikoquote der unter 18-jährigen Bevölkerung wird mit 17,7% ausgewiesen (BMFSFJ 2009). Der Anteil armer oder armutsgefährdeter Kinder und Jugendlicher stieg damit gegenüber den 90er Jahren stetig an. Diese Entwicklung steht im Kontext der Zunahme von Armut und Einkommensungleichheit in der Bevölkerung insgesamt, die seit dem Jahr 2000 in der Bundesrepublik Deutschland stärker angestiegen ist als in allen anderen Mitgliedsländern der OECD. Alleinerziehende und Kinder sind besonders betroffen (OECD 2008).

Lange Zeit waren die Einkommensunterschiede in Deutschland im Vergleich mit den anderen 29 OECD-Staaten eher gering, doch seit 2000 ist die Einkommensschere stark auseinandergegangen. Das liegt vor allem daran, dass die Realeinkommen der meisten Arbeiter und Angestellten stagnieren, während die vorwiegend männlichen Spitzenverdiener ihre Einkünfte überproportional steigern konnten. Außerdem belegt die Studie, dass jeder fünfte bundesdeutsche Haushalt über keinerlei Erwerbseinkommen verfügt. Nirgends sonst in den 30 untersuchten Ländern ist der Anteil der Haushalte ohne jedes Erwerbseinkommen höher. Trotz Wirtschaftswachstum und einer vorübergehenden Verbesserung auf dem Arbeitsmarkt zwischen 2006 und 2008 hat sich die Zunahme von Armut und Ungleichheit in dieser Zeit keineswegs wieder abgeschwächt. Im Gegenteil: Einer DIW-Studie zufolge besaß zuletzt über die Hälfte der Bevölkerung keinerlei Vermögen, darunter waren 10%, die ausschließlich Schulden hatten. Demgegenüber konzentriert sich bei 30% der Bevölkerung mehr als 90% des Netto-Privatvermögens, davon verfügen die 10 reichsten Prozent sogar über 60% (Schäfer 2009:2).

Charakteristisch für die Armutsentwicklung in Deutschland sind außerdem erhebliche regionale Disparitäten in der Armutsverteilung: Lebten 2008 in Ostdeutschland 27,5% der unter 15-jährigen Kinder von staatlichen Transferleistungen nach SGB II ("Hartz IV"), so waren es in Westdeutschland mit 13,8% "nur" etwa halb so viele. Hinzu kommen signifikante Unterschiede in der Armutsbetroffenheit zwischen verschiedenen Lebensformen. So lag das Haushaltsnettoäquivalenzeinkommen von Ein-Eltern-Familien im Jahr 2006 pro Kopf lediglich bei 880 Euro, wohingegen es bei verheirateten Paaren mit Kindern rund 1.400 Euro betrug (BMFSFJ 2009:47). Allerdings besteht bei Paarhaushalten mit drei und mehr Kindern ebenfalls ein hohes Armutsrisiko. Besonders betroffen von Armut sind außerdem Familien mit Zuwanderungsgeschichte.

Die Betroffenheit von Kindern durch temporäre bzw. verfestigte Einkommensarmut ist überwiegend eine Folge der Armutssituation ihrer Eltern durch fehlende Möglichkeiten zum Einkommenserwerb, fehlende oder niedrige Bildungsabschlüsse, resultiert aber auch aus unzureichenden Möglichkeiten der Kinderbetreuung. Eine wesentliche Ursache für das überdurchschnittliche Armutsrisiko von allein erziehenden Müttern und ihren Kindern liegt in ihrer überproportionalen Betroffenheit von Erwerbslosigkeit bzw. wird durch zu niedrige oder nicht realisierbare Unterhaltsansprüche verursacht. Hinzu kommt, dass flexible und ganztägige Betreuungsangebote für Kinder als eine wichtige Voraussetzung zur Aufnahme einer Erwerbstätigkeit von Alleinerziehenden nach wie vor weitestgehend fehlen.

Aber auch die vergleichsweise niedrigen Einkommen in den sogenannten frauentypischen Berufen erschweren eine eigenständige Existenzsicherung durch Erwerbsarbeit. Hinzu kommt, wie eine aktuelle OECD-Studie (2009) belegt, dass in kaum einem anderen Land der OECD die Gering- und Durchschnittsverdiener durch Steuern und Sozialabgaben so hoch belastet werden wie in Deutschland. Bezeichnend ist auch, dass die Abgabenlast von Alleinerziehenden mit geringem Einkommen hier zu Lande deutlich über dem OECD-Mittel liegt, wohingegen viele andere Mitgliedsländer gerade diesem Personenkreis umfangreiche staatliche Transfers gewähren.


Bildung und Lebenschancen

Angesichts der zunehmenden sozialen Polarisierungstendenzen zwischen Arm und Reich in Deutschland wird es immer dringlicher, sich auf geeignete Analyseinstrumente zur Ermittlung von vertikaler Ungleichheit zurückzubesinnen bzw. diese weiterzuentwickeln, sozialer Ungleichheit aber auch politisch entschieden zu begegnen - vor allem in der jungen Generation.

So ist eine konsequente frühe Förderung von sozial benachteiligten Kindern, ihre Betreuung, Erziehung und Bildung "von Anfang an" nicht nur eine wirksame Strategie zur Verbesserung der Bildungs-und Lebenschancen dieser Kinder, sondern zugleich geeignet, einer Verschärfung von sozialer Ungleichheit in Deutschland konstruktiv zu begegnen.

Bekanntlich hat die viel diskutierte PISA-Studie wiederholt belegt, dass SchülerInnen aus benachteiligten Herkunftsmilieus und unteren Einkommensschichten gerade in Deutschland signifikant niedrigere Bildungschancen haben, wohingegen beispielsweise in Dänemark der Ausbildungsabschluss des Vaters keinen nachweislichen Einfluss mehr auf die Sekundarschulleistungen seiner Kinder hat. Negative Folgen des engen Zusammenhangs von sozialer Herkunft und Bildungserfolg betreffen hier zu Lande vor allem die Kinder von einheimischen ModernisierungsverliererInnen und Migrantenkinder der dritten und vierten Generation (Baumert et al. 2001). Diese Entwicklung stellt mithin nicht nur für Kinder aus benachteiligten Milieus eine Ungerechtigkeit dar und verhindert erfolgreiche Bildungswege und Lebenschancen. Sie führt zugleich zu einer latenten Belastung für die bundesdeutsche Gesellschaft insgesamt, weil in alternden Gesellschaften eine insgesamt kleiner werdende Zahl von jungen Menschen eine größer werdende Gruppe von hilfs- und transferabhängigen Menschen mittragen muss.

In die frühe Förderung, Betreuung, Erziehung und Bildung der künftigen Erwerbsbevölkerung zu investieren, ist demnach eine essenzielle Zukunftsfrage, die gegen die zunehmende soziale Spaltung gerichtet ist, zugleich aber auch ökonomische Relevanz besitzt. Nicht nur unter dem Aspekt von Bildungsgerechtigkeit, sondern ebenso aus der Perspektive der Zukunftssicherung der bundesdeutschen Gesellschaft und ihrer Positionierung im internationalen Standortwettbewerb ist es mehr als fahrlässig, wenn zwischen 20 und 30% der nachwachsenden Generation bildungsarm bleiben, funktionale Analphabeten sind und in der Folge selbst wieder auf staatliche Transferzahlungen zurückgreifen müssen.

Die zunehmende Spaltung zwischen Arm und Reich ist kein Naturgesetz und auch keine unabänderliche Folge der Globalisierung. Sie gefährdet aber mittelfristig soziale Errungenschaften und Gerechtigkeit. Wir brauchen eine offensive Diskussion darüber, wie das Zusammenleben von unterschiedlichen sozialen Gruppen, Generationen und den beiden Geschlechtergruppen in einer wissensbasierten Dienstleistungsgesellschaft gestaltet werden soll und welches Maß an sozialer Ungleichheit wir uns eigentlich leisten können.


Uta Meier-Gräwe (* 1959) ist Professorin für Wirtschaftslehre des Privathaushalts und Familienwissenschaft an der Justus-Liebig-Universität Gießen.
uta.meier-graewe@haushalt.uni-giessen.de


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Quelle:
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 9/2009, S. 39-42
Herausgegeben für die Friedrich-Ebert-Stiftung von Anke Fuchs,
Siegmar Gabriel, Klaus Harpprecht, Jürgen Kocka und Thomas Meyer
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veröffentlicht im Schattenblick zum 16. Oktober 2009